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Pflegeimperialismus in Deutschland statt Ursachenbekämpfung

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In den letzten 25 Jahren wurden etwa 50 000 Stellen im Pflegebereich gestrichen.
In den letzten 25 Jahren wurden etwa 50 000 Stellen im Pflegebereich gestrichen. © Sven Hoppe/dpa

Seit Jahren ist von einem Pflegenotstand in Deutschland die Rede. Tausende Pflegekräfte fliehen aus ihrem Beruf. Doch Ursache werden nicht bekämpft.

Die Philippinen sind für Deutschland Hauptherkunftsland gut ausgebildeter ausländischer Pflegekräfte. So kann man es auf der Internetseite des Bundesgesundheitsministeriums lesen. Es wird mit der baldigen Ankunft von 1500 philippinischen Pflegekräften gerechnet. Die Parlamentarische Staatssekretärin Sabine Weiss ist dazu im vergangenen Jahr auf die Philippinen gereist und erklärte dort: „Die Anwerbung ausländischer Pflegekräfte ist ein wichtiger Baustein, um die Personalsituation in Pflegeeinrichtungen und Krankenhäusern zu verbessern.“ Das ganze hat Programmcharakter. Nach Mexiko und in den Kosovo ist Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) höchstpersönlich gereist, um Abkommen über die Anwerbung von Pflegekräften zu schließen.

Das ganze ist ein alter Hut, auch wenn es jetzt als großartige neue Idee verkauft wird. Als ich vor über vierzig Jahren zum ersten Mal im OP im Krankenhaus Höchst gearbeitet habe, waren etwa ein Viertel der OP-Schwestern und -Pfleger aus Indonesien. Auch damals war schon von einem Pflegenotstand die Rede. Inzwischen sind vierzehn Gesundheitsminister*innen an mir vorbeigezogen, aber es ist niemandem von ihnen gelungen, das Problem zu lösen.

Pflegenotstand in Deutschland: Tausende Pflegekräfte fliehen aus ihrem Beruf

Es hat sich nämlich niemand an die Ursachen gewagt. Im Gegenteil: In den letzten 25 Jahren wurde etwa die Hälfte der damals noch 4000 Krankenhäuser geschlossen, und es wurden etwa 50 000 Stellen im Pflegebereich gestrichen. Gleichzeitig stieg die Anzahl der Behandlungsfälle um ein Viertel an, auf etwa zwanzig Millionen. Mehr Arbeit mit weniger Personal führte vielerorts zu unerträglichem Arbeitsdruck. Wer kann in dieser Hetze noch pflegerisch arbeiten, noch dazu miserabel bezahlt und mit zumeist lebensfeindlichen Arbeitszeiten? Und so sind im Laufe der Zeit etwa 300 000 ausgebildete Pflegekräfte aus ihrem Beruf geflohen.

Eine Befragung hat ergeben, dass etwa die Hälfte von ihnen gerne in den Pflegeberuf zurückkehren würde, wenn eine angemessene Bezahlung, gute Arbeitszeiten mit Erholungsphasen, Wertschätzung und Respekt gegeben wären. Mehr als Beifall und eine armselige Einmalzahlung hat man den Pflegekräften aber nicht geboten, auch jetzt nicht, in der Corona-Pandemie. Stattdessen reist Jens Spahn nach Mexiko und in den Kosovo, um deren voll ausgebildete Pflegekräfte abzuwerben. Dass sie dann dort fehlen, kümmert ihn nicht.

Deutschland und der Pflegenotstand: Betroffene erhalten skandalöse Arbeitsverträge

Das bezeichne ich als Pflegeimperialismus. Jens Spahn bezeichnet das als Triple-Win-Situation: Das Herkunftsland gibt arbeitslose Kräfte ab, Deutschland besetzt freie Stellen, die Betroffenen lernen Deutsch und verdienen hiesige Löhne. Man könnte das Ganze aber auch eine Triple-Lose-Situation nennen: Das Herkunftsland verliert gut ausgebildete junge Menschen, in Deutschland erfüllen sie die Funktion von Lohndrückern gegenüber dem deutschen Pflegepersonal, und die Betroffenen erhalten fern der Heimat häufig skandalöse Arbeitsverträge, ja, sie müssen sogar sogenannte Anwerbekosten von bis zu 15 000 Euro selbst bezahlen, sobald sie desillusioniert kündigen wollen, um in ihre Heimat zurückzukehren.

In letzter Zeit erfahren wir täglich nicht nur das Wetter und die Börsenkurse, sondern auch die Zahl von freien Intensivbetten. Was ist eigentlich ein Intensivbett? Ein Intensivbett ist ein Krankenbett, in dem eine intensivmedizinische Versorgung von Schwerkranken durch spezialisiertes Pflegepersonal stattfindet, das eine mindestens zweijährige Zusatzausbildung hat. Wenn man also Messehallen mit Betten und Apparaten vollstellt, nutzt das noch nichts. Es braucht Intensivschwestern und Intensivpfleger. Die haben wir aber nicht. Da hilft kein Applaus, und die können wir auch nicht aus dem Kosovo oder aus Mexiko einfliegen.

Jetzt zeigt sich, dass der personelle Kahlschlag und die Gewinnorientierung unserem Gesundheitswesen schwer geschadet haben. Da muss man staunen, dass Schwestern und Pfleger, Ärztinnen und Ärzte unter diesen Bedingungen noch immer jeden Tag Höchstleistungen vollbringen. Aber auf Dauer wird das nicht gutgehen, es sei denn, das Gesundheitswesen wird wieder zu einem Teil der staatlichen Daseinsvorsorge.

Dr. med. Bernd Hontschik ist Chirurg und Publizist. www.medizinHuman.de

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