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Umweltverbrechen Wie Banden und Kartelle Mexikos Wälder plündern

Illegaler Holzschlag ist für mexikanische Banden und Kartelle ein lukratives Geschäft. Sie zerstören immer mehr Wälder – und ermorden Umweltschützer und Anwohner, die ihnen dabei in die Quere kommen.
In Mexiko versuchen vielerorts Bürgerwehren, Wälder vor kriminellen Banden zu schützen – teils sind sie aber selbst von den Kriminellen unterwandert

In Mexiko versuchen vielerorts Bürgerwehren, Wälder vor kriminellen Banden zu schützen – teils sind sie aber selbst von den Kriminellen unterwandert

Foto: RONALDO SCHEMIDT / AFP
Globale Gesellschaft

In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.

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Seine letzten Tacos aß Marco Antonio Arcos Fuentes in der Taqueria »No que No« in der Nähe von Chilpancingo, der Hauptstadt des Bundesstaats Guerrero im Süden Mexikos. Es sollte nur ein Zwischenstopp auf dem Weg nach Hause sein: Der 45-Jährige war tagsüber mit einem Nachbarn aus seinem Dorf nach Chilpancingo gefahren, um Material für den Ausbau seines Hauses zu kaufen. Fuentes hatte 25 Jahre lang in den USA gelebt, erst im vergangenen Jahr war er in seine Heimat zurückgekehrt.

Während er beim Essen saß, stürmte eine Killertruppe in das Restaurant und feuerte mehrfach gezielt auf ihn – er starb, bevor die Rettungskräfte eintrafen. Rund vier Monate zuvor hatte er sein Amt als Vorsitzender des Gemeinderats von Jaleaca de Catalán angetreten und seitdem den Holz-Raub in seiner Region angeprangert; zwei Monate vor seinem Tod hatte er noch mit anderen Bewohnern aus der Region vor dem Regierungspalast in Chilpancingo gegen die Zerstörung der Wälder durch kriminelle Gruppen protestiert.

Der Kampf um Mexikos Wälder ist gefährlich – hier sucht ein Polizist nach illegalen Holzfällern

Der Kampf um Mexikos Wälder ist gefährlich – hier sucht ein Polizist nach illegalen Holzfällern

Foto: Dario Lopez-Mills / ASSOCIATED PRESS

Der mexikanischen Nationalen Menschenrechtskommission CNDH zufolge ist der Gemeindeaufseher bereits der 66. Umweltschützer, der in Mexiko seit dem Jahr 2006 getötet wurde. Die Kommission fordert die Behörden auf, den Mord an Fuentes »gründlich zu untersuchen, insbesondere im Hinblick auf einen möglichen Zusammenhang mit seiner Tätigkeit«.

Erst Anfang April war ebenfalls im Bundestaat Guerrero der Gemeindeaufseher Carlos Marqués Oyorzábal  von Kriminellen entführt, ermordet und zerstückelt worden. Er hatte die Gemeindepolizei beaufsichtigt, die mehrfach illegale Holzfäller daran gehindert hatte, Holz aus den Ejidos, lokalen landwirtschaftlichen Gemeinschaftsbetrieben zu stehlen.

Auf der ganzen Welt geraten Umweltschützer zunehmend ins Visier von kriminellen Banden, aber auch von staatlichen Kräften, Großbauern und Unternehmen: Die Nichtregierungsorganisation »Global Witness« dokumentiert in ihrem neuen Bericht »Last Line of Defense « erneut ein Rekordhoch in Bezug auf Morde. Allein im Jahr 2020 wurden 227 Menschen, die Umwelt, Tiere oder ihr Land verteidigten, umgebracht – durchschnittlich mehr als vier pro Woche.

Kolumbien, Mexiko und die Philippinen waren im vergangenen Jahr die tödlichsten Länder für Umweltschützer – und Holzschlag war »Global Witness« zufolge mit 23 Morden weltweit der tödlichste Sektor für sie. »In Mexiko gab es einen starken Anstieg der Morde im Zusammenhang mit Holzschlag und Entwaldung«, beobachtet die Organisation.

Insgesamt dokumentierte »Global Witness« in Mexiko 30 Morde – rund 70 Prozent mehr als im Vorjahr. Zudem sei die Straflosigkeit bei Verbrechen gegen Menschenrechtsverteidiger dort »nach wie vor erschreckend hoch«, heißt es in dem Bericht – »bis zu 95 Prozent der Morde werden nicht strafrechtlich verfolgt.«

Der Kriminalitätsexperte Edgardo Buscaglia, der an der Jurafakultät der New Yorker Columbia Universität lehrt, warnt seit mehr als zehn Jahren davor, dass Mexikos Kartelle ihre Geschäfte diversifizieren und in immer mehr illegalen und legalen Märkten aktiv sind – auch in der Forstwirtschaft. In den vergangenen Jahren seien die kriminellen Organisationen immer weiter expandiert, hätten mittlerweile einen Großteil des Holzmarktes unter ihrer Kontrolle.

»Es gibt Hunderte lokale Banden, die illegal Holz schlagen«

Edgardo Buscaglia, Kriminalitätsexperte

»Heute stammt mehr als die Hälfte des Holzes, das aus Mexiko auf den Markt kommt, aus illegaler Herkunft«, sagt Buscaglia. »Es gibt Hunderte lokale Banden, die in Bundesstaaten wie Jalisco, Michoacán oder Chiapas illegal Holz schlagen, Holzunternehmen und Sägewerke betreiben und das Holz günstig an die transnationalen kriminellen Organisationen verkaufen.«

Das Sinaloa-Kartell oder das Cartel Jalisco Nueva Generación (CJNG) würden dann auf dem Weltmarkt »als Broker« auftreten. Buscaglia zufolge kontrollieren die Kartelle die Häfen; die Waren werden von Mexiko per Schiff nach Asien transportiert – vor allem nach China, wo die Kontrollen lax seien.

Mexikos Wälder sind in Gefahr – die Entwaldung schreitet immer massiver voran

Mexikos Wälder sind in Gefahr – die Entwaldung schreitet immer massiver voran

Foto: imago stock&people

Die Kartelle würden sich dabei auf den Vertrieb von besonders edlem Holz konzentrieren, von Bäumen, die vom Aussterben bedroht sind – wie der pazifische Parota-Baum, Granadillo oder Tampicirán. Für das Holz könnten sie in China hohe Preise erzielen. Nachhaltigkeit spiele dabei keine Rolle, sagt Buscaglia – die kriminellen Netzwerke »interessiert nur der schnelle Gewinn«.

Der Welternährungsorganisation FAO zufolge verschwanden in Mexiko im Jahr 2020 rund 127.770 Hektar Wald – zwischen 2010 und 2015 wurden durchschnittlich 91.600 Hektar pro Jahr entwaldet. Der Raubzug durch Mexikos Wälder wird in vielen Regionen von einer extremen Gewaltwelle begleitet: Kriminelle Banden bedrohen, kidnappen oder töten Gemeindeaufseher und Bauern von Gemeinschaftsunternehmen, die den Banden illegalen Holzschlag verweigern, ihnen kein Holz verkaufen wollen oder sich weigern, Schutzgeld zu zahlen.

»Manche Morde gehen auf Facebook viral, doch die meisten Menschen werden einfach vergessen«, sagt ein Menschenrechtsverteidiger aus dem Bundesstaat Guerrero, dessen Name aus Sicherheitsgründen nicht öffentlich werden soll, aber dem SPIEGEL bekannt ist. »Guerrero ist eine Zone des Schweigens, es dringen kaum Informationen nach außen.«

Zusammen mit Männern und Frauen aus der Region hat er die Beobachtungsstelle »Observatorio por la Reconciliación, la Paz y el Desarrollo« gegründet. Sie dokumentieren die Gewalt in der Sierra de Guerrero, fordern Lösungen für die sozialen Probleme der Region und prangern an, dass das Verbrechen immer weiter wuchert – während der Staat untätig bleibt.

Früher kämpften Banden und Kartelle in der Sierra de Guerrero um Schlafmohn-Anbaugebiete – jetzt geht es ums Holz

Früher kämpften Banden und Kartelle in der Sierra de Guerrero um Schlafmohn-Anbaugebiete – jetzt geht es ums Holz

Foto: PEDRO PARDO / AFP

Die Region, die dem Mann zufolge seit Jahrzehnten von Politik und Behörden vernachlässigt wird, ist arm, dafür reich an natürlichen Ressourcen – und somit ein idealer Nährboden für kriminelle Banden und Gewalt.

In Guerrero wurde der Großteil des Opiums angebaut, der Mexiko zu einem der größten Opium-Produzenten weltweit aufsteigen ließ. Viele Bauern hielten sich mit dem Anbau von Schlafmohn über Wasser und verkauften Opiumpaste an kriminelle Banden und Kartelle; diese verarbeiteten den Rohstoff zu Heroin.

»Sie entscheiden, wer die Sägewerke nutzen darf und wer das Holz auf welchen Wegen transportiert.«

Vertreter der Beobachtungsstelle »Observatorio por la Reconciliación, la Paz y el Desarrollo«

Doch das Geschäft lohnt sich nicht mehr: Synthetische Drogen wie Fentanyl, die sich schneller in Laboren herstellen lassen und wirksamer sind als Heroin, haben Opium mittlerweile verdrängt. »Vor drei Jahren brach der Markt für Opium ein, die Preise fielen in den Keller«, erzählt der Vertreter des Observatorio.

Die Banden, die in der Gegend aktiv waren, seien damals auf die nächstbeste Ressource umgestiegen: Holz. »Heute kontrollieren sie die ganze Industrie, entscheiden, wer die Sägewerke nutzen darf und wer das Holz auf welchen Wegen transportiert«, sagt er. Die meisten Bäume, die in Guerrero gefällt werden, würden ihm zufolge abtransportiert und im benachbarten Bundesstaat Michoacán weiterverarbeitet. Illegalen Holzschlag habe es zwar zuvor schon gegeben – aber nicht in diesem großen Stil.

In vielen Bundesstaaten Mexikos kämpfen rivalisierende Gangs um Territorien und Märkte

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Foto: ENRIQUE CASTRO / AFP

Den Einwohnern von Guerrero bleiben nicht viele Optionen. Manche wehren sich gegen die Eindringlinge in ihrem Wald – oft mit tödlichen Folgen. Andere flüchten vor der Gewalt und blutigen Konflikten zwischen rivalisierenden Banden, die zunehmend zersplittern. Seit 2011 sind rund 10.000 Menschen aus Guerrero  vertrieben worden.

Häufig bleibt denen, die bleiben, nichts anderes übrig, als sich mit den Machthabern zu arrangieren – manche verdienen als Komplizen selbst am Raubbau in ihrem Wald. »Es ist schwierig, die Kriminalität auszurotten, weil sie teilweise schon in Familien und in Behörden eingedrungen ist«, warnt der Mann aus Guerrero. »Gemeindevorsteher, Verwaltungsbeamte, Polizisten, regionale Politiker bis hin zu Gouverneuren wurden korrumpiert; Leute aus der Region geben den Banden Unterschlupf und ermöglichen, dass sie dort aktiv sein, Entscheidungen treffen können.«

Geahndet werden die Umweltverbrechen kaum. Straftaten gegen Flora und Fauna, wie der illegale Holzschlag, seien dem Kriminalitätsexperten Edgardo Buscaglia zufolge noch nicht in der Definition der organisierten Kriminalität enthalten – die Einheit gegen organisierte Kriminalität der mexikanischen Generalstaatsanwaltschaft ermittele daher nicht in diesem Bereich.

Im besten Fall würden die Fälle die Generalbundesanwaltschaft für Umweltschutz PROFEPA, übergeben; sie betreibt auch ein Programm zur Bekämpfung des illegalen Holzschlags , das Waldkontrollen auf lokaler Ebene stärken soll. Doch Buscaglia zufolge sei auch die PROFEPA in vielen Regionen bislang untätig geblieben. »Es gibt keine mexikanische Institution, die diese kriminellen Netzwerke angemessen untersucht«, sagt er. »Es herrscht völlige Straflosigkeit.«

Viele Orte in Guerrero haben Bürgerwehren gebildet – in Ayahualtempa patrouillieren sogar Kinder

Viele Orte in Guerrero haben Bürgerwehren gebildet – in Ayahualtempa patrouillieren sogar Kinder

Foto: Hector Adolfo Quintanar Perez / ZUMA Wire / IMAGO

Budgetkürzungen im vergangenen Jahr  haben das Umweltministerium und andere Kontrollbehörden weiter geschwächt – doch der Vertreter der Beobachtungsstelle »Observatorio por la Reconciliación, la Paz y el Desarrollo« glaubt, dass es vor allem am Willen fehlt einzuschreiten. »In Guerrero machen die Beamten entweder nichts, weil sie Angst haben, bedroht wurden oder einfach nicht wollen – oder sie machen sich als Komplizen sogar mitschuldig an all diesen Grausamkeiten, die in diesem Waldgebiet geschehen«, kritisiert er.

In der Kleinstadt Cherán in Michoacán  haben sich die Bewohner aller Lokalpolitiker und Polizisten entledigt und einen Bürgerrat sowie Selbstverteidigungsgruppen gebildet, die jetzt Straßen und Wälder kontrollieren. Auch in vielen anderen mexikanischen Regionen greifen Bürger mittlerweile zu den Waffen, um sich gegen kriminelle Organisationen zu verteidigen.

Wege aus der Armut: Die ehemaligen Mohn-Bauern aus Guerrero suchen nach alternativen Einkommensquellen

Wege aus der Armut: Die ehemaligen Mohn-Bauern aus Guerrero suchen nach alternativen Einkommensquellen

Foto: Dario Lopez-Mills / AP

Doch der Vertreter der Beobachtungsstelle in Guerrero ist skeptisch, Bürgerwehren als Lösung gegen die organisierte Kriminalität zu feiern: »Es mag vielleicht mal eine Bürgerwehr geben, die funktioniert, aber viele wurden von kriminellen Gruppen unterwandert«, sagt er.

Waffen allein könnten ihm zufolge die Probleme von Regionen wie Guerrero ohnehin nicht lösen. »Wenn es Bildung, Jobs, Gesundheitsversorgung und Absatzmärkte für andere Produkte geben würde, würde keiner hier der organisierten Kriminalität oder dem illegalen Holzschlag Raum geben oder für die Banden arbeiten«, glaubt er. Das Regierungsprogramm »Sembrando Vida«  (Leben säen) unterstütze etwa ehemalige Opiumbauern dabei, künftig auf Produkte wie Avocados oder Pfirsiche umzusteigen – allerdings komme die Hilfe bei vielen, die sie bräuchten, bisher nicht an.

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

Eine ausführliche FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.