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Buchbesprechung: Wir sind Autonome, aber wir sind mehr als das...

Wie ein Prof aus Mexiko uns aus dem Herzen spricht

News vom 13.04.2004

 

Eine autonome Buchbesprechung von John Holloways Buch "Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen"

Vor einem halben Jahr hatten wir (eine Handvoll Linksradikaler aus verschiedenen autonomen Gruppen) angefangen Holloway zu lesen. Nun haben wir das, was wir daran wichtig und begeisternd fanden, für uns und euch aufgeschrieben. Vielleicht bekommt ihr dadurch Lust, es auch zu lesen. Wir jedenfalls wurden an vielen Stellen des Buches angeregt, über unser politisches Selbstverständnis, unsere Praxis, deren Alltagsbezug, Macht und Gegenmacht und vieles andere zu diskutieren. John Holloway ist zwar Prof (in Mexiko), hat aber einen klaren Bezug auf soziale Basisbewegungen − besonders die Zapatistas − und emanzipatorische Konzepte, so dass es eigentlich ein Buch über uns ist, unsere Ideen, unsere Politik. Wir haben in seiner Theorie vieles wieder gefunden, was auch wir als die Basis unseres politischen Ansatzes (nicht-hierarchische Selbstorganisierung in sozialen Bewegungen) begreifen: Antistaatlichkeit, Ablehnung von Parteien und Funktionärstum, keine Stellvertretungspolitik − die handelnden Subjekte sind wir, der Weg ist das Ziel, das Primat der Praxis, es gibt kein richtiges Leben im Falschen, wir haben mehr Fragen als Antworten, Kritik statt konstruktive Mitarbeit am System, und wir alle sind geprägt durch das vorHERRschende Denken und die HERRschende gesellschaftliche Praxis, die uns täglich kaputt macht.

Als undogmatischer Marxist möchte Holloway mit seiner Theoriearbeit, die ein Buch ja immer darstellt, Praxis reflektieren (helfen) und so eine Stütze sein für die, die auf die Strasse gehen, um die Welt zu verändern. Wir meinen, das ist ihm gelungen. Deshalb werden wir auch ihm diesen Text schicken. Das finden wir einen guten Umgang mit Leuten, die noch die Idee haben, dass Praxis Theorie braucht und umgekehrt, und die diesen Bezug auch direkt suchen. Davon gibt es leider nicht viele.

Es gab schon diverse Kritikpapiere von Leuten, die sich mehr mit den theoretischen Defiziten dieses Buches auseinandersetzen (z.B. Joachim Hirsch in Argument 249, Gerhard Hanloser in iz3w 267, Peter Birke in Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit 1/03, Wildcat Nr. 65/Febr. 2003). Auch diese haben wir diskutiert und können z.B. Hirschs Kritik an der Schwammigkeit von Begriffen wie Würde nicht teilen. Unserer Meinung nach erleichtert diese Wortwahl den Zugang zu philosophischen Diskussionen und ist mittlerweile auch in unseren Breiten relevant − siehe die Respektlosigkeit, mit der oft Frauen, Schwarze oder Arbeitslose behandelt werden, und nicht nur die indigene Bevölkerung in Mexiko. Auch Hirschs Kritik an einem Essenzialismus Holloways finden wir merkwürdig. Es kann nicht darum gehen, eine angeborene, naturhafte Essenz (einen festen Wesenskern) der Menschen zu unterstellen, nur weil betont wird, dass wir hier entfremdet leben müssen und dies den herrschenden Ausbeutungsstrukturen hilft weiter zu bestehen. Das möchten wir hier aber nicht weiter diskutieren. Uns geht es vielmehr um die Brauchbarkeit von Holloways Thesen für die politische Praxis und um Fragen, die sich aus der von ihm formulierten Perspektive ergeben.

»Am Anfang war der Schrei...«

Holloway macht marxistische Begriffe der Linken wieder neu zugänglich. Er benutzt dafür eigene Formulierungen wie «das Tun" und «die Trennung vom Getanen" und schafft es so, oft nur ökonomisch verstandene Begriffe (z.B. Mehrwertproduktion) durch ein Denken zu ersetzen, das berücksichtigt, dass unser Alltag umfassender von den Herrschaftsstrukturen bestimmt ist. Seine Sprache bleibt dabei immer einfach und die Analysen nachvollziehbar, so dass Marx bei Holloway verständlich wird auch für die, die Marx nicht gelesen haben.

Holloway beschreibt die kapitalistische Gesellschaft als eine, die zwischenmenschliche Solidarität und kreatives Handeln durch ihre ausbeuterische Herrschaft negiert. Die kreativen Potentiale werden instrumentalisiert indem sie zur Arbeit, die Wert schafft, gewendet werden. Dies ist die eigentliche destruktive Verneinung − und nicht die Haltung derer, die das nicht aushalten und dem etwas entgegen setzen! Ihm geht es darum, die Praxis des NEIN-sagens, des spontanen Schreis gegen die Verhältnisse und alltägliche individuelle Verweigerung sichtbar zu machen und dem einen revolutionären Gehalt zu geben. Die Aussage ist, dass wir alles verändern können, weil wir täglich dabei mitmachen. Wir sind einflussreich, weil unser Tun die Basis dafür ist, dass alles so funktioniert, solange wir eben nicht NEIN sagen. Holloway vertritt, daß es ein wichtiger Ausgangspunkt ist, die Zustände erst mal nur zu negieren und dann zu schauen, wie es weiter geht. Nur durch unser Handeln können wir was erreichen. Wir müssen dabei nicht, und wollen nicht (!), den Plan in der Tasche haben und alle Zusammenhänge kapiert haben, um mit der Revolte anzufangen. Widerständiges Handeln und Utopien sind möglich, trotz der Widersprüchlichkeiten, die uns alle durchziehen, weil wir durch die Verhältnisse geprägt sind. Trotzdem ist es uns möglich, durch Verweigerung und Rebellion die kreative Macht, «die gesellschaftliche Macht menschlichen Tuns", freizusetzen. Denn unsere tägliche Kraft und Kreativität wird uns durch Ausbeutungsverhältnisse geraubt und gegen uns nutzbar gemacht, um die Sache am laufen zu halten.

Bei der Diskussion dieser Praxis des NEIN-Sagens sind uns einige Fragen aufgestoßen. Ist Verweigerung schon emanzipatorische Politik? Kommt es nicht auch darauf an, wie sie motiviert ist? Was ist mit der Politik und dem Nein von FaschistInnen, RassistInnen, Sekten, EsoterikerInnen? Auch wir finden es wichtig, den Blick auf Verweigerungspraxen zu lenken, die uns nicht so geläufig sind, von denen wir aber lernen können. Das Nein ist, wie Holloway hervorhebt, überall und alltägliche Praxis. Dazu zählen Banalitäten wie CDs brennen oder ein frühmorgendliches An-die-Wand-Werfen eines Weckers, der zur Arbeit ruft. Aber Verweigerung kann nicht alles sein. Für uns ist das erst mal mehr ein Potential als eine revolutionäre Perspektive. Parallelen sehen wir in der aktuell geführten Aneignungsdebatte (Umsonst-Kampagnen, BUKO, Arranca, AK). Klar, müssen wir auch unsere Verweigerungen im Alltag, Klauen, umsonst-fahren, unsere alternativen Wohnformen, ohne Papiere leben, Arbeitskollektive, Beziehungskonzepte usw. als was Starkes und Vorwegnehmendes sehen. Aber läuft das Hochhalten von individuellem Sich-Durchschlagen-Müssen nicht auf die bequeme Haltung des "ich tu ja schon was widerständiges" hinaus? Muss es nicht mindestens kollektiv laufen und einen Anspruch auf massenhafte Verbreitung erheben, bevor es systemsprengendes Potenzial bekommt?

Gegenmacht oder Anti-Macht − passt das nicht zusammen?

Aus der Betrachtung vergangener sozialer und anti-kolonialer (nationaler) Kämpfe und deren Umformung in neue Machtkonstellationen leitet Holloway die Notwendigkeit der Anti-Macht ab. Die Macht muss abgeschafft, nicht neu oder anders besetzt und gestaltet werden. Es ist wichtig, nicht der Illusion zu erliegen, durch die Eroberung des Staates Herrschaft abschaffen zu können. Außerdem ist der Staat nur ein Ausdruck mächtiger Verhältnisse, nicht der Ort, wo die Macht sich ausschließlich konzentriert.

Anti-Macht dagegen zu setzen, bedeutet für ihn, jegliche Struktur, die hierarchische Macht hervorbringt, kritisch zu hinterfragen. Darunter fallen so unterschiedliche Bereiche wie sozialwissenschaftliche Kategorien, Geschlechterverhältnisse und informelle Machtstrukturen in der eigenen Politgruppe.

Das Postulat der Anti-Macht wirft für uns die Frage auf, ob darin das Konzept der Gegenmacht Platz hat. Letzteres hatte für uns bisher beinhaltet, dass es nicht an eine klassische Machteroberung gekoppelt ist und grundsätzlich Macht-ablehnend ist. Ein machtvolles Auftreten gegen Unterdrückung und an einzelnen Projekten der Herrschenden "die Machtfrage zu stellen" finden wir nicht widersprüchlich zu der Idee, Macht in allen Lebensbereichen zersetzen und abschaffen zu wollen. Eben dafür müssen wir immer wieder Gegenmacht aufbauen ohne jene Idee auf eine ferne Zukunft zu vertagen. Dass wir dabei nicht ausschließlich auf militärische Macht setzen können oder auf militante Interventionen sehen wir auch so. "Der Kampf ist nicht militärisch zu gewinnen". Aber ohne die Übertretung der jeweiligen Gesetze in den verschiedenen Ländern, ohne Sachbeschädigungen, Sabotage und militante Selbstverteidigung unseres Lebens, unserer erkämpften Freiräume und Organisierungsformen werden wir nicht weit kommen − hier wie sonstwo in der Welt. «Wir" − als radikale Linke − haben hier z.B. besetzte Häuser zeitweilig gehalten, die antirassistischen Grenzcamps immer wieder durchgesetzt oder jahrelang teure Sabotageaktionen gegen die Atomindustrie betrieben. Je machtvoller wir aufgetreten sind, desto mehr Zugeständnisse mussten die Herrschenden machen, verhandeln, sich an stille Orte zurückziehen oder ihre Pläne fallen lassen. Es ist eben eine Frage von Kräfteverhältnissen und unserer Gegenmacht, wie weit wir gegen sie durchkommen. Anti-Macht ist für uns dabei eine selbstkritische Haltung, damit beim Aufbau von Gegenmacht keine neuen Hierarchien und Dominanzen entstehen. Insofern ist es für uns kein Gegensatz.

Praxis − aber wie denn nun?

Weil Holloway das Funktionieren des kapitalistischen Systems anders herum erklärt, macht er Widerstand leicht(er denkbar). Er sagt, dass wir eigentlich am längeren Hebel sitzen, weil jegliche Ausbeutung und Unterdrückung von unserer Mitwirkung abhängt. Wir haben die Macht, das zu ändern, indem wir es erkennen und dann dagegen anschreien, was dagegen setzen und uns organisieren. Offen lässt er dabei, wie das aussieht und welche Mittel er für legitim hält. Wir sind dahingehend skeptisch, ob er es so vage und offen lässt, damit es offen bleibt gegenüber allen möglichen Leuten; also auch solchen, die eigentlich nicht grundlegend was verändern wollen und sich mit großartigen Theorien ohne eine Praxis zufrieden geben, z.B. damit sie an ihrer Karriere weiter basteln können. Uns sind u.a. die Leute an den Unis eingefallen, die viel zu Gender und Dekonstruktion arbeiten, Judith Butler rauf und runter kennen, aber praktisch nichts gegen Sexismus im Alltag organisieren. Und natürlich alle möglichen Meckerfritzen, die Politik studieren und immer einen Grund finden, nicht mit auf die Straße zu gehen. Dass Holloway keine Anleitungen und Rezepte verbreitet, passt schon. Doch wir meinen, dass es z.B. nicht reicht, Theoriearbeit zur politischen Praxis zu erklären. Wenn das alle so machen, verändern wir nämlich gar nichts.

ähnlich unklar bleibt Holloways Position zur "Gewaltfrage". Er sagt deutlich, dass er Militär in jeglicher Form ablehnt. Dass Armeen scheiße sind, finden wir auch. Meistens funktionieren sie nicht ohne Militarismus, Waffenfetischismus und patriarchale Hierarchien. Unterdrückte, die sich bewaffnen, um sich und ihre Freiräume zu verteidigen, sind dagegen was anderes. Sie müssen schauen, dass sie nicht in die oben genannten Fallen laufen oder sich von der Basis verselbständigen. Wenn Holloway sagt, dass der Kapitalismus allen Gewalt antut und sich bewaffnet hat, sei es durch Polizei, Armeen oder die Drohung der Repression (wenn nicht pariert wird), meint er dann auch, dass es legitim ist, sich dagegen zu bewaffnen? Oder ist seine häufige Bezugnahme auf die EZLN in Chiapas, die ja das Wort Armee im Namen trägt (E für ejército), nur eine populäre Anlehnung an eine Guerilla, die seit 10 Jahren nicht mehr schießt, dafür aber ansonsten in ihrem Auftreten und verbal glänzt? Und ist das, allgemein gefragt, auch uns allen ein Grund, diese bewaffnete Befreiungs-Bewegung fast als letzte der Welt noch massenhaft zu bewundern und zu unterstützen? Weil sie sich die Hände nicht schmutzig macht?

Der permanente Basisbezug der EZLN ist bedeutungsvoller für unseren positiven Bezug auf die zapatistische Praxis als ihre notwendigerweise militärische Organisierung, denn Basisdemokratie ist das einzige Mittel gegen abgehobene Avantgardepolitik. Nicht eine Politik der Organisation, sondern eine auf Ereignisse orientierte Politik ist nötig. Als Beispiele dieser von Holloway so bezeichneten "Anti-Politik" nennt er den Mai 1968, den Zusammenbruch der Regime in Osteuropa, den zapatistischen Aufstand, die Demos gegen den weltweiten Neoliberalismus in Seattle, Davos, Washington, Prag. Die Organisierungsweise dabei versucht er mit der Planung einer Party zu erklären: gute Vorbereitung und entschlossene "Kämpfer" werden gebraucht, spontan kommt sie nicht zu Stande. Sie ist kein Selbstzweck, hat keine festen Strukturen und ist ergebnisoffen. Das finden wir auch gut, fragen uns aber, wie hierarchiefrei das auf Dauer laufen kann, da solche Hierarchisierungsprozesse oft unsichtbar ablaufen.

Es muss dann nicht gleich Avantgardepolitik sein, wenn welche mit guten Ideen vorpreschen. Im Gegenteil, das ist nötig, wenn wir uns nicht immer im Kreis drehen wollen. Uns erinnert das an alte Diskussionen unter Linksradikalen: Des öfteren werden der Mangel an neuen Aktionsformen kritisiert und Kampagnen als "autonome Feuerwehrpolitik" beklagt. Viele haben das Gefühl, nicht weiter zu kommen, weil wir uns immer wieder an vorgegebenen Ereignissen (Gipfel, Staatsbesuche, Nazi-Überfälle) orientieren. Selbstbestimmte Kampagnen und Aktionen leiden oft unter mangelnder Beteiligung oder verlaufen im Sande. Aber die Gründe zu kämpfen sind permanent präsent, jeden Tag, und da ist es kein Wunder, dass Linke immer wieder konkrete Vorlagen brauchen, um auf die Straße zu gehen und andere dabei mitzureißen. Wichtig ist, bei den konkreten Mobilisierungen nicht beliebig zu werden und die weiteren Zusammenhänge unserer Kritik zu vermitteln. Dann können auch Aktivitäten in sog. Teilbereichsbewegungen einen größeren Sinn machen und sich gegenseitig stärken. Natürlich wollen wir nicht nur keinen Castor im Wendland oder Nazis von der Straße fegen, aber irgendwo muss ja angesetzt werden. Die bequeme Haltung der Kritik von außen fördert nur Arroganz und Passivität, wie z.B. bei der Kritik an den GipfelstürmerInnen. Wenn wir wollen, dass radikalere Kritik Land gewinnt und radikale Praxis permanent stattfindet, müssen wir auch da sein und sie in die sozialen Bewegungen tragen.

Theorie, die keine Praxis hat, macht uns auf Dauer auch nicht satt

Holloway schreibt als marxistischer Wissenschaftler, diskutiert und kritisiert die verschiedenen Theorien und Praxen, die sich auf den Marxismus beziehen. Vieles ist philosophisch und hochkomplex, aber das tolle ist, dass er trotzdem verständlich bleibt und einen mit nimmt. Schwierige Begriffe, die er einführt, erklärt er ausreichend. Er benutzt eine emotionale Sprache, schreibt in "ich" und "wir" und kritisiert zudem die übliche abgehobene Wissenschaftlichkeit der Uni-Leute, die die eigene Involvierung leugnen und Objektivität vorspiegeln. Zudem kritisiert er den Wissenschaftlichkeitshype, dem auch linke Theorie und Praxis unterliegt. Er leitet aus dem ständigen Belegzwang eine Lähmung ab, die wir auch kennen: Erst wenn ich meinen Unmut gut genug objektiv begründen kann und in den Kontext geläufiger Theorien gestellt habe, darf ich was tun, mich organisieren. Dabei ist die Unmittelbarkeit des Widerwillens gegen die Verhältnisse etwas kostbares, das sich nicht an der Uni, im Sachzwangdenken und der theoretischen Begründung verlieren darf. Theorie sollte nicht zum Selbstzweck verkommen (wie es an der Uni meist gelehrt wird), sondern ist nur sinnvoll als Teil einer Praxis, die ohne Reflexion nicht auskommt. Holloway zeigt, dass Praxis immer Ausgangpunkt der Theorie sein muss. Er findet bei verschiedenen Theoretikern wie Adorno, Foucault, Gramsci, Horkheimer, Lukacs und Marx Begründungen für seine theoretische Auffassungen. Er klebt nicht an einer "Schule", sucht sich Bezüge da raus, wo sie passen. Kriterium ist die Brauchbarkeit für die Praxis der emanzipatorischen Gesellschaftsveränderung. Und «Wahrheit" muss sich daran zeigen, ob die praktische Realisierung funktioniert. Holloway hat entsprechend auch viel Kritik an den gescheiterten Konzepten des Marxismus: dem Revolutionsautomatismus, der Machtübernahme, dem Staatskapitalismus, dem Sowjetimperialismus, den Hierarchien in Parteien und den "sozialistischen" Gesellschaften. Er lernt aus den Fehlern bisheriger Praxis (die oft schon theoretisch angelegt sind) und dadurch ändert sich die Perspektive. Und zwar so, dass wir viel damit anfangen können und uns bestärkt sehen. Wir brauch(t)en für diese Erkenntnisse vielleicht keine ausgefeilten Theorien, aber es ist schon sympathisch, dass es MarxistInnen gibt, die so respektlos und autonom mit "ihrer" Geschichte umgehen. Schließlich gibt es viele, die hauptsächlich Theoriearbeit machen und denen gegenüber erklärt Holloway sehr gut mit dem «Bewegungsansatz", wie notwendig die Verbindung zur Praxis ist. Es sind vor allem die Punkte, die uns immer als "Schwachpunkte" unserer Herangehensweise ausgelegt werden und die wir leider selbst oft als solche empfinden − nicht immer alles erklären können, nicht ein fertiges theoretisches Konzept hinlegen können − , die er zu folgerichtigen und starken Prinzipien umkehrt. Vieles davon kennen wir aus der Philosophie der zapatistischen Bewegung, die uns schon lange gefällt und Rückenwind gibt. Auch Holloway scheint viel davon gelernt zu haben. So z.B. das Prinzip des "preguntando caminamos", ungefähr: fragend gehen wir voran. Was so viel heißt wie, keine fertigen Lösungen zu benötigen, keine festen Ziele und Konzepte haben zu wollen, immer wieder stehen zu bleiben und nach dem Weg zu suchen, der sich auch verändert, während wir ihn beschreiten. Fehler sind dabei nicht nur unvermeidlich, sondern auch wichtig, weil wir aus ihnen lernen können. Die Wege können auch sehr unterschiedlich und ungleichzeitig sein, wir müssen sie gegenseitig respektieren − in der Vielfalt liegt die Stärke. All dies klingt schwammig, unpräzise und entspricht gar nicht dem, was herkömmlich unter Politik-machen verstanden wird. Doch das, was meist als Mangel begriffen wird, ist ein gutes Konzept, weil es die Schwierigkeiten der Veränderung nicht leugnet oder dem Ziel unterordnet, sondern mit einbezieht ins Denken und Handeln. Das arbeitet der Resignation entgegen ("die Revo kommt eh nicht") und vermeidet peinliches Schweigen auf die ständige Frage "wie das denn gehen soll mit der Revolution?". Dagegen ist die Hoffnung und die Sehnsucht nach Veränderung wichtig. Wenn sie alle spüren, werden wir den Weg schon finden, auch wenn wir ihn jetzt noch nicht kennen.

Die Fallen der Identitätspolitik oder »Wir sind ..., aber wir sind mehr als das«

Zur Frage der Berechtigung von Identitätspolitik hat Holloway unserer Ansicht nach eine gute Position. Sie ist am Ort zu messen, von dem aus sie formuliert wird, und an der Perspektive, die dabei mitschwingt. Das wird für uns deutlich in dem Satz von Holloway "Wir sind Frauen/Indigene/Arbeiter/Juden..., aber wir sind mehr als das!" Der erste Teil macht Unterdrückung oder Ausgrenzung deutlich und setzt sie selbstbewusst ins Licht, der zweite geht darüber hinaus, bleibt nicht im engen Kästchen.

Normalerweise sind wir angehalten, das zu sein und zu bleiben, was ausbeutbar, brav und manipulierbar ist: Ehefrauen, Deutsche, einfache BäuerInnen, dumme Indios, ArbeitnehmerInnen. Diese täglichen, zwangsweisen Kategorisierungen dienen dazu, Herrschaft zu stabilisieren. Die Reduzierungen reißen uns auseinander, werden unseren Träumen nicht gerecht. Denn wir sind nicht nur das, was das Kapital, die Nation, das Patriarchat von uns braucht. In allen Menschen steckt daher das Potenzial gegen die Kategorisierung zu rebellieren. Wenn wir uns dann nicht damit zufrieden geben und die daraus erwachsende Herrschaft über uns sichtbar machen wollen, braucht es ein WIR. Das ist auch nötig, um sich gegen diese Verhältnisse zu organisieren und sich gegen die Eingemeindungsversuche von Gruppen zu verwehren, die schon wissen, wie die Welt zu verändern ist. Sich zu organisieren bringt identitätspolitische Einengungen mit sich, die wir alle kennen. Du grenzt dich optisch ab, gehst in bestimmte Kneipen, redest nur noch mit "deinen Leuten", in deinen Flugis kommen andere Probleme höchstens am Rande vor usw. Das ist wichtig, um den Raum zu erobern, praktisch wie diskursiv (im Reden und Schreiben), und um sich stark zu fühlen − du stellst die Welt auf den Kopf, es ist wichtig, was du tust. Um in diesem Kampf nicht zu verhärten und nicht im Ist-Zustand stehen zu bleiben, müssen wir aber schauen, wie unsere jeweilige Situation, als Migrantin, als Lesbe, als "Behinderter", mit der anderer Organisierter zusammenhängt und wie versucht wird, uns gegen einander auszuspielen und fertig zu machen. Wenn wir immer wieder daran denken, dass wir eigentlich eine Welt wollen, wo unsere individuellen Unterschiede und Interessen nicht für Herrschaftszwecke ausgenutzt, sondern als anregende Vielfältigkeit begriffen werden, sind wir nicht mehr so in Gefahr stehen zu bleiben. Z.B. war die Diskussion auf dem Grenzcamp 2002 zwischen feministischen und antirassistischen Positionen anlässlich eines sexistischen Übergriffs eines Flüchtlings so eine Probe aufs Exempel. Da wo wir es schafften, über unseren Tellerrand hinweg zu schauen, konnten wir Erkenntnisse über die "andere Seite" gewinnen, die uns im Alltag selten vergönnt sind. Dagegen war die Gegenüberstellung von Autonomer gegen Antirassistische Politik auf dem Camp in Köln letztes Jahr nicht besonders produktiv. Nur wenige hatten es in den öffentlichen Diskussionen geschafft, diese beiden formelhaften Etiketten mit Leben zu füllen und sich ohne Angst, sich oder ihr "Lager" zu verraten, zu den verschieden Ansätzen in Bezug zu setzen. Geschweige denn, eine neue Perspektive zu formulieren, die beide Richtungen produktiv verbinden kann. Identitäten auflösen ist die Perspektive, ohne dabei die momentan gesellschaftlich konstruierten zu verleugnen. Denn mit denen müssen wir vorerst zurecht kommen, auch wenn wir sie zum Teil ablehnen, an andere Ufer wollen. Holloways Ratschlag ist, dies jederzeit durchscheinen zu lassen in unseren Kämpfen um Sichtbarkeit und Menschenrechte, indem "wir die Nichtidentität, das Noch-Nicht, das Konjunktiv betonen".

Hauptwiderspruchsdenken durch die Hintertür?

Als Marxist beschäftigt sich Holloway in der Herleitung seiner Theorie mit der kapitalistischen Ausbeutung der Menschen. Das wundert uns nicht. Aber die Kämpfe, auf die er sich bezieht, sind welche, die nur zum Teil daraus erwachsen sind: die von Feministinnen, die Ökologiebewegung, die Zapatistischen BäuerInnen, die Globalisierungsbewegung von unten. Und er kritisiert, dass andere Antagonismen als der der Klassen (wie das Patriarchat, Naturzerstörung, Rassismus) vom klassischen Marxismus nicht erklärt werden können. Das ist gut für LeserInnen aus diesem Spektrum, damit auch die Letzten noch von ihrem erträumten revolutionären Subjekt, der "Arbeiterklasse" runter kommen.

Laut Holloway soll der Kampf nicht nur bei der klassischen Ausbeutung am Arbeitsplatz ansetzen, sondern allgemein bei der «Trennung des Getanem vom Tun", von Subjekt und Objekt, die überall statt findet. Sein Ansatz basiert jedoch v.a. auf der Vorstellung von der Entfremdung der ArbeiterInnen von ihren Produkten und der Fetischisierung dieses Prozesses. D.h., dass z.B. der Stuhl nicht nur der Tischlerin nicht zur Verfügung steht, sondern auch zu einem Wert im Sinne von Ware gemacht wird. (Mit Fetischisierung betont Holloway die Prozesshaftigkeit im Gegensatz zu Fetischismus, was einen abgeschlossenen Vorgang unterstellt. Er will in den Begriff wieder die Bewegung reinbringen und zeigen, dass es jede Minute neu geschaffen wird und so auch jederzeit gestoppt werden kann.) Fetischisierung meint für ihn aber mehr als die Ausbeutung in der Fabrik. Sie ist umfassender gedacht, nämlich als Trennung aller menschlicher Tätigkeiten von ihren Ergebnissen und Effekten. Wir werden an vielen Stellen unseres Lebens entfremdet: in unserer Sexualität, unserer Spiellust, unserer Kreativität, unserem Selbstbewusstsein. Selbstbewusstsein oder Kreativität z.B. sind nur mit einem sinnvollen Ergebnis legitim und werden an Leistungskriterien gemessen. Diese Kritik ist eigentlich untypisch für klassisches Hauptwiderspruchsdenken. Doch er meint, dass der "binäre Antagonismus" der Trennung von Tun und Getanem, der die Gesellschaft durchzieht, "am deutlichsten im Ausbeutungsprozess wahrgenommen wird". Das klingt schon sehr nach Lohnarbeit. Auch spricht er trotz seiner Kritik an klassischen marxistischen Konzepten weiter von Klassenkampf. Rassismus und Sexismus werden nicht genauer beleuchtet so wie die kapitalistische Ausbeutung, sondern nur immer wieder erwähnt und auf die Kämpfe dagegen abgehoben. Obwohl der Entfremdungs- und Klassifizierungsgedanke gut auf rassistische und sexistische Herrschaftsformen angewandt werden kann und diese oft mit kapitalistischer Ausbeutung einher gehen, diskutiert er das nicht. Nicht einmal die Reproduktionssphäre (was die ArbeiterIn wieder aufpäppelt und Nachwuchs schafft) wird näher untersucht, zu der ja bereits von vielen MarxistInnen geschrieben wurde. Für uns scheint es so, dass seine Ausführungen doch meist das Kapitalverhältnis meinen, auch wenn er diese einseitige Betrachtung als Hauptwiderspruchs- und Staatsmachtdenken kritisiert. Statt von Klassen, die er als Zuschreibungen durch die Herrschenden ablehnt, spricht er von Klassifizierungen, um den Zuschreibungsprozess deutlich zu machen. Aber er klebt an den Begriffen der Arbeiterklasse und der Klassenkämpfe, jedoch versucht er, sie anti-identitär zu füllen: "Wir kämpfen nicht als Arbeiterklasse, wir kämpfen gegen unsere Existenz als Arbeiterklasse, gegen das Klassifiziertwerden. Unser Kampf ist nicht der Kampf der Arbeit: Es ist der Kampf gegen die Arbeit." Wenn wir uns als Arbeiterklasse begreifen würden, hätte das Kapital mit seiner Zuschreibung gewonnen und Widerstand wäre nicht denkbar. Dieses Denken hat das Potenzial, das Widerstand möglich macht, weil wir immer mehr sind als diese eine Kategorie "ArbeiterInnen". Wenn wir merken, dass wir entfremdet und gespalten leben, können wir darüber hinaus gehen. "Nur wenn wir unsere Subjektivität als gespaltene Subjektivität und unser Selbst als gespaltenes Selbst auffassen, können wir unserem Schrei, unserer Kritik einen Sinn verleihen." Das ist gut auf den Punkt gebracht, doch in seinen konkreten Ausführungen bleibt er leider bei der Klassenfrage stehen.

Das Fragen nach dem Weg ist Teil des revolutionären Prozesses

Wir möchten euch das Buch trotz unserer o.g. Kritik heiß empfehlen. Es regt, wie wir finden, eine gute Reflexion auch unserer eigenen (autonomen, linksradikalen) Politik an. Dass wir die Herangehensweise von Holloway beim Lesen und drüber Reden als so verbunden mit unseren eigenen Erfahrungen empfanden, hat uns optimistisch gestimmt und Hoffnung gemacht. Denn die Defizite, die wir im Alltag oft spüren und die Grenzen, an die wir stoßen, können wir selbstbewusst als Teil unseres politischen Konzeptes begreifen: Wir haben meist keine realpolitischen Alternativen, sagen zu Vielem nur Nein, haben keinen konkreten Weg vor Augen, keine universellen Konzepte. Doch mit einem Schrei, einem lauten NEIN anzufangen, ist laut Holloway ein guter Beginn und eine legitime Politikform, weil diese Gesellschaft auf Zustimmung und Mitmachen baut. Wie er wollen wir unsere Empörung über eine reine Theorie der schlechten Verhältnisse stellen. Auch wir sind dem bekannten Phänomen aufgesessen, von einer Theoriearbeit, also von seinem Buch, mehr zu erwarten. Der Titel schon hat uns verlockt, zuerst in die letzten Seiten zu schauen, ob da wohl eine Art Rezept oder die Lösung verraten wird. Natürlich kann das ein Buch nicht leisten und dieses will es erklärtermaßen auch gar nicht. Der (fast) letzte Satz des Buches drückt das gut aus: "Wir fragen nicht nur, weil wir den Weg nicht kennen (wir kennen ihn nicht), sondern auch, weil das Fragen nach dem Weg Teil des revolutionären Prozesses selbst ist."

April 2004

John Holloway
Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen
Broschiert − 255 Seiten − Westfälisches Dampfboot
Erscheinungsdatum: Februar 2004
ISBN: 3896915142
Preis: 24,80 €

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