Mit dem Bus waren sie unterwegs nach Mexiko-Stadt, um dort an einer Demonstration teilzunehmen. Doch bereits in Iguala im Bundesstaat Guerrero endete ihre Reise: Die angehenden Lehrer aus Ayotzinapa gerieten dort in der Nacht vom 26. auf den 27. September 2014 in eine Konfrontation mit der Polizei. Laut Staatsanwaltschaft hielten Polizisten die jungen Männer für Mitglieder einer rivalisierenden Gang und griffen sie an. Mindestens sechs Studenten wurden getötet, 24 erlitten teils schwere Verletzungen. 43 junge Männer verschwanden spurlos. Im Interview spricht Carola Hausotter vom Netzwerk Deutsche Menschenrechtskoordination Mexiko über die Ermittlungen, die bis heute zu keinem Urteil führten, die Bemühungen des neuen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador um Aufklärung und die Zigtausend weiteren Fälle des Verschwindens von Menschen in Mexiko.

ZEIT ONLINE: Die Polizei in Iguala soll die 43 Studenten an die kriminelle Organisation Guerreros Unidos übergeben haben. Anschließend sollen sie ermordet und auf einer Müllkippe verbrannt worden sein – das zumindest präsentierte die frühere mexikanische Regierung unter Enrique Peña Nieto als "historische Wahrheit". Angehörige und Menschenrechtler äußern Zweifel an dieser Version. Warum?

Carola Hausotter: Es gibt daran nicht nur Zweifel, diese Version ist mittlerweile wissenschaftlich widerlegt. Die mexikanische Regierung hat sie als einfaches Erklärungsmuster entworfen. Man konnte jedoch nachweisen, dass eine solche Anzahl von Menschen unter den gegebenen Umständen niemals auf dieser Müllkippe hätte verbrannt werden können. Wissenschaftler aus Argentinien haben die Müllkippe untersucht und einen Untersuchungsbericht vorgelegt.  

ZEIT ONLINE: Laut der mexikanischen Staatsanwaltschaft soll der Bürgermeister von Iguala die Entführung der Studenten angeordnet haben. Er war einer von mehr als 100 Verdächtigen, die im Zuge der Ermittlungen festgenommen wurden. Wie sehr sind Politiker, Behörden und Kriminelle in Mexiko in diesen Fall involviert?

Hausotter: In Iguala sind Politiker und die lokalen, organisierten Kriminellen eng miteinander verstrickt. Im gesamten Bundesstaat Guerrero haben Verbrecher eine solche Macht, dass sie in der Lage sind, Menschen zu kaufen. Politiker gehören dazu, auch dem Bürgermeister von Iguala konnten Verbindungen zu kriminellen Banden nachgewiesen werden.

ZEIT ONLINE: Was hat die geografische Lage von Iguala bzw. Guerrero damit zu tun? Der Bundesstaat liegt auf einer hochfrequentierten Drogenschmuggelroute.

Hausotter: Die Studenten stiegen in Iguala in Busse, in denen sich Drogen befanden, die in Richtung Norden hätten transportiert werden sollen. Das konnten Juristen und Psychologen nachweisen, die die Interamerikanische Menschenrechtskommission eingesetzt hat. Die Studenten waren also zur falschen Zeit am falschen Ort.

ZEIT ONLINE: In den vergangenen Wochen sind mehrere Hauptverdächtige im Fall Ayotzinapa freigelassen worden, unter anderem der lokale Anführer der kriminellen Bande Guerreros Unidos, Gildardo López Astudillo. Gibt es jetzt überhaupt noch die Möglichkeit, das Verbrechen zu bestrafen?

Hausotter: Die Angehörigen und Menschenrechtsorganisationen, die sie begleiten, empfinden seine Freilassung als Rückschlag. Problematisch war jedoch, dass Zeugenaussagen gegen ihn unter Folter erzwungen worden waren. Leider ist das eine gängige Praxis in Mexiko und macht die Beweise angreifbar. Zudem ist es ein Rückfall in alte Zeiten, Gildardo López Astudillo aus der Haft zu entlassen. Wenn jemand freikommt, der im Fall Ayotzinapa eine tragende Rolle gespielt hat, scheinen sich wieder einmal alte Seilschaften durchzusetzen. Obwohl Andrés Manuel López Obrador als neuer Präsident auch angetreten ist, um die Justiz zu reformieren.

ZEIT ONLINE: Im Dezember 2018 trat er sein Amt an und kündigte die lückenlose Aufklärung des Verbrechens von Iguala an. Hält Andrés Manuel López Obrador bisher, was er verspricht – und unternimmt er mehr als sein Vorgänger?

Hausotter: Ja, er tut definitiv mehr als sein Vorgänger Enrique Peña Nieto. Eine seiner ersten Amtshandlungen war es, die Wahrheitskommission zum Fall Ayotzinapa einzuberufen. Sie setzt sich überwiegend aus Anwälten zusammen, sowie aus Vertreterinnen und Vertretern von Menschenrechtsorganisationen, des Staates und Familienangehörigen. Das war ein guter Start. Jetzt bräuchte die Kommission dringend Ergebnisse, kommt in den Ermittlungen aber kaum voran. Eine nach wie vor ungeklärte Frage ist die Rolle des Militärs. Soldaten waren in Iguala vor Ort und am Geschehen beteiligt. Wie, das konnte man bisher nicht feststellen, weil Politiker in höheren Ebenen schützend ihre Hände über das Militär halten.

ZEIT ONLINE: Kann die Wahrheitskommission denn überhaupt in den Ermittlungen weiterkommen oder stößt sie immer an Grenzen, wenn sie auf Korruption trifft?

Hausotter: Der neue Präsident hat sich auf die Fahne geschrieben, Korruption zu bekämpfen. Seine Glaubwürdigkeit hängt davon ab. Wenn die Regierung das Verbrechen des Verschwindenlassens wirklich bekämpfen will, dann gehört dazu, diesen für das Land symptomatischen Fall aufzuklären.

ZEIT ONLINE: In Mexiko sind mehr als 40.000 Personen offiziell als vermisst gemeldet. Wie ist es möglich, dass Menschen so massenhaft verschwinden – und die Verbrechen nicht aufgeklärt werden?

Hausotter: Die Dimension ist wirklich kaum zu fassen. Viele Leute sagen, Mexiko sei ein einziges Massengrab. Das Verschwinden trifft unterschiedliche Personen: Migranten, die auf ihrem Weg durch Mexiko entführt oder um Geld erpresst werden – und dann getötet, weil sie nichts bezahlen können. Kriminelle Banden bekämpfen sich und lassen Leute des gegnerischen Lagers verschwinden. Das Schlimmste ist: Es kann jeden treffen. Typischerweise gerät jemand in eine Polizeikontrolle und taucht dann nicht wieder auf. Was im Detail passiert ist, weiß man nicht – doch dies ist die letzte, rekonstruierbare Information. Wahrscheinlich werden diese Menschen an organisierte Verbrecher übergeben.

ZEIT ONLINE: Glauben die Angehörigen der 43 verschwundenen Studenten noch daran, dass das Verbrechen aufgeklärt werden wird?

Hausotter: Ja, auf jeden Fall. Das ist es, wofür sie kämpfen und sie werden nicht aufgeben, bis sie es erreicht haben. Natürlich ist das sehr zermürbend und die Strategien der Familien haben sich mit der Zeit gewandelt: Kurz nach dem Verschwinden der Männer haben sich mehr als 500 Angehörige an ihrem Studienort, der Pädagogischen Hochschule in Ayotzinapa, versammelt. Sie haben monatelang dort gelebt. Mittlerweile sind weniger Angehörige vor Ort, aber sie haben deshalb nicht weniger Hoffnung. "Vivos los queremos", ist immer noch ihr Leitspruch: "Wir wollen sie lebend."