Machismo in Lateinamerika

Gewalt gegen Frauen kommt kaum zur Sprache

09:25 Minuten
An einer Zugtür zeigt ein Mann seinen Bizeps.
Muskelspiele: In Lateinamerika gibt der Typus des Macho noch vielfach den Ton an. © laif/ HAYTHAM-REA/ Martin Barzilai
Von Andreas Boueke · 26.01.2020
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Männliche Dominanz und Gewalt gegen Frauen sind in Lateinamerika weit verbreitet. Jungen Freiwilligen wird dies nach einem sozialen Jahr in Deutschland besonders bewusst. Nach der Rückkehr erleben sie einen Kulturschock im eigenen Land.
"Übersteigertes Gefühl männlicher Überlegenheit und Vitalität" - so definiert der Duden den Begriff "Machismo". Dieser ist zumal in Mittel- und Südamerika oft noch fest in der Gesellschaft verankert. Auch die Religion hat daran einen Anteil.
"In vielen Ländern Lateinamerikas wird Sex tabuisiert", sagt Joel Lanuza. "Die Bibel wird so interpretiert, als würde sie vorschreiben, dass es der Mann ist, der die Entscheidungen zu treffen hat, die Frau muss sich fügen. Wenn dir diese Botschaft von klein auf gepredigt wird, dann ist es schwierig, sich ihr zu entziehen. Sie prägt deine Persönlichkeit. So trägt die christliche Religion dazu bei, dass sich die Mentalität des Machismo in Lateinamerika weiter festsetzt."
Der 30-Jährige aus Nicaragua leitet ein Rückkehrseminar für junge Lateinamerikanerinnen und Lateinamerikaner, die über das "weltwärts"-Programm des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit einen Freiwilligendienst in Deutschland geleistet haben. In einem Seminarhaus in Guatemala diskutieren die jungen Leute über Unterschiede der Geschlechterbeziehungen in den beiden Kulturkreisen.

Pfiffe, Blicke, blöde Sprüche

Die 28-jährige Wendy stammt aus Mexiko. "Für mich war es hart zurückzukommen", sagt sie. "In meiner Heimatstadt Oaxaca musste ich mich wieder darauf einstellen, dass mir jeden Tag jemand hinterher pfeift oder was Blödes sagt. Auf der Straße kommt es oft zu sexuellen Belästigungen. Seit meinem Aufenthalt in Deutschland ist mir bewusst, dass das nicht normal ist. Das war ein Kulturschock – in meinem eigenen Land Mexiko."
Eine junge Frau hat die Arme über den Kopf gehoben, auf ihnen steht geschrieben "Nein heißt nein".
"Nein heißt nein": In Santiago de Chile nahmen tausende Frauen an einem Protestmarsch teil.© imago/ Aton Chile
Als Süd-Nord-Freiwillige in Deutschland hat sich die junge Frau daran gewöhnt, mit dem Fahrrad durch die Stadt zu fahren. "Das habe ich in Mexiko dann auch gemacht", sagt Wendy. "Aber eine Frau in kurzen Hosen auf einem Fahrrad – das ist dort sehr ungewöhnlich. Einige Autofahrer haben mir etwas zugerufen. Irgendwann habe ich es nicht mehr ausgehalten. Ich habe zurückgerufen und die Männer manchmal auch beschimpft. Das war wie eine Befreiung und hat mir geholfen, das Gefühl der Hilflosigkeit zu überwinden. Aber gleichzeitig spürte ich eine neue Form der Angst, nämlich dass die Person noch aggressiver reagiert."

Frauen, die sich wehren, leben gefährlich

Diese Angst hat gute Gründe. Wendy ist sich sehr bewusst, dass eine Frau, die ihre Rechte einfordert, in Mexiko gefährlich lebt. "Es kann vorkommen, dass dich jemand greift, in ein Auto stößt, und du nie wieder auftauchst", sagt sie. "Deine Familie erfährt nichts." Während ihrer Dienstzeit in Deutschland hat Wendy eine andere Lebensweise kennen gelernt.
"Die Frauen dort haben mir neue Impulse gegeben. Ich habe gesehen, dass sie frei sind, dass sie nicht in krankhaften Abhängigkeiten stecken. Sie können entscheiden, ob sie heiraten wollen oder nicht. Wenn sie nicht heiraten wollen, werden sie weder von der Familie, noch von der Kirche, noch von Freunden unter Druck gesetzt, auch wenn sie schon 30 Jahre alt sind. Zurück in Mexiko fühle ich mich jetzt viel selbstbewusster, meine eigenen Entscheidungen zu treffen."
Während des Seminars bedauert Joel Lanuza, dass es in den lateinamerikanischen Gesellschaften nahezu nie zu Gesprächen wie diesem kommt, bei denen sich junge Menschen ernsthaft über die Beziehungen zwischen Frauen und Männern austauschen können.

Für Sex findet die Kirche keine Worte

Es wäre hilfreich, offen über Sexualität sprechen zu können, die Kommerzialisierung der Erotik zu hinterfragen, Macht und sexuelle Gewalt zu reflektieren. Solche Räume könnte die Kirche bieten – aber sie tue es nicht. Stattdessen erlebt Lanuza die in Lateinamerika so einflussreiche katholische Kirche gerade bei diesen Themen als verkrampft und sprachunfähig.
Die ehemaligen Freiwilligen des Welthaus Bielefeld bei ihrem Rückkehrseminar in Guatemala.
Nach dem freiwilligen Jahr in Deutschland wurde ihnen in der Heimat manches fremd: die "weltwärts"-Reisenden beim Rückkehr-Seminar.© Deutschlandradio/ Andreas Boueke
"Ich finde es in Ordnung, wenn zwei Personen sich einig sind und sagen: Wir haben Spaß beim Geschlechtsverkehr. Hier geht es nur um Sex", sagt Lanuza. "Aber man darf den anderen nicht belügen." Wendy pflichtet ihm bei: "Lateinamerikanische Männer sind oft so unehrlich. Sie sagen: 'Wir sind ein Paar.' Aber der Mann darf auch andere Beziehungen haben, mit denen er vor seinen Freunden angeben kann. Bei einer Frau ist das unverzeihlich."

Begehrte Männer werden bewundert - Frauen verachtet

"Lateinamerikanische Männer, die viele Frauen haben, werden bewundert", sagt Wendy, "eine Frau, die noch andere Beziehungen hat, gilt als Hure..." - "... die man umbringen muss", ergänzt Pedro, ein weiterer Rückkehrer aus der Runde.
Joel Lanuza hat die Erfahrung gemacht, dass ein Freiwilligendienst in Deutschland die jungen Leute dazu anregt, über ihre religiösen und kulturellen Prägungen nachzudenken.
"Wir müssen unser Verhalten an die Realität im Gastland anpassen. Es wäre ein großes Problem, wenn die Freiwilligen die Gewohnheiten des traditionellen Machotums in Deutschland beibehalten würden."

Das Ideal vom Alphamann

Der junge Luis aus Chiapas kennt in seiner Heimat fast keine Männer, die sich kritisch mit dem alltäglichen Machismo auseinandersetzen. "Ich bin ohne meinen Vater, nur mit meiner Mutter aufgewachsen", erzählt er, "aber ich habe oft erlebt, wie meine Onkel sich gegenüber ihren Frauen verhalten haben. Sie haben ihnen verboten, aus dem Haus zu gehen und ihre eigenen Sachen zu machen. Der Machismo wird von Generation zu Generation weitergegeben. Die Jungs sind immer unter sich. Das fängt schon in der Schule an. Wer häufig mit Mädchen zusammen ist, gilt als homosexuell."
Als "gay", also schwul bezeichnet zu werden, gilt in Mexiko als eine der schlimmsten Beschimpfungen überhaupt. "Außer du bist der Typ gutaussehender Aufreißer", sagt Luis. "Dann kannst du viele Mädchen haben, und die Leute sagen: 'Er ist der Alphamann und hat ein Mädchen an jedem Finger.'"

Erzogen zum Macho im Namen des Herrn?

So ein Mann mit vielen Frauen war der Vater von Wendy. "Als ich geboren wurde, war er schon weg", erzählt sie. "Ich weiß nicht, wann meine Mutter erfahren hat, dass seine erste Frau fast zur gleichen Zeit ein Kind von ihm bekommen hat. Mein Halbbruder ist am 4. Juli zur Welt gekommen und ich am 31. Juli. Außerdem hat mein Vater in diesem Jahr noch eine Tochter bekommen. Sie wurde im April geboren."
Viele mexikanische Frauen ziehen eine unglückliche Ehe einer Scheidung vor. Sie sehen ihre Bestimmung in der Rolle der aufopferungsvollen Mutter. Dabei orientieren sie sich an zwei Frauenbildern der Bibel. "Eva gilt als die Versuchung und Sünde", sagt Wendy. "Sie steht für das Schlechte in dieser Welt. Maria hingegen ist die Leidensfähige, die weinende Begleiterin des Kreuzwegs. Eva und Maria sind die beiden wichtigsten Vorbilder für Frauen in Mexiko."
Wendy meint, die christliche Mission sei mitverantwortlich für die Unterdrückung der mexikanischen Frau. "Vor der Kolonisierung durch die Spanier glaubten die Menschen an viele Götter, aber auch an Göttinnen", erklärt sie. "Noch heute gilt uns die Natur als heilige Mutter Erde. Doch die Kolonialherren haben uns eine Religion aufgezwungen, die nur einen einzigen, männlichen Gott anbetet."

"Frauen gelten als Besitz"

Luis sieht das ähnlich. Er meint, der alltägliche Sexismus sei in Mexiko viel ausgeprägter als in Deutschland. Seine Kindheit hat er eigentlich ohne Vater verbracht. "Nur manchmal ist er plötzlich bei uns zu Hause aufgetaucht", erinnert sich Luis. "Er hat meiner Mutter verboten, eine Beziehung zu einem anderen Mann einzugehen und ihr gedroht, sie aus dem Haus zu werfen. Er hat sogar gesagt: 'Ich kann Dich töten.'"
Solche Drohungen werden nur zu oft in die Tat umgesetzt. Mexikos nationales Institut für Statistik identifiziert Mord als die zweithäufigste Todesursache von Frauen. Gewalttätige Partner sollen für täglich sieben Frauenmorde verantwortlich sein. Zum Vergleich: In Deutschland wird jeden dritten Tag eine Frau von ihrem Partner ermordet. Solche Gewalt wird häufig durch Eifersucht ausgelöst, erklärt Wendy. Sie ist empört.
"Die Männer in Mexiko und wohl auch in ganz Lateinamerika sehen uns Frauen nicht als Personen, sondern als Objekte, die sie besitzen. Wenn diese 'Objekte' ihre Stimme erheben, wenn sie eine Meinung vertreten wollen, dann glaubt der Mann, er würde seine Kontrolle verlieren. So entsteht Gewalt. Einige Männer meinen, sie könnten sogar töten, wenn sie wollen."
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