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Anwältin über die Coronakrise in Mexikos Fabriken »Arbeiter, die sich anstecken oder sterben, werden einfach durch jüngere ersetzt«

Corona-Ausbrüche in Fabriken verschärfen die Pandemie in Mexiko. Wie die Betriebe Infektionen vertuschen und gerade eine ganze Generation von Arbeitern gegen Kinder austauschen, berichtet die Anwältin Susana Prieto Terrazas.
Ein Interview von Sonja Peteranderl
Anwältin Susana Prieto Terrazas: Protest gegen die Arbeitsbedingungen in Mexikos Fabriken

Anwältin Susana Prieto Terrazas: Protest gegen die Arbeitsbedingungen in Mexikos Fabriken

Foto: HENRY ROMERO / REUTERS
Globale Gesellschaft

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Der wirtschaftliche Motor soll weiterlaufen, um jeden Preis. In Mexikos Fabriken schrauben Arbeiter während der Pandemie weiter Autoteile oder Medizingeräte für die USA und andere Länder zusammen – und sind dem Coronavirus oft ungeschützt ausgeliefert, weil sie kaum Abstand halten können und meist keine ausreichende Schutzausrüstung haben.

Die Arbeitsbedingungen in den sogenannten Maquiladoras stehen seit Langem in der Kritik : In den steuerbegünstigten Montagebetrieben, die für den Export produzieren, schuften die Arbeiter für Niedriglöhne, die Sicherheitsstandards sind lax. Nun kommt mit dem Coronavirus ein weiteres Gesundheitsrisiko hinzu.

Susana Prieto Terrazas (im weißen Schutzanzug) berät Arbeiter bei einem Protest

Susana Prieto Terrazas (im weißen Schutzanzug) berät Arbeiter bei einem Protest

Foto: Jose Luis Gonzalez / REUTERS

In der Grenzstadt Ciudad Juárez sind rund zwei Drittel der formell Beschäftigten bei Fabriken angestellt, Hunderte Arbeiter haben sich dort bereits mit Corona infiziert. Bei Electrolux, einer Firma, die unter anderem Kühlschranke und Waschmaschinen produziert, wurden kürzlich 138 Neuinfektionen  innerhalb von vier Wochen bekannt.

Mit Streiks und Protesten in verschiedenen Städten Mexikos fordern Arbeiterinnen und Arbeiter seit Wochen bessere Schutzmaßnahmen und kritisieren, dass die Branche Ansteckungen und Todesfälle verschleiern würde.

Im Interview erzählt die Anwältin Susana Prieto Terrazas aus Ciudad Juárez, wieso Arbeiter besonders gefährdet sind, sich mit Corona zu infizieren, warum die Dunkelziffer so hoch ist und wie die Unternehmen die Krise als Vorwand nutzen, um ihre Belegschaft zu verjüngen.

Zur Person
Foto: HENRY ROMERO / REUTERS

Susana Prieto Terrazas, Jahrgang 1966, lebt und arbeitet in Ciudad Juárez. Sie ist Anwältin und hat sich auf Arbeitsrecht spezialisiert. Prieto Terrazas vertritt Arbeiter und Arbeiterinnen, die in der Maquiladora-Industrie in Mexiko beschäftigt sind, und hat in der Vergangenheit etwa Lohnerhöhungen in einigen Zulieferbetrieben durchgesetzt.

SPIEGEL: Warum ist die Corona-Gefahr in Mexikos Maquiladoras so hoch?

Prieto Terrazas: Die Fabriken tun so, als würden die Schutzmaßnahmen eingehalten, aber das ist eine Lüge. Hunderte oder Tausende arbeiten in einer Schicht zusammen, Schulter an Schulter – es ist unmöglich, Abstand zu halten. Oft werden nur billige Masken verteilt, die eine Woche lang halten müssen, und antibakterielles Gel, das nicht vor Viren schützt. Sicherheitskräfte messen zwar die Temperatur, aber das heißt nichts. Ich hatte selbst Corona, hatte 27 Tage lang schreckliche Atembeschwerden, aber kein Fieber. In manchen Krankenstationen in den Betrieben behandeln sie Leute mit Corona-Symptomen, als hätten sie nur eine Erkältung, und schicken sie teilweise zurück ans Band.

SPIEGEL: Wie viele Arbeiter haben sich bisher angesteckt oder sind an Covid-19 gestorben?

Prieto Terrazas: Allein in Juárez haben sich Unzählige infiziert, und inoffiziellen Daten zufolge könnten mehr als 200 Fabrikarbeiter an Covid-19 gestorben sein. Aber es gibt keine genauen offiziellen Statistiken. Arbeiter werden oft ohne Corona-Test nach Hause geschickt – und wenn sie zu Hause sterben, da das Gesundheitssystem kollabiert ist, attestiert kein Arzt Covid-19 als Todesursache. Je nachdem, von welchen Symptomen Angehörige berichten, werden Infarkte oder Lungenentzündungen als Gründe für den Tod dokumentiert. Und die Politiker schauen weg, weil die Betriebe sonst damit drohen, zu schließen oder ihren Standort zu wechseln – Hauptsache, die Fabriken stehen nicht still.

SPIEGEL: Welche Auflagen macht die mexikanische Regierung der Maquiladora-Industrie derzeit?

Prieto Terrazas: Als der Gesundheitsnotstand im März ausgerufen wurde, hat die Regierung angeordnet, dass alle Betriebe geschlossen werden müssen, die nicht systemrelevant sind – also rund 90 Prozent aller Fabriken in Mexiko. Offen bleiben sollten nur Unternehmen aus der Lebensmittelbranche und Gesundheitsbedarf, später wurde auf Druck der USA hin auch die Automobilindustrie als systemrelevant eingestuft. Aber in den Grenzstädten Ciudad Juárez und Matamoros haben fast alle Maquiladoras einfach weitergemacht. Viele haben auf wundersame Weise angeblich plötzlich medizinische Produkte produziert und den Arbeitern vorgemacht, dass sie zum Beispiel Teile für Beatmungsgeräte in New York zusammenschrauben würden.

Fabrikarbeiter nähen Schutzmasken – sie selbst sind oft nicht ausreichend geschützt

Fabrikarbeiter nähen Schutzmasken – sie selbst sind oft nicht ausreichend geschützt

Foto: Carlos Tischler / Cover-Images / imago images

SPIEGEL: Wie kommen die Betriebe mit solchen Methoden durch?

Prieto Terrazas: Sie nutzen oft die Unwissenheit der Arbeiter aus, und weder die Bundesregierung noch die Gouverneure der Bundesstaaten setzen ihnen Grenzen. Mittlerweile gibt es ein Ampelsystem, und die Verantwortlichkeit für Corona-Maßnahmen liegt seit Juni bei den Gouverneuren – sie lockern oder beschränken die Aktivitäten lokal. Obwohl die Gesundheitskrise in Ciudad Juárez alarmierend ist, dürfen systemrelevante Fabriken jetzt wieder mit einer Belegschaft von 80 Prozent arbeiten – so steht es auf dem Papier. Arbeiter berichten allerdings, dass die Unternehmen mit einer Auslastung von 150 oder sogar 200 Prozent produzieren.

SPIEGEL: Das heißt, sie beschäftigen noch mehr Menschen als vor der Coronakrise?

Prieto Terrazas: Die Lieferketten sind durch die Pandemie unterbrochen worden, in den USA  wurden viele Autofabriken und Zuliefererbetriebe zeitweise geschlossen. Jetzt müssen sie die Ausfälle wieder aufholen – und auch die Betriebe in Mexiko produzieren über, um die Nachfrage aus den USA zu bedienen. Sie beschäftigen gerade mehr Menschen als in normalen Zeiten, zwingen die Belegschaft oft, fünf oder sogar sieben Tage nacheinander zwölf Stunden pro Tag zu arbeiten. Wenn die Leute keine Überstunden machen wollen, werden sie entlassen. Und auch Arbeiter, die sich mit Corona anstecken oder sterben, werden oft einfach durch jüngere ersetzt.

SPIEGEL: Die Unternehmen nutzen die Pandemie also als Anlass, um ihre Belegschaft zu verjüngen?

Prieto Terrazas: Genau. Sie sortieren Leute aus und entlassen diejenigen, die anfälliger sind, weil sie älter sind oder Krankheiten wie Diabetes haben. Offiziell ist von 10.000 bis 15.000 Kündigungen die Rede, aber ich gehe davon aus, dass es allein in Ciudad Juárez zwischen 20.000 und 30.000 Entlassungen gab. Gleichzeitig haben alle Fabriken neue Jobs ausgeschrieben. Sie feuern Arbeiter, die älter als 40 Jahre sind, und ersetzen sie durch ihre Kinder, die schneller sind.

Die ältere Generation wird durch ihre Kinder ausgetauscht

Die ältere Generation wird durch ihre Kinder ausgetauscht

Foto: Agencia EFE / imago images

SPIEGEL: Welche sozialen Folgen hat das?

Prieto Terrazas: Die Fabriken schnappen sich die 16-Jährigen aus ärmeren Familien, die versuchen, zur Schule zu gehen, um aus dem Loch, in dem sie leben, herauszukommen. Sie haben aber keine andere Option, als irgendeinen Job anzunehmen, wenn den Eltern gekündigt wurde – oder diese aufgrund von Corona in Quarantäne müssen, dabei nur noch einen Bruchteil oder gar keinen Lohn erhalten und auch keine Hilfe vom Staat. Die Arbeiterkinder werden gezwungen, den Zyklus der vergangenen Jahrzehnte zu wiederholen, und werden zur neuen Generation der Maquiladora-Sklaven.

SPIEGEL: Viele Belegschaften fordern derzeit mit Streiks und Protesten bessere Arbeitsbedingungen – haben sie eine Chance?

Prieto Terrazas: Solange die Regierung keine alternativen Einkommensmöglichkeiten schafft, sind die Leute weiter abhängig von der Maquiladora-Industrie. Es fehlen auch starke Gewerkschaften, die ihre Interessen vertreten. Es ist unwahrscheinlich, dass die Bedingungen besser werden – im Gegenteil. Angesichts der Wirtschaftskrise, die durch die Pandemie ausgelöst wurde, drücken die Fabriken die Löhne noch weiter nach unten. In Matamoros haben Arbeiter bisher durchschnittlich am wenigsten verdient, zwischen 230 und 260 Pesos pro Tag, umgerechnet zwischen 9,50 Euro und 10,70 Euro. Leute, die jetzt neu anfangen, bekommen nur noch 180 Pesos pro Tag, gerade einmal 7,40 Euro.

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

Eine ausführliche FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.

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