Dieser Artikel ist Teil des ZEIT-ONLINE-Schwerpunktes " Wieder Krieg " aus unserem  Ressort X . Eine Auswahl weiterer  Schwerpunkte finden Sie hier .

Nicht alle Kriege beginnen mit Kriegserklärungen und enden mit einem Friedensvertrag. Ebenso wenig bedeutet "Krieg" nicht, dass jeden Tag gekämpft wird. Das Uppsala Conflict Data Program beispielsweise definiert Krieg als einen staatlich organisierten Konflikt, in dem mindestens tausend Menschen pro Jahr im Kampf getötet werden – Soldaten ebenso wie Zivilisten. Darunter fielen 2020 und 2021 mindestens 21 Länder: Afghanistan, Algerien, Äthiopien, Burkina Faso, Irak, Jemen, Kamerun, Kolumbien, Kongo, Libyen, Mali, Mexiko, Mosambik, Myanmar, Niger, Nigeria, Südsudan, Syrien, Tansania, Tschad und Tunesien.

Wir haben bei sieben Menschen aus einigen dieser Länder nachgefragt: Was bedeutet Krieg für Sie? Wie gestaltet sich Ihr Alltag zwischen den Nachrichten, die in die Außenwelt dringen?

Ezana Reye*, 40, Chirurg in Mekele, in der Region Tigray in Äthiopien

Wenn mich der Krieg eines gelehrt hat, dann das: Nichts als selbstverständlich hinzunehmen. Meine Frau und ich sind beide Ärzte, wir haben zwei Kinder. Ich habe akademische Karriere gemacht. Ich war medizinischer Leiter des Krankenhauses in Mekele.

Meine Frau ist zu Beginn des Konflikts für eine einjährige Fortbildung nach Kanada gezogen. Kurz darauf begann die Belagerung Tigrays durch die äthiopische Armee. Seitdem kann sie nicht mehr zurückkehren. Bis heute nicht. Und ich sitze hier fest mit meinen zwei Kindern und meiner Mutter. Wie in einem großen Gefängnis.  

Im Film sieht man oft nur bestimmte Aspekte des Krieges, Schlachtfelder etwa, dabei geht das Leben ja irgendwie weiter. Die Menschen gehen zur Arbeit, feiern Hochzeiten, tanzen in Nachtclubs. Es gibt auch gute Zeiten.
Sham Nasir*, 28, Content Creator im syrischen Damaskus

Der Staat hat mehr als einem Jahr keine Gehälter mehr gezahlt, die Regierung hat das Bankensystem abgeschaltet. Die Medikamentenschränke im Krankenhaus sind leer. Wir sind auf Hilfslieferungen angewiesen, aber weil die Regierung die Hilfskonvois blockiert, hungern viele Menschen.

Du kannst dir Hunger nicht vorstellen, bis zu dem Moment, in dem du ihn selbst erlebst. Wir haben immer mehr Kinder im Krankenhaus, die unterernährt sind. Auch Erwachsene. Sogar Mitarbeiter unserer eigenen Klinik. Immer öfter fallen Kollegen im OP in Ohnmacht, weil sie nichts gegessen haben. Wir hören von immer mehr Vätern in Tigray, die sich erhängen, weil sie ihren Kindern kein Essen auf den Tisch stellen können. Mich quält die Angst, dass es mir eines Tages genauso geht.

Ashraf S. Hijazi, 33, Geschäftsmann in Gaza in Palästina

Ich habe vier Kriege in Gaza miterlebt und für mich begann der wahre Krieg jedes Mal nach dem Ende des militärischen Teils, nach dem Tod und der Zerstörung. Dann kommen nämlich die psychologischen Folgen: Die Anspannung, die Depressionen, die Angst. Man könnte meinen, dass alles leichter würde, sobald die Angriffe abklingen. Aber ich habe eine regelrechte Kriegsphobie entwickelt. Ich habe ständig Angst vor dem nächsten Krieg.

Sham Nasir*, 28, Content Creator in Damaskus in Syrien

Die ersten Jahre waren die schwierigsten: Wenn man alle Träume verwerfen und Pläne wieder ändern muss. Wenn man zu jedem beliebigen Moment mit dem Tod konfrontiert werden kann. Wenn man sich für kaum etwas im Leben entscheiden kann, sondern das tun muss, was überhaupt noch möglich ist.

Als vor elf Jahren in Syrien die Revolution ausbrach, stand ich kurz vor meinem Schulabschluss. Ich war eine gute Schülerin und hätte gerne im Ausland studiert, konnte aber kein Visum beantragen, also blieb mir nur die Universität von Damaskus. Weil es in Damaskus aber gefährlich und teuer war, konnte ich kaum zur Uni, brauchte sieben Jahre für mein Studium, hatte schlechte Noten und musste am Ende den nächstbesten Job annehmen. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, wie mein Leben heute ohne den Krieg aussehen würde.

Auch meine Persönlichkeit hat sich verändert. Seit dem Krieg fällt es mir schwer, andere Menschen emotional an mich heranzulassen oder Freundschaften zu pflegen, weil ich befürchte, dass sie mich plötzlich verlassen könnten. Mich begleitet eine ständige Einsamkeit, ich leide unter Panikattacken und Depressionen.

Der Krieg hat mich aber auch widerstandsfähiger und unabhängiger gemacht. Ich begann, das Abnormale als normal zu akzeptieren.  Ich versuche, der ganzen Traurigkeit etwas abzugewinnen, sie zum Schreiben und Malen zu nutzen. Ich betrachte das Leben jetzt poetisch, melancholisch.

Im Film sieht man oft nur bestimmte Aspekte des Krieges, Schlachtfelder etwa. Dabei geht das Leben ja irgendwie weiter. Die Menschen gehen jeden Tag zur Arbeit, besuchen Schulen und Universitäten, feiern Hochzeiten, tanzen in Nachtclubs. Es gibt auch gute Zeiten, die einen kurz alles vergessen lassen. Manchmal vereinbaren wir auch, über nichts Deprimierendes zu sprechen. Doch der Krieg ist immer da, er ist nur manchmal leise.

Vidulfo Rosales, 45, Menschenrechtsanwalt in Tlapa in Mexiko

Sobald ich auf die Straße gehe, habe ich Angst. Früher war das nicht so. Aber inzwischen fürchte ich jedes Mal, dass man mir etwas antut. Natürlich versuche ich, mich dagegen zu wappnen, irgendwie müssen wir unseren Alltag ja bewältigen. Ich bitte also jemanden, mich zu begleiten. Oder ich sage mir: Ich gehe jetzt trotz der Angst los, aber ich gehe schnell.

Mein Haus ist durch Überwachungskameras geschützt, das Schloss an der Haustür ist besonders gesichert, und um das Grundstück verläuft ein starker Zaun. Ich wohne nur ein paar Häuserblocks von meiner Arbeitsstelle entfernt, aber ich gehe diese Strecke nie zu Fuß. Ich kann mir nicht vorstellen, mit meiner Frau einfach so ein Glas Wein in einer Bar zu trinken oder eine Disco zu besuchen. Wenn ich ausgehen würde, wäre ich für Angreifer ein leichtes Ziel.

Die Drogenkriminalität beherrscht die Straßen Mexikos. Organisierte Kriminalität, ein korrupter Staat, selbst erbaute Checkpoints wie hier in Guerrero. © Matt Black/​Magnum Photos/​Agentur Focus

Ich bin Anwalt beim Menschenrechtszentrum Tlachinollan in Tlapa, einer Stadt in Südmexiko, schon immer eine unsichere Gegend. Die Menschen protestieren, weil sie arm sind und ihre Rechte missachtet werden. Der Staat ist korrupt und reagiert mit Repression. Heute ist es die organisierte Kriminalität, die uns ihre Regeln aufzwingt, und oft arbeiten die lokalen Behörden mit den Drogenbanden zusammen. Die Kriminellen erpressen, rauben Autos, entführen Menschen und morden.

Tlachinollan begleitet die indigenen Völker der Region im Kampf um ihre Rechte. Oft werden die indigenen Aktivisten durch den Staat kriminalisiert. Oder sie werden umgebracht. Auch einer unserer früheren Kollegen wurde ermordet. Ich selbst bin vor ein paar Jahren auch ernsthaft bedroht worden. Damals entschloss ich mich, Mexiko vorübergehend zu verlassen. Jetzt bin ich wieder zurück. Wohin sollte ich auch gehen? Mein ganzes Leben ist hier. Warum sollte ich mich vertreiben lassen?

Mein letzter Ausweg ist: Ich werde mich der äthiopischen Armee anschließen, dann habe ich ein festes Einkommen und meine Frau muss nicht hungern.
Melkenew Eshetie, 27, Hotelmitarbeiter im äthiopischen Lalibela

Melkenew Eshetie, 27, Hotelmitarbeiter in Lalibela in Äthiopien

Es war nicht der Krieg, der unsere Stadt zerstört hat. Es waren seine Folgen. Vor dem Krieg haben fast alle Menschen in Lalibela in der Tourismusbranche gearbeitet. Heute kommen keine Touristen mehr. Es gibt keinen Strom mehr. Das Hotel, in dem ich gearbeitet habe, hat geschlossen. Aber ich habe eine alte Mutter, um die ich mich kümmern muss, und eine Tochter, die neun Monate alt ist.

Der Bürgerkrieg hat Äthiopiens Infrastruktur zerstört. Rebellen besetzen Flughäfen und Krankenhäuser. Menschen in Lalibela sind von der Außenwelt abgeschnitten. © Solan Kolli/​AFP/​Getty Images

Vorletzte Woche fuhr ich zehn Stunden mit dem Bus in die nächstgrößere Stadt Bahir Dar, um Arbeit zu finden. Zwei Wochen habe ich mich als Tagelöhner durchgeschlagen, aber nicht mehr als 100 Birr pro Tag verdient, das sind nicht einmal zwei Euro. Ich kam geknickt zurück. Meine Frau hat mir nicht geglaubt und dachte, ich hätte sie betrogen. Sie hat gedroht, mich zu verlassen – und ich kann sie verstehen. Was will man mit einem Mann, der nicht für seine Familie sorgen kann? 

Mein letzter Ausweg ist: Ich werde mich der äthiopischen Armee anschließen, dann habe ich ein festes Einkommen und meine Frau muss nicht hungern. Ich habe unglaubliche Angst davor, dass sie mich zwingen werden, auf meine Brüder zu schießen. Aber der einzige Weg, meine Familie zu retten, ist Teil des Krieges zu werden, wegen dem wir alles verloren haben.

Mohamed Diagayeté, 53, Religionswissenschaftler in Timbuktu in Mali

Manche Dinge wie den Krieg muss man erleben, sonst versteht man sie nicht. 2012, als bewaffnete Gruppen Timbuktu eingenommen hatten, verbrachte ich gerade drei Tage in der Stadt. Das Gefühl kann ich nicht in Worten beschreiben. Den Lärm. Die Angst im Bauch. Den Stress im Körper. Man wacht auf und denkt, die Nacht nicht mehr zu erleben, und nachts denkt man, den Tag nicht mehr zu sehen.

Seit zehn Jahren hält der Konflikt in Mali an. Noch immer sterben jeden Tag Menschen. Mehrere Friedensabkommen scheiterten. © Dominic Nahr/​MAPS

Außerhalb der Stadt ist Niemandsland. Ich traue mich seit zehn Jahren nicht in mein Dorf zurück, weil die Straßen dahin zu unsicher sind. Ich könnte entführt werden, ich könnte von Minen getötet oder erschossen werden. Noch immer sterben jeden Tag unschuldige Menschen.

Obwohl Timbuktu inzwischen ruhig ist, ist die Angst geblieben. Die innere Unruhe. Die Frage, was wohl morgen geschieht, ob wir weiterleben können oder abgeschlachtet werden. Es ist ja nur eine Scheinruhe.

Claudia Castillo, 48, Waldschützerin in Puerto Asís in Kolumbien

Die schlimmste Zeit des Bürgerkriegs ist für uns vorbei. Trotzdem habe ich erst jetzt begriffen, was es wirklich bedeutet, Angst zu haben. Ich habe vier Töchter. Vor ein paar Monaten war die älteste flussabwärts unterwegs, um im Zuge des Friedensprozesses mit Überlebenden des Kriegs zu sprechen und ihre Aussagen zu dokumentieren.

Der Ort, den sie besuchen sollte, schien sicher. Doch gerade als sie dort war, gab es in der Nähe ein Massaker. Ich konnte meine Tochter nicht erreichen; ihr Handy hatte keinen Empfang. Ich war in Panik. Erst am nächsten Tag, als ich sie lebendig vor mir stehen sah, konnte ich wieder atmen. Nie habe ich solche Angst gespürt.

Nachdem die kolumbianische Regierung 2016 ein Friedensabkommen mit der größten Guerilla, der Farc, geschlossen hatte, bildeten sich neue paramilitärische Gruppen. © Federico Rios

Ich bin Naturschützerin. Als ich ungefähr so alt war wie meine Tochter jetzt, war es kaum möglich, aus meiner Stadt Puerto Asís hinaus aufs Land zu fahren, und umgekehrt. Die Paramilitärs regierten die Stadt, die Guerilla beherrschte das Land. Damals wurden die Töchter unserer Nachbarn ermordet, ein Mann wurde vor meinen Augen erschossen, ich wurde einmal bei einem Arbeitseinsatz entführt. Fast einen ganzen Tag behielten sie uns gefesselt bei sich; wir hatten Glück, dass sie uns nicht zusätzlich misshandelten. In meiner Familie haben wir glücklicherweise keine Toten zu beklagen. Es gibt hier nicht viele, die das von sich sagen können.

Heute ist das Leben in Puerto Asís ruhiger geworden. Wenn wir Älteren von dem Terror von früher erzählen, nehmen uns die Jungen oft gar nicht ernst. Sie können sich nicht vorstellen, was damals passiert ist. Meine Tochter, die sich heute für den Friedensprozess engagiert, kam an jenem Tag sehr aufgewühlt von ihrem Arbeitseinsatz zurück. Sie erzählte mir von einer Frau, die einen Angriff mit Macheten nur überlebte, weil sie sich inmitten ihrer sterbenden Familienmitglieder totstellte. Sie lebt immer noch dort, wo das geschah. Heute ist sie in ihrem Dorf sogar eine Führungspersönlichkeit. Was für einen Mut das erfordert!

* Die Namen der Interviewpartnerinnen und Interviewpartner wurden zu ihrem Schutz geändert. Der Redaktion sind ihre wahren Namen bekannt.
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