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Tödlichste Region der Welt: Warum in Lateinamerika die Gewalt regiert

Kein Ort außerhalb von Kriegsgebieten ist so tödlich wie Lateinamerika. Doch warum ist das so? Ein Sammelband geht dieser Frage nach.
Von Tjerk Brühwiller
Polizist in einem mexikanischen Drogenlabor: Drogenkartelle sind nicht das einzige Problem Lateinamerikas, sondern auch aufbegehrende Militärs, Paramilitärs und korrupte Behörden. REUTERS

Keine Region außerhalb von Kriegsgebieten ist so tödlich wie Lateinamerika. Allein in Brasilien, Mexiko, Kolumbien und Venezuela wurden 2021 mehr als 100 000 Menschen gewaltsam getötet. Hinzu kommen Zehntausende Verschwundene, eine erschreckende Zahl von Frauenmorden, Erpressungen und Entführungen. Neben dieser spektakulären Sichtbarkeit der Gewalt, den unzähligen bildhaften Berichten in den Medien, den Statistiken und Infografiken und den fast romantisierten Erzählungen über Drogenbosse in Fernsehserien steht die Unmöglichkeit, diesen brutalen Vorgängen einen Sinn zuzuschreiben.

In Lateinamerika hat eine neue Form von Gewalt überhandgenommen, die sich von der Gewalt unterscheidet, die noch vor wenigen Jahrzehnten vorherrschte, als die meisten Länder der Region von Militärdiktaturen regiert wurden. Dies ist eine der Hauptthesen der Herausgeber Timo Dorsch, Jana Flörchinger und Börries Nehe in ihrem Sammelband. Diese neue Gewalt sei allgegenwärtig, schreiben sie. Sie zeigt sich in den verschiedensten Winkeln der Region, in der Morde, Entführungen und Erpressungen zur Normalität geworden sind.

Eine oberflächliche Betrachtung, die routinemäßige Berichterstattung sowie die weitgehende Straflosigkeit tragen zu dieser Normalisierung der Gewalt bei. Und dennoch sei diese neue Gewalt nur schwer zu greifen. Denn sie scheine chaotisch, weniger zielgerichtet und ideologisch als die Gewalt unter den Militärdiktaturen. „Die Gewaltakteure der Gegenwart hingegen sind verfangen in einer Dynamik, die für sie – und uns – zunehmend unbegreiflich ist. Doch die für sich genommen unerklärlichen Gesten, Einzelhandlungen und Motivationen produzieren in ihrer Gesamtheit, in ihrer chaotischen Verstricktheit, ein Gefüge von Macht und Herrschaft, dessen innere Logik verständlich und lesbar gemacht werden kann.“

Weitestgehend ein Problem des globalen Südens

Ziel des Sammelbandes ist es, diese Logik zu entschlüsseln und aufzuzeigen. Das Interesse dafür entspringe nicht aus einem wissenschaftlichen Interesse, sondern aus einer politischen Notwendigkeit heraus, erläutern die Herausgeber. Zwar scheine die Gewalt und das „Regiert-werden-durch-Gewalt“ weitestgehend ein Problem des globalen Südens zu sein. Doch die Dynamik der Gewalt weise weit über ihre scheinbar klar umgrenzte räumliche Zuordnung hinaus. „Ihre lokalen Manifestationen müssen in der Logik einer weltweiten Produktion der Gewalt – einer globalen ‚Geographie der Gewalt‘ – gedacht werden, von der Europa gleichermaßen Teil ist, in der wir uns verorten und gegen die wir uns positionieren müssen.“ Doch mit welchen Kategorien könne eine Gewalt erfasst werden, die sich doch in ihrer unfassbaren Brutalität, ihrer scheinbaren Richtungslosigkeit und Unvorhersehbarkeit jeder Kategorisierung entziehe? Wie könnten ihre lokalen und spezifischen Ausprägungen ebenso gedacht werden wie ihre globale Verstricktheit, ihre Wiederkehr, ihr gleichzeitiges Aufflammen an ganz unterschiedlichen Orten?

Um sich dem Wesen der neuen Gewalt in Lateinamerika anzunähern und ihre unterschiedlichen Ausprägungen zu beleuchten, haben die Herausgeber eine ganze Reihe von Stimmen und Perspektiven vereint. Der Sammelband umfasst Beiträge von insgesamt 21 Wissenschaftlern, Journalisten und Aktivisten aus verschiedenen lateinamerikanischen und europäischen Ländern. Die Artikel basieren auf Beiträgen und Diskussionen einer 2019 von der Goethe-Universität Frankfurt und der Rosa-Luxemburg-Stiftung unterstützten Konferenz. Die Autoren haben ihre damals präsentierten Ansätze in einigem zeitlichen Abstand wieder aufgenommen und weiterentwickelt. Das Buch ist in vier Rubriken unterteilt – Erzählen, Körper, Gemeinschaft, Erinnerung –, die eher symbolisch gedacht sind und aufzeigen, wie verflochten das Thema und in der Folge auch die Beiträge der Autoren sind, von denen viele auch an anderer Stelle stehen könnten. Gleichzeitig ist diese Aufgliederung auch ein Indiz dafür, dass dieser Sammelband sich an eine sehr komplexe und bisher weitgehend unbearbeitete Frage heranwagt.

Bereits im ersten Kapitel berichtet der spanische Arzt und Psychologe Carlos Martín Beristain von seinen langjährigen Erfahrungen in der Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen in Konfliktgebieten in Lateinamerika und Afrika. Er stellt fest, dass die Gewalt schon früher, als sie noch von klar erkennbaren „Konfliktparteien“ ausging, neben dem eigentlichen Konflikt zwei wesentliche Dimensionen enthielt: die Kontrolle von Territorien (und ihrer Ressourcen) und die Kontrolle der Bevölkerung. Anschauungsbeispiele finden sich überall, von den von Drogenkartellen kontrollierten Regionen Mexikos bis in den hintersten Winkel Amazoniens, wo illegale Goldgräber und mit ihnen organisierte Verbrecherbanden sich festgesetzt haben. Diese Kontrolle geht aber über Territorien hinaus, wie die brasilianische An­thropologin Rita Laura Segato beschreibt, indem sie den Körper, insbesondere jenen der Frauen, als kleinste Einheit des von der Gewalt betroffenen „Kriegsterritoriums“ beschreibt.

Staat und Parallelstaat

Die heutige Gewalt in Lateinamerika kann auch als eine Folge der Entwicklung dieser Weltregion gesehen werden, in der sich bis heute koloniale Strukturen und Muster gehalten haben. Dazu gehört ein fortwährender Prozess der Eroberung, der Unterwerfung und der Ausbeutung der Natur und auch des Menschen. Aber auch die Herausbildung von para-legalen Strukturen, was Segato den „zweiten Staat“ nennt, gehen bis in die Kolonialzeit zurück. Heute haben Kartelle, Paramilitärs, Banden, korrupte Behörden, Politiker und auch Unternehmer sowie deren illegalen Zweige diesen „Parallelstaat“ ausgefüllt. Sie folgen laut den Autoren und Herausgebern einer „Funktionslogik eines immer brutaler agierenden, immer autoritärer gerierenden weltweiten Kapitalismus“, der auf der rücksichtslosen Ausbeutung von Mensch und Natur basiere. Das bedeute nicht, dass jeder Gewaltmanifestation eine ökonomische Motivation zugrunde liege.

Wer eine nicht zu knappe Portion Kapitalismuskritik erträgt und sich für Lateinamerika interessiert, wird am Sammelband Gefallen finden. Einige der Beiträge sind anhand von konkreten Fällen und Beispielen sehr realitätsnah und führen den Leser direkt an verschiedene Schauplätze und Situationen der Gewalt heran. Das schafft nicht nur einen tiefen Einblick und damit Verständnis, sondern bietet an vielen Stellen – so bedrückend das Thema auch sein mag – auch einen gewissen Lesegenuss. Der Sammelband überzeugt durch seinen sehr vielseitigen Blick auf ein unglaublich komplexes Problem, das angesichts seiner Ausmaße und Folgen für eine ganze Weltregion viel mehr Aufmerksamkeit verdient.

Timo Dorsch, Jana Flörchinger, Börries Nehe (Hrsg.): Geographie der Gewalt. Macht und Gegenmacht in Lateinamerika.Mandelbaum Verlag, Wien 2022. 284 S., 23,– €.

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