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Anabel Hernandez bei der Deutschen Welle 2019 in Bonn.

© imago images / Sven Simon

Journalistin vom Drogen-Kartell vertrieben: Zwischen Pflicht und Angst – ein Bericht aus dem Exil

Die mexikanische Investigativ-Journalistin Anabel Hernandez wurde ins Exil gezwungen. Sie weigerte sich, zu schweigen – und recherchierte zu den 43 verschwundenen Studenten.

Anabel Hernández ist eine mexikanische Investigativ-Journalistin, die seit 2014 in den USA und in Europa im Exil leben muss. Der Text basiert auf ihrer "Rede zum Exil" der Körber-Stiftung.

Vor zehn Jahren hätte ich niemals gedacht, dass man mich zum Exil verurteilen würde, weil ich investigativen Journalismus betreibe und die in meine Seele eingebrannte Pflicht erfülle. An einem Tag im Juli 2014 zwang mich ein kriminelles Netzwerk aus Beamten der mexikanischen Regierung in geheimer Absprache mit dem Kartell von Sinaloa, das als mächtigste Drogenhandels-Organisation weltweit gilt, meine Heimat, meine Familie, meine Freunde und Landsleute zu verlassen.

Man ließ mir keine andere Wahl, um mein Leben, das meiner Familie und meinen Journalismus zu retten. Seitdem bahne ich mir einen Weg, um nicht nur in mein Heimatland, sondern an einen besseren Ort zurückzukehren.

Wie lernt man, an einem Ort zu leben, wenn das Herz woanders ist? Wie hält man dem Blick einer über 80-jährigen Mutter stand, die leidet, weil ihre Tochter nicht da ist, und die ebenso leidet, wenn sie da ist? Wie hält man starke Wurzeln zur Heimat aufrecht, wenn diejenigen, die einen verbannen wollen, diese Wurzeln radikal zu durchtrennen versuchen?

Wie bewahrt man sich davor, trotz Freiheit Gefangener zu werden? Wie lernt man, willentlich den schmerzlichen Weg zurück nach Hause anzutreten – in dem Bewusstsein, dass es die letzte Reise sein kann?

In Mexiko mischen sich Mafia und Staat

Die Antwort auf diese Fragen suche ich seit dem Jahr 2010, als ich informiert wurde, dass eine Gruppe mächtiger, korrupter Polizisten in Mexiko meine Ermordung plante, angeführt vom Bundesminister für innere Sicherheit Genaro García Luna. Man wollte mich ermorden, weil ich recherchiert, aufgedeckt, dokumentiert und öffentlich gemacht hatte, wie diese Gruppe, anstatt Recht und Gerechtigkeit zu respektieren, das Kartell von Sinaloa schützt und ein wichtiger ausführender Arm des Kartells ist.

In einem modellhaften Drogenstaat, wie er in Mexiko existiert und in dem der Unterschied zwischen Drogenkartellen und Ordnungskräften verschwimmt, weil sie sich jeden Tag stärker ähneln und zusammenwachsen, ist es tödlich, die Verbindungen zwischen Behörden und Narcos zu enthüllen – erst recht wenn die zentralen Figuren meiner journalistischen Recherchen der Präsident Mexikos Felipe Calderón selbst und sein Bundesminister für innere Sicherheit Genaro García Luna waren, zusammen mit einem breiten kriminellen Netzwerk öffentlicher Bediensteter, die sich mehrere Jahrzehnte lang in den wichtigsten Institutionen der inneren Sicherheit und Justiz eingenistet hatten, sowie Politiker und Unternehmer, die ich mit meiner Arbeit langsam, Namen für Namen demaskiert habe.

Drogenbosse - hier Joaquin Guzman Loera alias El Chapo bei einer Festnahme 2014 - regieren meist ungestört.
Drogenbosse - hier Joaquin Guzman Loera alias El Chapo bei einer Festnahme 2014 - regieren meist ungestört.

© dpa

Den Inhalt meiner journalistischen Recherche habe ich 2010 in dem Buch „Los Señores del Narco“ (Englisch: Narcoland. The Mexican drug lords and their godfathers) herausgebracht. Trotz des Mordkomplotts gegen mich, trotz der Anschläge auf meine Familie und der Verfolgung meiner Informanten habe ich weiter zu dieser kriminellen Gruppe recherchiert und veröffentlicht.

Um jeden Preis versuchte ich, in Mexiko zu bleiben. 2014 wurde ich doch ins Exil gezwungen, als elf Bewaffnete gewaltsam in mein Haus eindrangen, nachdem sie einen meiner Leibwächter und meine Nachbarn entführt und auch Kinder minutenlang mit Waffen bedroht hatten. In diesem Moment hatte ich begriffen, dass meine Anwesenheit in Mexiko zu einer Gefahr für andere geworden war und man mich zwang fortzugehen.

Für Journalisten weltweit waren die Gefahren nie größer

Aber mein Fall ist nur ein Beispiel für die Situation, in der hunderte Journalisten leben, die überall auf der Welt bedroht, verfolgt, eingesperrt oder ermordet werden, im Kontext weit zunehmender Gewalt gegen Meinungs- und Informationsfreiheit sowie investigativen Journalismus.

Als Journalisten erleiden wir heute die gewaltsamste Zeit der Geschichte. Warum? Warum bringt man uns um? Warum bedroht man uns? Warum sperrt man uns ein? Warum will man uns zum Schweigen bringen?

Nach einem Bericht, den die UNESCO im November 2020 unter dem Titel „Schützt die Journalisten. Schützt die Wahrheit“ veröffentlicht hat, wurden von 2006 bis 2019 weltweit 1.166 Journalisten ermordet. Das ist nicht nur eine Zahl, es ist ein Indikator für den Zustand der Demokratie weltweit. 2019 wurden 61 Prozent der Morde an Reportern in Ländern begangen, die nicht in bewaffnete Konflikte verwickelt sind, sondern angeblich im Frieden leben.

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Dem Bericht zufolge wurde auf der Welt in den letzten zehn Jahren durchschnittlich alle vier Tage ein Journalist ermordet. Die Angriffe konzentrierten sich auf diejenigen, die über Korruption, Menschenrechtsverletzungen, Menschenhandel, Umweltdelikte und politische Straftaten berichten.

Von den 57 Journalisten, die 2019 auf dem gesamten Planeten ermordet wurden, betrafen 40 Prozent der Fälle Lateinamerika, 26 Prozent die Region Asien-Pazifik und 18 Prozent die arabischen Staaten. Weltweit gesehen ist Mexiko für die Ausübung journalistischer Tätigkeit das gefährlichste Land. Zwölf Kollegen wurden 2019 ermordet – doppelt so viel wie in Syrien und sieben mehr als in Afghanistan und Pakistan.

Auch die politische Wende 2018 änderte in Mexiko nichts

2018 kam es in meiner Heimat zu einer politischen Wende, bei der erstmals eine Linksregierung an die Macht kam, geführt von Präsident Andrés Manuel López Obrador. Aber auch dieser politische Wandel änderte nichts am düsteren Rhythmus der Morde an Reportern.

2020 hat Mexiko seinen berüchtigten Rekord dann gebrochen. Noch ist das Jahr nicht zu Ende und bereits jetzt wurden zwölf Kollegen ermordet. Zwei von ihnen hatte man brutal gefoltert und enthauptet, bevor ihre Körper zur Abschreckung anderer an öffentlichen Orten zurückgelassen wurden. Drei der Tötungen fanden allein in den letzten zehn Tagen statt. Ihre Namen ergänzen eine lange Liste mit über 165 Journalisten, die Berichten der Nationalen Menschenrechtskommission zufolge in den letzten 20 Jahren in Mexiko massakriert worden sind.

Diese Ereignisse spielen sich in einer Situation ab, die geprägt ist von enger Komplizenschaft zwischen Teilen der kommunalen, föderalen und staatlichen Verwaltung mit dem organisierten Verbrechen. Die Regierung kontrolliert die herkömmlichen Massenmedien mithilfe von Werbung seitens der Regierung. Die Korruption zieht sich durch alle Sphären des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens im Land.

Die kriminellen Organisationen liegen miteinander im Krieg um die territoriale Vorherrschaft, um Drogen zu produzieren, zu schmuggeln und zu verbreiten, um Mineralölprodukte zu stehlen, um mit Menschen zu handeln, zu erpressen und entführen. Das so herrschende Chaos stärkte das Kartell von Sinaloa – eine kriminelle Organisation, die seit mehr als 50 Jahren besteht und in den letzten zwei Jahrzehnten dank der Korruption innerhalb und außerhalb Mexikos weltweit zu einem der Hauptlieferanten illegaler Drogen geworden ist. Es ist heute auf mehr als 60 Prozent der Erde präsent.

Mexiko ist ein Extremfall, aber dennoch ein Beispiel dafür, was in anderen Ländern geschieht.

Die Korruption verschärft weltweit die soziale Ungerechtigkeit

In den letzten zehn Jahren konnte ich Erfahrungen mit Journalisten aus allen Kontinenten und Ländern mit verschiedenen politischen Systemen, Religionen und kulturellen Prägungen austauschen. Trotz der Unterschiede gibt es dabei stets eine immer weitreichendere Konstante: stärkere Konzentration der Macht, stärkere Verknüpfung der legalen mit der illegalen Welt, stärkere Intoleranz gegenüber Kritik, stärkere Intransparenz und Straflosigkeit sowie ein stärkeres Interesse daran, dass die Bürger keine wahrheitsgemäßen und zeitnahen Informationen erhalten, die ja Schlüsselelemente sind, um Entscheidungen zu treffen und Freiheiten ausüben zu können.

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Heute wird das Schicksal vieler Nationen wie Mexiko nicht mehr täglich von ihren Bürgern in echten demokratischen Prozessen bestimmt, sondern von Gruppierungen, die mit jedem Tag mehr politische, wirtschaftliche, technologische und gesellschaftliche Macht anhäufen. Diese finanzieren politische Kampagnen von Präsidenten und Gouverneuren, Kongressabgeordneten und Richtern oder schleusen ihre Gefolgsleute direkt in diese Bereiche ein.

Für sie gibt es weder Grenzen noch Mauern, nur Privilegien und Straflosigkeit. Sie operieren legal oder illegal und ihre wirtschaftliche oder bewaffnete Macht übersteigt oftmals die des Staates. Ihre Interessen erzeugen Gewalt, politische und wirtschaftliche Destabilisierung, Korruption, Krankheiten, Umweltverschmutzung, schwere Menschenrechtsverletzungen, Flucht, sexuelle Ausbeutung, Ausbeutung durch Arbeit und Sklaverei – kurz gesagt: soziale Ungerechtigkeit in all ihren Formen.

Die Opfer sind vor allem Ungebildete, Kinder und Frauen

Ihre Opfer sind wir alle, aber vor allem die arme und ungebildete Bevölkerung, insbesondere Kinder, Jugendliche und Frauen.

Mit ihrer De-facto-Macht können diese Gruppierungen nur im Verborgenen und Geheimen ihre missbräuchlichen und kriminellen Unternehmungen durchführen. Für die Gesellschaft müssen sie unsichtbar und unerkannt bleiben, davon hängt ihre Existenz und die Verwirklichung ihrer Ziele ab. Sie benötigen die Kontrolle über die Massenmedien, um uns ihren wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Diskurs aufzuzwingen. Wenn niemand sie infrage stellt, nimmt ihre Vorherrschaft zu.

Der überwiegenden Mehrheit der Bürger auf der Welt fehlen die Mittel, um die Funktionsweise dieser Gruppierungen zu verstehen. Weder kennen sie ihre Mechanismen, noch wissen sie, wie man sie zerschlagen kann. Ohne Informationen gibt es kein Verstehen. Es wird unmöglich, Alternativen zu entwickeln und etwas zu ändern. Ohne Informationen ist die Gesellschaft den Interessen ausgeliefert, die das Gemeinwesen zersplittern, um es zu schwächen. Ohne Informationen gibt es keine Freiheit und ohne Freiheit keine Demokratie, sondern nur eine Simulation davon.

Bei einem genauen Blick auf die Diagnose der UNESCO sticht klar das Profil der Regionen hervor, in denen die meisten Journalisten umgebracht werden. Über die wirtschaftliche Situation der jeweiligen Region hinaus ist durchgängig ein Muster fehlender Gerechtigkeit, Gleichheit und Transparenz zu erkennen. Und genau dieses Muster hängt auch mit der Gewalt gegen Journalisten zusammen.

Wiederum der UNESCO zufolge bleiben neun von zehn Morden an Reportern auf der Welt ungestraft – der gleiche Durchschnitt wie in Mexiko.

Unabhängiger Journalismus ist oft das einzige Gegengewicht

In meinem Heimatland wie auch in anderen Nationen der drei Regionen mit den meisten Journalistenmorden gibt es staatliche Institutionen, die für innere Sicherheit und die Durchsetzung von Recht und Menschenrechten zuständig sind. Aber sie erledigen ihre Arbeit nicht. Ihr Kampf gegen Korruption, Machtmissbrauch, schwere Menschenrechtsverletzungen, Drogenkartelle und das organisierte Verbrechen in allen seinen Formen ist schwach oder gar nicht vorhanden. Und im Allgemeinen ist in diesen Ländern das Ausmaß der Straflosigkeit groß. Zufall ist das nicht. Viele Institutionen, deren Aufgabe es ist, das Recht und den Rechtsstaat durchzusetzen, sind oder waren von dem gleichen Verbrechen durchdrungen, das sie eigentlich bekämpfen sollen.

Da effiziente Institutionen fehlen oder diese eindeutig korrupt sind, können viele Mitglieder einheimischer oder transnationaler Machtgruppierungen sich der formellen Justiz entziehen – oder diese kommt, wenn überhaupt, erst zu spät zum Tragen. Ihre Straftaten verjähren, hinterlassen in der Gesellschaft jedoch oft bleibende Schäden. Aus ihrer heraus Anonymität können sie diese Strukturen ohne rechtliche, politische oder moralische Kosten in endloser Spirale fortführen.

Genau hier wird ein unabhängiger, hartnäckiger und präziser Journalismus zum entscheidenden Gegengewicht. Durch Informationen wird in der Gesellschaft ein Prozess der Selbstermächtigung ausgelöst. Die Gesellschaft erhält dadurch die Mittel, um zu verstehen, wie die Gruppierungen funktionieren, deren legale oder kriminelle Praktiken zu wachsender Ungleichheit und Ungerechtigkeit führen.

Unabhängiger Journalismus ist tödlich in Mexiko. Hier einige Titelblätter nach den Wahlen in den USA.
Unabhängiger Journalismus ist tödlich in Mexiko. Hier einige Titelblätter nach den Wahlen in den USA.

© AFP

Wenn die Gesellschaft versteht, wie diese Gruppierungen funktionieren, kann sie sie zur Rechenschaft ziehen – und zwar auch dann, wenn Staat und Institutionen es nicht tun. Es ist eine wesentliche Funktion des Journalismus, die Mechanismen öffentlicher oder privater Macht zu erforschen und zu enthüllen, ihre Anonymität zu durchbrechen, und öffentlich auf den Seziertisch zu legen, was verborgen gehalten werden soll. Die Wahrheit zu finden und zu verbreiten ist eine andere Form der Gerechtigkeit.

Genau deshalb gibt es Interessen- und Machtgruppen, die unabhängige Journalisten und Massenmedien blind, taub, stumm ... tot sehen wollen.

Journalismus und vor allem investigativer Journalismus findet Wege und kennt Abkürzungen, die manchmal nicht einmal Justizorganen zugänglich sind. In zahllosen Fällen dringen wir zur Wahrheit vor, die Staatsanwälte und Richter nicht finden, weil sie vor allem in Ländern wie Mexiko häufig genau von den Subjekten abhängig sind, gegen die sie ermitteln und die sie zur Rechenschaft ziehen sollen.

Selbst wenn die legal oder illegal Mächtigen, die die Menschenrechte verletzen, die Umwelt zerstören, die Wirtschaft mit missbräuchlichen Verfahren korrumpieren, Drogen oder Menschen schmuggeln, sich oft der formellen Justiz entziehen können, entgehen sie dem unabhängigen, präzisen, hartnäckigen und der Wahrheit verpflichteten Journalismus nicht.

Als Journalisten können wir zwar keinen Ersatz für die Verantwortung des Staates bieten, Rechtsbrecher vor einen Richter zu bringen. Indem wir unvoreingenommen die Wahrheit enthüllen, können wir aber ihre Verbrechen gegenüber der Gesellschaft offenlegen, damit diese dann frei und informiert ihr Urteil spricht.

Daran glaube ich fest und der Preis, den ich bezahle, um für das Recht der Gesellschaft auf wahrheitsgemäße Information einzutreten, besteht darin, dass ich im Exil leben muss.

Tod oder Verbannung, so lautete das Urteil, das die Gruppierung von Narco-Beamten gegen mich verhängte, weil ich die Wahrheit kundgetan habe. Während Präsident Felipe Calderón und sein Minister Genaro García Luna die brutale Gewalt in Mexiko mit dem so genannten „Krieg gegen die Drogen“ rechtfertigten, habe ich durch investigative Recherche aufgedeckt, dokumentiert und enthüllt, dass dieser Krieg geheuchelt war und dass die Regierung das Kartell von Sinaloa gegen millionenschwere Bestechungszahlungen und Drogen schützte. Und dass sich gerade die Bundespolizei in ein weiteres Kartell verwandelte, das noch gefährlicher war, strafloser handelte und stärker zersetzend wirkte, da es als Staatsmacht auftritt.

Von der Regierung manipuliert wiederholte die überwiegende Mehrheit der Massenmedien den offiziellen Diskurs des vorgeblichen Krieges gegen die Drogen, während ich und meine Familie Opfer bewaffneter Übergriffe wurden. So packte ich an einem Julitag 2014 meinen Koffer fertig, schloss mein Haus ab, nahm meine Kinder an die Hand, umarmte meine Mutter und hinterließ ihr meine Orchideen, damit sie sich um sie kümmert und diese ihr Gesellschaft leisten. Ich verabschiedete mich am Grab meines Vaters und atmete in dem ländlichen Haus, in dem ich groß geworden bin, ein letztes Mal tief ein. Ich ging aus Mexiko fort, um weiter dort sein zu können.

Im Dezember 2019 ging die Nachricht um die Welt, dass der ehemalige Minister für innere Sicherheit Mexikos Genaro García Luna in den Vereinigten Staaten festgenommen wurde. Ein New Yorker Bundesgericht hatte ihn angeklagt, das Kartell gegen Schmiergelder in Millionenhöhe geschützt und mit Drogen gehandelt zu haben. Als ich das erfuhr, blieb ich lange Zeit still.

Mein Leben verpflanzte ich in einen Blumentopf

Von 2014 bis 2016 lebte ich als Stipendiatin des Programms für investigativen Journalismus der University of California, Berkeley, in den Vereinigten Staaten. Mexiko hatte ich mit dem Gedanken verlassen, dass ich niemals zurückkehren würde.

Mein Leben verpflanzte ich in einen kleinen Blumentopf, damit ich beweglich bliebe, bis ich einen Ort fände, an dem ich es anpflanzen und den ich Heim nennen könnte.

Am 26. September 2014 wurden an der pädagogischen Hochschule Raúl Isidro Burgos drei Studenten ermordet und 43 weitere ließ man in Iguala im Bundesstaat Guerrero verschwinden. Die offizielle Version der Regierung des damaligen Präsidenten Enrique Peña Nieto war voller Lücken und Widersprüche. Angeblich hätte der Bürgermeister Igualas den Angriff und das Verschwinden der jungen Studenten eingefädelt und eine Gruppe städtischer Polizeibeamter hätte ihn zusammen mit einer kleinen Verbrecherbande ausgeführt. Diesem Diskurs zufolge hatte man die 43 jungen Leute noch am gleichen Abend auf einer Müllhalde verbrannt.

Der Schmerz der Väter und Mütter löste Massendemonstrationen in Mexiko und Solidaritätsbekundungen in verschiedenen Ländern aus. Angesichts der verzweifelten Suche nach ihren Kindern änderte ich das Forschungsprojekt, für das ich ein Stipendium am IRP der Universität Berkeley erhalten hatte. Ich schlug vor, den Fall der 43 verschwundenen Studenten zu untersuchen. Zwar hatte es jene Gruppierung von Narco-Beamten geschafft, mich physisch ins Exil zu treiben, aber mein Herz könnten sie niemals des Landes verweisen. Aus dem kleinen Blumentopf, in den ich mein Leben gepflanzt hatte, spross eine ganz feine und zarte Wurzel, die sich in dem Boden verankerte, auf dem ich zur Welt kam.

Als "Fellow" einer bekannten US-Universität ist man selbst in Mexiko geschützt

Täglich gegen meine Befürchtungen kämpfend, entwarf ich eine Strategie, mit der ich geschützt als Fellow der prestigeträchtigen Universität zwei Jahre lang in meine Heimat reisen konnte, um zu recherchieren, was an jenem Abend tatsächlich in Iguala geschehen war.

Anhand von Zeugenaussagen, Dokumenten und Videos fand ich heraus, dass die Version der mexikanischen Bundesregierung von vorn bis hinten falsch war. Die angeblichen, geständigen Täter waren von Institutionen der Bundesregierung brutal gefoltert worden, um sie zu zwingen Erklärungen zu einem Verbrechen zu unterschreiben, das sie nicht begangen hatten, und so die Drahtzieher und ausführenden Täter zu verbergen: Beamte des Heeres, der Bundespolizei und der Ministerialpolizei in Komplizenschaft mit einer bedeutenden kriminellen Organisation. Sie alle waren gedeckt vom damaligen Präsidenten Mexikos und den Institutionen, die dafür zuständig sind, Recht zu sprechen.

Einer der für die Verschleierung und die Folterungen verantwortlichen Polizeichefs gehörte dem gleichen Netzwerk krimineller Narco-Beamten an, das mich zum Exil verurteilt hatte.

Mit den Jahren sind verschiedene nationale und internationale Institutionen zu ähnlichen Schlussfolgerungen wie meine Recherche gelangt. Am 12. November dieses Jahres wurde der Hauptmann José Martínez Crespo als erster Militär wegen der Taten von Iguala festgenommen. Seinen Namen und seine Mitwirkung am Verschwinden der Studenten hatte ich bereits im Dezember 2014 in meiner ersten Reportage zu diesem Fall enthüllt.

In den zwei Jahren meiner Recherchen zu dem Fall habe ich mich bei jeder Reise von den Vereinigten Staaten nach Mexiko mit dem Gedanken von meinen Kindern verabschiedet, dass ich sie vielleicht zum letzten Mal sehe. Jedes Mal verspürte ich Reue, wenn ich ins Flugzeug stieg. Jedes Mal, wenn ich meine Mutter traf, litt sie, weil ich dort in Gefahr war. Praktisch alle Kontakte zu meinen Geschwistern, meinen wenigen Freunden brach ich ab, um sie keinem Risiko auszusetzen, denn ganz tief fühlte ich mich schuldig für das, was ich tat.

Nächste Station des Exils in Europa

Mitte 2016 beendete ich mein Fellowship an der Uni Berkeley und versuchte, nach Mexiko zurückzukehren, aber noch im gleichen Jahr wurde ich erneut bedroht und musste wieder fort. Jetzt befinde ich mich an einem anderen Ort in Europa, versuche, meine Recherchen selbst zu finanzieren und reise weiter in meine Heimat, um unter extremen Bedingungen meine Arbeit zu tun. Aufgrund der Migrationsumstände, unter denen ich lebe, kann ich mein Leben wie viele andere Exilierte auf der Welt nicht mittel- und langfristig planen. Ich laufe Gefahr, staatenlos zu werden, ohne Recht, in meiner Heimat am Leben zu sein, und ohne langfristige Rechtsansprüche in einer anderen Nation.

Ich versuche, an einem neuen Ort eine Heimat zu finden, aber meine Seele ist über diese zarte aber untrennbare Wurzel, die mich nährt und gleichzeitig vergiftet, an meine Heimat gebunden. Ständig lebe ich in dem Konflikt, meine Anwesenheit im Leben meiner Lieben durch die Recherchearbeit zu gefährden. Ich betreibe sie trotzdem weiter, denn wenn ich sie aufgäbe, würde ich nur zu Intransparenz und Straflosigkeit beitragen. Ich allein kann das Umfeld nicht verändern und gebe es auch nicht vor, aber ich kann nicht leben, ohne zu versuchen, zu seinem Wandel beizutragen.

Auch heute, jetzt, in diesem Moment bleibt mir das Herz stehen, wenn ich den Weg betrachte, den ich gegangen bin, und den, der vor mir liegt – auf dem ich mich Schritt für Schritt, Tag für Tag vorwärts bewege. Ich habe Angst weiterzugehen und Angst, stehen zu bleiben.

Was ist Exil wirklich? Welche Regeln, welche Verhaltenscodes sollte man im Exil befolgen? Was ist gut? Was ist schlecht? Die Perversität des Exils besteht wie bei anderen Arten von Missbrauch darin, dass sich das Opfer schuldig fühlt und nicht der Täter.

Die UN-Flüchtlingsagentur (UNHCR) stellt fest, dass ein Prozent der Weltbevölkerung gezwungen wurde, aufgrund von Konflikten und Verfolgung ihr Heim zu verlassen. Nach Angaben der Organisation Reporter ohne Grenzen entschließen sich jedes Jahr dutzende Journalisten um ihrer Sicherheit willen zur Flucht aus ihrer Heimat. Um ihr Leben zu retten, müssen sie sich innerlich verstümmeln – nicht nur, weil sie ihr Heim und alles, wofür es steht, verlassen müssen, sondern weil sie dann überwiegend an Orte gehen, an denen sie nicht einmal ihren Beruf weiter ausüben können. So verlieren die Journalisten, verliert die Gesellschaft unabhängige Berichterstatter und es verliert die Demokratie.

Nur sehr wenige Programme schützen und finanzieren Journalisten, die ihr Heimatland verlassen müssen, um ihre berufliche Tätigkeit fortzusetzen. Das ist eine Situation, die nicht nur die individuelle Meinungsfreiheit, sondern auch das Recht der Gemeinschaft auf Information grundlegend schwächt.

Exil ist hart, aber besser als erzwungenes Schweigen

Nach der Festnahme von García Luna fand ich schließlich wieder Worte und teilte sie meinen Kindern mit. Was wir im Einzelnen sagten, erinnere ich nicht. In der Seele eingebrannt blieben mir jedoch unsere Blicke. Solche Blicke wechseln diejenigen, die gemeinsam ohne Unterschlupf und ohne Pause durch den Sturm gegangen sind und endlich einen sonnigen Morgen sehen.

Einen sonnigen Morgen, denn am nächsten Tag geht es weiter auf dem langen und mühsamen Weg zurück nach Mexiko. Ein Weg, der mit der Festnahme des Ex-Polizeichefs nicht zu Ende ist. Verschiedene Mitglieder seines kriminellen Netzwerks sind weiter in unterschiedlichen politischen Bereichen der Regierung aktiv – als hohe Beamte der Generalstaatsanwaltschaft der Republik und Minister für innere Sicherheit verschiedener Teile des Landes.

Vor zehn Jahren hätte ich niemals gedacht, dass man mich zum Exil verurteilen würde, weil ich investigativen Journalismus betreibe und die in meine Seele eingebrannte Pflicht erfülle. Dennoch führe ich mein Leben in diesem kompakten, engen, zerbrechlichen Blumentopf, mit dieser zarten Wurzel, die meine Heimat umarmt.

Ich lebe in Ungewissheit, aber in diesen Jahren habe ich gelernt, dass weder die Täter, noch die Angst, noch meine Zweifel mich gleichgültig machen können gegenüber dem, was in Mexiko geschieht. Sie können mich nicht dazu bringen wegzuschauen, mich nicht zum Schweigen bringen, denn für mich als Journalistin, als Frau, als Mutter und Tochter ist erzwungenes Schweigen schlimmer als Exil, es ist wie lebendig zu sterben.

Anabel Hernández

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