Von Chiapas und Porto Alegre zu Erfurt

Die Wurzeln der Sozialforum-Bewegung liegen auf dem amerikanischen Kontinent. Offiziell wird das Weltsozialforum, das im Jahr 2001 erstmals im brasilianischen Porto Alegre stattfand, als Geburtsstunde genannt. Die damals von der brasilianischen Arbeiterpartei (PT) regierte Stadt hatte unter europäischen Linken eine Art Modellcharakter. Während sich in Europa auch linke Parteien scheinbar ohne Alternativen neoliberalen Sachzwängen unterordnen, ging die damalige linke Stadtregierung von Porto Alegre einen anderen Weg.Reformschritte, wie der Beteiligungshaushalt, bei dem die VertreterInnen von Stadtteilen und sozialen Organisationen über die Verteilung der kommunalen Finanzen mit entscheiden, stießen bei den Gästen aus Europa auf großes Interesse. Die Weltsozialforen wurden zur internationalen Gegenveranstaltung zum World Economic Forum in Davos: Während sich in den Bergen der Schweiz Ende Januar die Spitzen von Wirtschaft und Politik zum gemütlichen Wintertreffen versammelten, hatten im sommerlich-heißen Porto Alegre die KritikerInnen des Neoliberalismus das Wort.Doch spätestens als Lula, der Vorsitzende und Mitbegründer der PT, brasilianischer Regierungschef wurde, brachen die Fronten. So sorgte er als frisch gewählter Präsident 2003 für Aufsehen und auch für Missmut unter den internationalen GlobalisierungskritikerInnen, als er nach einer kurzen Ansprache auf dem Sozialforum in Porto Alegre nach Davos weiterflog. Er wolle den Geist von Porto Alegre zum Economic Forum bringen, versuchte er seine KritikerInnen zu beruhigen.Manche erinnerten sich dann doch lieber einer weniger bekannten Wurzel der Bewegung – dem „intergalaktischen Treffen“ im Juli 1996 in Chiapas. In den lakandonischen Regenwald im Süden Mexikos hatte der charismatische Sprecher der Zapatisten-Bewegung, Subcommandante Marcos, zum „Ersten Treffen für eine menschliche Gesellschaft und gegen den Neoliberalismus“ eingeladen. Zur Vorbereitung fanden auf den verschiedenen Kontinenten Treffen statt. Im Juni 1996 versammelten sich rund 1.200 Menschen aus ganz Europa in Berlin. Nach dem Meeting gab es im Frühjahr 1997 ein zweites interkontinentales Treffen in Madrid. So können Berlin und Madrid als Vorläufer der europäischen Sozialforum-Bewegung bezeichnet werden.Doch der Prozess war schwierig und verlief nicht ohne Brüche. Die Solidarität mit den Zapatistas ließ bald nach, und die Versuche, die Ideen der Treffen gegen den Neoliberalismus in Europa umzusetzen, erwiesen sich als mühevoll. So brachten erst die Treffen von Porto Alegre neuen Schwung in die Diskussion um ein europäisches Sozialforum. Aber es gab auch neue Konflikte, weil die politischen Akteure über die allgemeine Kritik am Neoliberalismus hinaus oft wenig verband. Während sich in Mexiko vor allem staatskritische Linke am „Ya basta“ („Es reicht“) der Zapistas begeisterten, ließen sich von den Meetings in Porto Alegre vor allem GewerkschafterInnen und VertreterInnen von Nichtregierungsorganisationen inspirieren.Dieser spannende, aber auch konfliktreiche Gründungsprozess ist für die Europäischen Sozialforen bis heute bestimmend. Bisher gab es drei Sozialforen auf europäischer Ebene. Das erste fand im November 2002 in Florenz statt. Es war bestimmt von der Mobilisierung gegen den drohenden Angriff auf den Irak und den Kampf gegen die italienische Rechtsregierung unter Berlusconi. Der hatte das Sozialforum in die Nähe von Terroristen gerückt. Als Reaktion darauf haben sich große Teile der regierungskritischen Bevölkerung von Florenz mit dem Sozialforum solidarisiert.Das Zweite Europäische Sozialforum tagte im November 2003 in Paris. Es erregte weit weniger Aufmerksamkeit. Das dritte Sozialforum fand ein Jahr später in London statt. Dort wurden die unterschiedlichen politischen Konzepte innerhalb der Sozialforum-Bewegung stärker öffentlich thematisiert. So wurde eine Veranstaltung zum Irakkrieg mit dem Londoner Bürgermeister Ken Livingston als Diskussionspartner von staatskritischen TeilnehmerInnen massiv gestört. Die Debatten darüber, wie sich der Geist von Chiapas mit den Impulsen von Porto Alegre vereinbaren lässt, werden sicher in Erfurt und beim Vierten Europäischen Sozialforum in Athen 2006 weitergehen. PETER NOWAK

Peter Nowak ist freier Journalist in Berlin