100.000 Opfer eines schmutzigen Kriegs

Morde, Verschwundene, versagende Justiz: "Drogenkrieg" in Mexiko fordert immer mehr Menschenleben. Nun hat die UNO die Dimension des Schreckens offengelegt

"Du weißt nicht, was du tun sollst. Es ist ein Albtraum, der jeden Tag aufs Neue beginnt" – so beschreibt die Tochter einer verschwundenen Mutter den Alltag ihres Lebens in Mexiko. Die Minderjährige hat mit der vierköpfigen Delegation der UN gesprochen, die im November letzten Jahres Mexiko besucht hat.

Acht Jahre lang hat das "Committee on Enforced Disappearances", kurz CED, darum gebettelt, ins Land einreisen zu dürfen. Sie trafen sich mit Kollektiven, Angehörigen von Opfern, zivilgesellschaftlichen Organisationen. Kürzlich veröffentlichten sie den Bericht ihrer Reise, den wenig später ein Meilenstein der Gewalt und Brutalität überschattete: Am 16. Mai 2022 überschritt Mexiko – nach offiziellen Zahlen – die Grenze der 100.000 Verschwundenen. Es ist das erste Mal weltweit, dass das Gremium der Vereinten Nationen ein Land besucht.

Der Staat als Täter

Angeprangert wird eine "nahezu völlige Straffreiheit", wie der Bericht der CED konstatiert. Aufgelistet unter Bemerkung 43 fordert die Delegation dazu auf, "alle strukturellen Ursachen der Straflosigkeit zu beseitigen". Weiterhin sollen "alle Institutionen des Justizsystems den Praktiken ein Ende setzen, die den Zugang zur Justiz behindern und das Verschwindenlassen als Paradigma des perfekten Verbrechens verewigen."

Michelle Bachelet, Menschenrechtskommissarin der UN, nannte es in Genf eine "menschliche Tragödie enormen Ausmaßes". Die direkte und indirekte Beteiligung des Staates wird im Abschlussbericht noch recht diplomatisch kritisiert. Der Staat als Verursacher und Komplize der Gewalt brannte sich spätestens seit der Nacht des 26. September 2014 ins kollektive Gedächtnis der mexikanischen Gesellschaft.

Damals sorgte der emblematische Fall der 43 verschwundenen Studenten in Ayotzinapa für Entsetzen über Landesgrenzen hinweg. Erst vor wenigen Monaten erschien ein neuer Bericht der unabhängigen Expertenkommission GIEI – politischer Zündstoff. Denn dort wird ausgepackt.

Eine koordinierte Aktion von ganz oben wird kritisiert, um die sogenannte "historische Wahrheit" zu konstruieren, die die Staatsanwaltschaft damals erfand, um den Fall schnell schließen zu können. Fabrizierte Telefonanrufe, Folter gegenüber vermeintlichen Tätern, die organisierte Zusammenarbeit zwischen Marinesoldaten, Militär und Polizei, um Beweise zu manipulieren.

Ein Video einer Überwachungsdrohne, erstmals veröffentlicht, zeigt Marinesoldaten an der Mülldeponie Cocula, dem Schauplatz jener konstruierten "historischen Wahrheit". Es wird vermutet, dass dort die vermissten Studenten verbrannt worden. Die Marinesoldaten befanden sich dort Stunden, bevor die Staatsanwaltschaft ankam.

Das ist Realität in Mexiko. Die Beteiligung des Staates in Fällen des gewaltsamen Verschwindenlassens ist auch eine logische Schlussfolgerung: Die Komplexität dieses Verbrechens macht ein hohes Maß an Planung und Koordination erforderlich – wofür eine Einzelperson nicht die Mittel besäße.

Die Durchführung brauche "eine Infrastruktur zur Informationsbeschaffung, Verfolgung und Verhaftung oder Entführung der Opfer sowie Orte für das physische Verschwindenlassen", wie die Studie "Verschwindenlassen in Mexiko: Ein systematisch begangenes Verbrechen" bemerkt. Zudem benötigten Täter "eine technische Ausrüstung zur Überwachung der Opfer, Fahrzeuge und Räume für Entführungen oder Festnahmen sowie Mittäter und Mittäterinnen und Komplizen, um Spuren zu verwischen."

Die Vorstellung, die manche Menschen im Kopf haben, dass ein paar kokainbestäubte Halbstarke einer lokalen Bande alleine solch ein Verbrechen durchführen könnten, ist schlicht ein Irrglaube.

Schulterzucken des amtierenden Präsidenten

Staatschef Andrés Manuel López Obrador (Amlo), der die UN-Delegation ins Land holte, zeigte sich nach der Veröffentlichung des Berichts wenig amüsiert. Ohne Argumente, dafür aber mit Worthülsen aus einer Parallelrealität, giftete López Obrador gegen das Gremium: "Bei allem Respekt, aber sie sind nicht informiert. Sie haben nicht alle Informationen. Sie handeln nicht im Einklang mit der Wahrheit. Was können sie schon tun? Erfinden!"

Aus der Sicht des Präsidenten Amlo gibt es ohnehin keinen Handlungsbedarf. Nach dem tödlichsten Tag des Jahres – der 24. Mai schloss mit insgesamt 118 Exekutionen, fast fünf Morde pro Stunde – kommentierte der Staatschef lediglich, seine Regierung mache Fortschritte. "Wir werden unsere Strategie nicht ändern.

Im Gegenteil: Wer anerkennen sollte, dass er sich irrt, das sind unsere Widersacher", so der Präsident in einer seiner morgendlichen Pressekonferenzen. Wer damit genau gemeint ist, bleibt im Unklaren, wie so oft, wenn der Präsident vage Feindbilder bemüht, um das Versagen der Regierung zurechtzubiegen.

Denn die Zahlen sprechen eine andere Sprache. Die mexikanische Investigativplattform QuintoELab hat in ihrer Analyse "Fragmente des Verschwindens" der über 100.000 Verschwundenen die Zahlen nach Regierung aufgeschlüsselt.

Die zeigen klar: Seit der Ausrufung des sogenannten Drogenkriegs im Dezember 2006 durch Ex-Präsident Felipe Calderón und der Militarisierung des Landes ist die Gewalt auf ein unvorstellbares Niveau angewachsen.

Die Analyse stellt fest, dass durchschnittlich acht Personen während der Calderón-Zeit täglich verschwanden. In der darauffolgenden Regierung von Enrique Peña Nieto stieg diese Zahl auf 16. Unter der aktuellen Führung des Linkspopulisten AMLO schoss der Durchschnitt auf 25; und das nur zur Halbzeit seiner Amtsphase.

Das Nationale Register vermisster oder nicht gefundenen Personen (RNPDNO), dessen Einrichtung vom CED-Bericht gelobt wird, zählt die Fälle Verschwundener seit 1964. Was nicht weiter relevant ist – denn etwa 80 Prozent der Fälle können dem Zeitraum seit dem Drogenkrieg 2006 zugeordnet werden. Seitdem lässt sich ein Anstieg um 4.086 Prozent [sic!] verzeichnen.