Emigranten sind Mexikos wichtigster Exportartikel

Zwischen den Jahren 2000 und 2005 verließen mehr als zwei Millionen Mexikaner ihr Land, um in den USA ein besseres Leben zu suchen, wo derzeit eine hitzige Debatte über ein neues Einwanderungsgesetz stattfindet

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Laut den Angaben der Weltbank-Studie World Development Indicators 2007 hat sich Mexiko in den letzten Jahren zum weltweit größten Exporteur menschlicher Arbeitskraft entwickelt und in diesem Punkt selbst klassischen Auswanderernationen wie China, Indien und Pakistan den Rang abgelaufen. Waren es im Zeitraum von 1990-1995 noch 1.8 Millionen Menschen, die dem mittelamerikanischen Land den Rücken kehrten, hat sich diese Zahl eine Dekade später bereits um 200.000 erhöht.

Der Exodus mexikanischer Arbeitssuchender ist keine neue Erscheinung, findet jedoch heute unter umgekehrten Vorzeichen statt. Im Jahr 1942 war es die US-Regierung, die bedingt durch den Arbeitskräftemangel während des Zweiten Weltkriegs, das Gastarbeiterprogramm Bracero ins Leben rief und pro Jahr etwa 200.000 Mexikanern eine temporäre Beschäftigung in den Vereinigten Staaten ermöglichte. Auf Betreiben der US-Agrarlobby wurde das Programm bis zum Jahr 1964 weitergeführt und dann ersatzlos eingestellt - die Folge war der Beginn der illegalen Einwanderung von arbeitssuchenden Mexikanern in die USA.

Mitte der sechziger Jahre entschlossen sich jedoch nur wenige Mexikaner zum - relativ gefahrlosen - Grenzübertritt ohne gültige Papiere. Mexiko verzeichnete ein solides Wirtschaftswachstum und begann 1965 mit der Industrialisierung seiner nördlichen Grenzregion, in der zahlreiche Maquiladoras angesiedelt wurden, um für die in den USA nicht mehr erwünschten "Bracero"-Gastarbeiter Arbeitsmöglichkeiten zu schaffen. Ab den siebziger Jahren stieg die Zahl der illegalen Einwanderer dann stetig an und das Pew Hispanic Center schätzt, dass von den heute 12 Millionen Lateinamerikanern, die ohne behördliche Erlaubnis in den Vereinigten Staaten leben, rund die Hälfte die mexikanische Staatsbürgerschaft besitzt.

"Al Norte" - Nach Norden

Die Mehrzahl der Migranten, die Mexiko verlassen, stammen aus den kleinbäuerlich geprägten Bundesstaaten Chiapas, Oaxaca und Guerrero, die im Süden des Landes das sogenannte "Dreieck der Armut" bilden. Es sind vorwiegend Männer zwischen 15 und 40 Jahren, die in der Regel ihre Familien zurücklassen, um sich auf eigene Faust oder mit Hilfe von bezahlten Fluchthelfern in die Vereinigten Staaten durchzuschlagen. Die Hauptgründe für die Migration sind die fehlenden ökonomischen Perspektiven in Mexiko selbst, sowie das kollektive Bild der USA als einer Nation des Reichtums und des Überflusses. Genährt wird diese Vorstellung vor allem durch die "Remesas", den Überweisungen der Exil-Mexikaner in ihr Heimatland. Im letzten Jahr betrug deren Höhe nach Angaben der Weltbank 23 Milliarden US-Dollar. Damit avancierten sie zu Mexikos zweitwichtigster Devisenquelle nach den Einnahmen aus dem Erdölverkauf.

Einen deutlichen Anstieg der Migration verursachten 1989 der weltweite Einbruch des Kaffeepreises und ab 1994 die Auswirkungen des NAFTA-Freihandelsabkommens zwischen Mexiko, den Vereinigten Staaten und Kanada, als hochsubventionierte Agrarexporte aus dem Norden des Kontinents die Preise für in Mexiko erzeugte landwirtschaftliche Produkte ins Bodenlose fallen ließen. Alleine zwischen den Jahren 2000 und 2005 verlor Mexiko 900.000 Arbeitsplätze in der Landwirtschaft und 700.000 im industriellen Sektor.

Eine Umkehr diese Trends in naher Zukunft ist wenig wahrscheinlich. Mexikos Wirtschaftswachstum hält mit der hohen Geburtenrate nicht Schritt und die jüngsten Preissteigerungen für Grundnahrungsmittel - vor allem für Importmais aus den USA - verstärken bei den davon besonders betroffenen 19 Millionen extrem armen Mexikanern noch deren Perspektivlosigkeit. Diese Bevölkerungsgruppe verfügt nach Angaben des Wirtschaftsforschungsinstituts (IIE) der Autonomen Universität Mexikos nicht einmal über den staatlich festgelegten Mindestlohn von 50 Pesos pro Tag (ca. 3,5 Euro) und sieht in der illegalen Emigration in die Vereinigten Staaten oft den einzigen Ausweg aus ihrer verzweifelten Lebenssituation.

Der Weg in das nördliche Nachbarland wird jedoch immer gefährlicher. 426 Mexikaner starben alleine im vergangenen Jahr nach Angaben der Organisation "Coalición Pro Defensa del Migrante" beim Versuch illegal die Grenze zwischen Mexiko und den USA zu überwinden, eine Folge der immer risikoreicheren Routen, auf die die Einwanderer wegen der verschärften Kontrollen ausweichen müssen.

Angst vor den Hispanics

Nördlich des Rio Bravo ist die illegale Einwanderung das beherrschende innenpolitische Thema, und die Frage, wie auf den Migrationsdruck zu reagieren sei, hat die Nation tief gespalten. Bereits im Jahr 2003 kündigte der republikanische Präsident George W. Bush an, die Einwanderungsgesetzgebung grundlegend zu reformieren und angelehnt an das Programm "Bracero" aus den vierziger Jahren zeitlich befristete Arbeitsverträge für Migranten zu ermöglichen.

Bei der Umsetzung dieser Pläne scheiterte er jedoch an den Hardlinern seiner eigenen Partei. Stattdessen beschloss im Dezember 2005 das von den Republikanern dominierte Repräsentantenhaus eine Gesetzesvorlage, in der die Kriminalisierung aller illegalen Migranten gefordert und die Unterstützung dieser Personengruppe zu einem Kapitalverbrechen erklärt wurde. Der US-Senat verweigerte diesen Plänen seine Zustimmung und verabschiedete im Mai 2006 einen eigenen Gesetzentwurf,der die Idee eines Gastarbeiterprogramms wieder aufgriff und neben der schärferen Bewachung der Südgrenze eine erleichterte Einbürgerung für illegale Immigranten vorsah, die sich bereits länger als fünf Jahre in den USA aufhielten - vorausgesetzt sie bezahlten ausstehende Steuern und ein Bußgeld (Ein schlafender Riese bewegt sich).

Präsident Bush unterstützte zwar diesen Vorschlag, aber wieder waren es Mitglieder seiner eigenen Partei, denen die "Amnestie"-Pläne zu weit gingen und den Entwurf ablehnten. Vor knapp drei Monaten kam wieder Bewegung in die festgefahrenen Verhandlungen, als der inzwischen mehrheitlich demokratisch regierte Senat einen neuen Vorstoß in der Migrationsdebatte unternahm. Diesmal setzten die Senatoren auf eine Zwei-Parteienlösung und Ende letzter Woche wurden die ersten Einzelheiten des ausgehandelten Kompromisspapiers in der Öffentlichkeit bekannt.

Punkte sammeln für die Greencard

Das neue Einwanderungsrecht der Vereinigten Staaten soll auf drei Eckpunkten basieren. Zunächst ist ein weiterer Ausbau der Grenze zu Mexiko geplant. Die US Border Patrol soll auf bis zu 28.000 Personen aufgestockt,die Grenzanlagen auf weiteren 370 Meilen ausgebaut und auf 200 Meilen Länge mit Fahrzeugsperren versehen werden.

Über ein Gastarbeiterprogramm sollen in jedem Jahr 400.000 temporäre Visa an Antragsteller außerhalb der USA vergeben werden. Erlaubt sind drei Aufenthalte von jeweils zwei Jahren Dauer, zwischen den Blöcken müssen die Teilnehmer des Programms für mindestens ein Jahr wieder ausreisen. Eine Verlängerung der Visa ist nicht möglich, der spätere Erweb der us-amerikanischen Staatsbürgerschaft nahezu ausgeschlossen.

Für die ungefähr 12 Millionen Menschen, die sich bereits ohne gültige Papiere in den USA aufhalten, wird eine - langwierige und teure - Möglichkeit geschaffen, US-Bürger zu werden. Die Antragsteller haben ein Jahr Zeit sich bei den Behörden zu registrieren und dürfen dann zunächst legal in den Vereinigten Staaten arbeiten. In einem zweiten Schritt müssen sie ihren Antrag für die neuen "Z-Visa" bestätigen und eine Strafe und Gebühren in Höhe von ca. 1.500 US-Dollar pro Person bezahlen. Nach acht Jahren, der Zahlung von weiteren 4.000 US-Dollar und dem Nachweis englischer Sprachkenntnisse müssen die Bewerber in ihre Heimatländer ausreisen, um dort die endgültigen Anträge für ihre Einbürgerung einzureichen. Während der Bearbeitung ihres Gesuchs dürfen sie in die USA zurückkehren. Der Familiennachzug wird erschwert und soll langfristig - wie das gesamte Einwanderungsrecht - auf einem Punktesystem basieren, das Schulabschlüsse und Berufsausbildungen stärker honoriert als verwandschaftliche Bindungen.

Bevor die oben genannten Programme durchgeführt werden können, müssen von Regierungsseite zunächst gewisse Bedingungen erfüllt werden. Neben dem Grenzausbau sollen die aufgelaufenen Einbürgerungsanträge der letzten Jahre komplett abgearbeitet und durch das US-Heimatschutzministerium (DHS) ein Kontrollsystem aufgebaut werden, mit dem der legale Staus jeden Job-Bewerbers überprüft werden kann. Viele Kritiker bezweifeln, ob das für seine ausufernde Bürokratie bekannte DHS überhaupt in der Lage sein wird, die in der Gesetzesvorlage geforderte Infrastruktur rechtzeitig bereitzustellen, und prophezeien ein Scheitern des gesamten Vorhabens.

Im Washingtoner Senat gehen die Verhandlungen derweil weiter. Erst wenn die Kammer eine verbindliche Fassung ihres Reformvorschlags verabschiedet hat, wird dieser an das Repräsentantenhaus weitergeleitet und nur mit dessen Zustimmung kann der Entwurf in ein gültiges Gesetz umgewandelt werden.

Sträflinge statt Migranten

Die aufgeheizte Mediendebatte der letzten Monate und spektakuläre Razzien durch Mitarbeiter des DHS haben viele Migranten zutiefst verunsichert und in vielen Einwandererfamilien ein Klima der Angst erzeugt.

Im US-Bundesstaat Colorado droht sich eine Gesetzesinitiative zur Eindämmung der illegalen Beschäftigung nach einem Bericht der New York Times bereits negativ auf die dort ansässige Agrarindustrie auszuwirken. Weil viele Farmer aufgrund der strengeren Kontrollen durch die lokalen Behörden ein massives Ausbleiben der vorwiegend mexikanischen Erntehelfer befürchten, hat das "Department of Corrections" von Colorado vorgeschlagen, die Migranten durch Sträflinge zu ersetzen, denen pro Tag ein Lohn von 60 US-Cent bezahlt werden soll (Billigarbeit: Strafgefangene statt Immigranten). Mark Krikorian, der Direktor des Washingtoner Center of Immigration Studies, kommentiert das Vorhaben so: "Wenn sie keine Sklaven aus Mexiko bekommen können, dann wollen sie eben welche aus dem Gefängnis."