Doppelherrschaft in Mexiko

In Oaxaca stehen sich Regierung und aufständische Selbstverwaltung gegenüber

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In der südmexikanischen Stadt Oaxaca kam es am Ende dieser Woche zu den schwersten Auseinandersetzungen seit Beginn der Krise vor fünf Monaten. Rund eine Woche, nachdem die Bundesregierung rund 5.000 Polizisten in die Krisenregion entsandt hat, lieferten sich aufständische Bewohner und Uniformierte schwere Kämpfe um die Kontrolle der Universität. Nach mehrstündigen Straßenschlachten wurden die Bundestruppen zurückgedrängt. In Mexiko-Stadt wird nun erstmals – wenn auch spät – eine friedliche Lösung dieses sozialen Konfliktes erwogen.

Der Angriff auf die Universität kam am Donnerstag in den Morgenstunden. Ein Großaufgebot der Polizei versuchte zunächst, eine Barrikade in der Nähe des Universitätscampus zu räumen. Die Aktivisten der „Volksversammlung Oaxacas“ (APPO), von der die Stadt seit mehreren Monaten selbst verwaltet wird, riefen die Bevölkerung daraufhin zur Unterstützung – mit Erfolg: Tausende Menschen strömten herbei. Während die Polizisten, technisch überlegen, Tränengas und Wasserwerfer einsetzten, wehrten sich die Aufständischen mit Steinen, Stöcken und Molotow-Cocktails. Nach übereinstimmenden Berichten mexikanischer Zeitungen kamen auch Polizeihubschrauber zum Einsatz, von denen aus die Protestierenden mit Tränengasgranaten beschossen worden. Mit den Helikoptern sollen festgenommene Demonstranten aus der Stadt geflogen worden sein. Ihr weiterer Verbleib konnte bislang nicht geklärt werden. Die Polizei gibt keine Auskunft und von der Regierung in Mexiko-Stadt ist auch keine Aufklärung zu erwarten: Sie hatte bis Mitte der Woche noch bekräftigt, dass es bei dem Einmarsch der Polizeitruppen keine Todesopfer gegeben hat.

Der Konflikt in Oaxaca hatte im Mai mit dem Streik von 70.000 Lehren begonnen. Erst als Gouverneur Ulises Ruiz die Polizei gegen die Lehrer schickte, eskalierte die Lage (Spannung steigt vor den mexikanischen Wahlen). Ruiz und seine Sicherheitskräfte mussten Oaxaca verlassen, das seither von der APPO verwaltet wurde. Am vergangenen Wochenende konnte der Politiker der langjährigen Staatspartei, der „Partei der Institutionellen Revolution“ (PRI), von Bundestruppen beschützt in die Stadt zurückkehren. Seither stehen sich beide Seiten in einer Pattsituation gegenüber (Belagerte Kommune von Oaxaca): Die Polizisten schirmen Regierungsgebäude ab und halten die Innenstadt; die APPO kontrolliert die Außenbezirke und das Universitätsgelände. Sie fordern von diesen Enklaven aus nach wie vor den Rücktritt des Gouverneurs, dem Korruption und zahlreiche Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden.

Medien im Visier der Polizei

Ziel des Polizeiangriffs am Donnerstag war offensichtlich die Radiostation der Universität. Radio Universitario (Real Player) dient seit mehreren Monaten als Hauptmedium der städtischen Selbstverwaltung; der Sender ist das organisatorische Rückgrad der Bewegung: Weil Internet in den ländlichen Gebieten des verarmten Bundesstaates so gut wie nicht vorhanden ist und auch Zeitungen angesichts des schlechten Bildungsstandes der ländlichen Bevölkerung keine große Verbreitung haben, bleibt nur das Radio als Kommunikationsmedium. Die Bewegung hatte nach der Flucht von Gouverneur Ruiz daher mehrere Radio- und einen Fernsehsender übernommen.

Von Beginn der Intervention am Freitag (Blutige Lösung in Mexiko) vor einer Woche an standen diese Medien im Visier der Polizei. Das Signal der Radiostation „La Ley“ wurde vermutlich gestört, um den Rückzug der Aktivisten aus den Sendeanlagen zu erreichen. Mitte der Woche wurde dann der lokale Fernsehsender „Canal 9“ von der Polizei im Sturm eingenommen und die Sendeanlagen zerstört. Das alternative Nachrichtenportal Indymedia veröffentlichte daraufhin Bilder, auf denen Einschusslöcher im zentralen Kontrollpult der Station zu sehen sind. Das Universitätsradio ist seither das letzte Medium, auf das die APPO ihre Mobilisierungsfähigkeit stützt.

Kein Ende der Doppelherrschaft abzusehen

Nachdem der Angriff auf die Radiostation abgewehrt wurde, reagierte die Bundesregierung – von dem Scheitern offensichtlich überrascht – mit Beschwichtigungen. Eduardo Medina Mora, Minister für Öffentliche Ordnung, erklärte vor Journalisten in Mexiko-Stadt, die Polizisten seien „nicht zum Kämpfen“ nach Oaxaca entsandt worden, sondern mit dem Ziel, die „Ordnung“ wieder herzustellen, um „die Voraussetzungen für eine Schlichtung“ des Konfliktes zu schaffen. Allerdings schickte Medina Mora eine Warnung gleich hinterher: Die Polizeipräsenz könnte jederzeit qualitativ und quantitativ aufgestockt werden.

Die APPO reagierte ihrerseits mit einem Aufruf an die Bevölkerung, neue Barrikaden in der Stadt zu errichten und die Verteidigung der Universität zu verstärken. Nach Angaben der französischen Nachrichtenagentur AFP wollen die Aktivisten der Volksversammlung den Polizeitruppen die Möglichkeit lassen, zum Flughafen abzuziehen, um nicht die Mobilisierung der Armee zu provozieren. Die Regierung in Mexiko-Stadt habe zwar den Rückzug der Polizei angeordnet, aber die Bevölkerung habe sie dazu gezwungen, wird ein Sprecher der Protestbewegung, Florentino López, zitiert. Die Doppelherrschaft von Gouverneur Ruiz und der Selbstverwaltung der APPO dauert damit auch eine Woche nach der Invasion an.

Nach wie vor bestehen die Rebellen auf eine Reihe sozialer Forderungen, mit denen der Aufstand begonnen hatte, und auf den Rücktritt des Gouverneurs. Ihre Front besteht dabei keineswegs nur aus „Linken, Anarchisten und indianischen Aktivisten“, wie mitunter berichtet wurde. Nach dem Konflikt um die Universität stellte sich auch der Direktor der staatlichen Universität Oaxacas, Fransisco Martínez, hinter die Aufständischen und forderte den Rückzug der Polizei. Nach mexikanischem Recht darf die Polizei nur dann auf das Universitätsgelände, wenn der Rektor seine Zustimmung dazu gegeben hat.

Langfristige politische Auswirkungen

Mitte der Woche hatte der Vize-Regierungsminister Arturo Chávez erstmals anerkannt, dass die Kontrolle über Oaxaca auch mit der Intervention der annähernd 5.000 Polizisten nicht wieder hergestellt werden konnte. Regierungsminister Carlos Abascal gestand wenig später ein, dass der Konflikt in seiner politischen und wirtschaftlichen Dimension bis zum Ende der Legislatur des amtierenden Präsidenten Vicente Fox wohl nicht gelöst werden wird. Dies hatte der Staatschef noch vor einem Monat versprochen. Damit ist klar, dass Fox´ Parteifreund und künftige Präsident Felipe Calderón das Problem erben wird.

Der Fall Oaxaca wirft damit auch die Frage nach der demokratischen Transition Mexikos neu auf. Sechs Jahre nach dem Ende der 71jährigen PRI-Herrschaft wurde durch ihr Bündnis mit der Bundesregierung – und damit der rechtsklerikalen „Partei der Nationalen Aktion“ (PAN) – deutlich, dass der formelle Abtritt der PRI mitnichten einen demokratischen Sieg bedeutet. In der Zeit seines mehrmonatigen Exils konnte sich der PRI-Gouverneur Ruiz der Unterstützung der PAN-Regierung sicher sein. Auf das konservative Bündnis wies auch die linksliberale mexikanische Tageszeitung La Jornada hin. Die Bundesregierung habe den Konflikt in Oaxaca derart zuspitzen lassen, „um sich die PRI als Alliierten zu erhalten“.

Von „desgobierno“ – von einer Missregierung – ist dieser Tage nicht nur in oppositionellen Kreisen Mexikos die Rede. Denn mit dem Abtritt der ersten postautoritären Regierung Mexikos wird in dem Konflikt um Oaxaca deutlich, dass die alten korrupten Strukturen weiter Bestand haben. Sergio Pitol, Träger des renommierten Cervantes-Literaturpreises, brachte das Problem auf den Punkt. In seiner Heimat, dem Bundesstaat Veracruz, entvölkerten sich ganze Landstriche. In den Dörfern blieben nur noch die Alten und die Kinder – „alle anderen sind in die USA gegangen“, klagte:.www.jornada.unam.mx/2006/11/03/014n1pol.php der Schriftsteller gegenüber „La Jornada“. Diese Situation sei binnen sechs Jahren entstanden. Weil mit dem Bevölkerungsschwund auch der Staat geschwächt werde, breite sich die Kriminalität aus:

Heute beherrscht der Drogenhandel Veracruz, und er wirkt bis tief in die politische und wirtschaftliche Sphäre hinein.

Sergio Pitol

Pitol, der die Dominanz krimineller Strukturen indirekt auch für die Krise in Oaxaca verantwortlich macht, ist sich sicher, dass man den dortigen Konflikt in den ersten Wochen noch hätte bewältigen können. Präsident Fox und Regierungsminister Abascal hätten die Vorkommnisse aber bewusst übergangen. Die PRI sollte offenbar so lange bei Laune gehalten werden, bis Felipe Calderón die Präsidentschaft übernommen hat, vermutet der Schriftsteller, der als Kulturattaché in zahlreichen Botschaften Mexikos tätig war.

Negative Folgen des Freihandels

Wie Pitol urteilen auch andere Intellektuelle Mexikos wie der Maler Fransisco Toledo oder die Schriftsteller Fernando del Paso und Carlos Montemayor. „Die Krise in Oaxaca“, sagt Montemayor, „zeigt in seltener Deutlichkeit das immer absurdere und korruptere Verhalten der politischen Elite dieses Landes.“ PAN und PRI hätten in den vergangenen Wochen auf zynische Art bewiesen, dass sie der Zerfall der sozialen Netzwerke und das Blutvergießen nicht interessiere, sofern ihre Interessen gewahrt blieben.

Diese Elite hält an dem Gouverneur Ulises Ruiz fest, weil, wenn er vor Dezember zurücktritt, nach geltendem Recht ein Übergangsgouverneur benannt werden müsste, dem die Ausrichtung einer neuen Wahl zukäme und den sie nicht unter ihrer Kontrolle hätten.

Schriftsteller Carlos Montemayor

Der Fall Oaxaca offenbart neben der Kontinuität des Staatsautoritarismus Mexikos auch die negativen Folgen der neoliberalen Bündnisse, in die das Land seit 1994 gedrängt wurde. In erster Konsequenz hat der mexikanische Staat seit Eintritt in die Nordamerikanische Freihandelszone (NAFTA) 1994 objektiv weniger Möglichkeiten, eine effektive Sozialpolitik umzusetzen – sofern seine Funktionsträger dies überhaupt noch anstreben.

Wenn Pitol auf die Entvölkerung der ländlichen Gebiete verweist, macht dies einen zweiten Trend der vergangenen Jahre deutlich: Die Beseitigung der Zollschranken zu den USA hat der mexikanischen Landwirtschaft den Todesstoß versetzt. Die stetige Zunahme der Emigration in die USA ist die logische Folge. Der herrschenden PRI-Führung im Süden des Landes gereicht das zum Vorteil: Durch die massenhafte Auswanderung der einer Perspektive beraubten Bevölkerung werden nicht nur soziale Spannungen abgebaut, die entstehenden – geografischen und politischen – Freiräume sind in den vergangenen Jahren von der Drogenmafia besetzt worden, die, Presseenthüllungen habe das wiederholt belegt, in einem festen Bündnis mit der politischen Elite stehen.

Mexiko ist mit seinem frühen Eintritt in den neoliberalen Freihandel damit der beste Beleg für die negativen Folgen dieser wirtschaftspolitischen Abkommen für die Vertragspartner der USA. Besonders für Südamerika, wo Washington entsprechende bilaterale Bündnisse ausbauen will, ist diese Lehre wichtig. Das Argument, dass durch Freihandel auch die Demokratie gefördert werde, glaubt dort aber ohnehin niemand mehr.