Rückschlag für Demokratie in Mexiko

Mit einem politisch motivierten Verfahren soll der populäre Regierungschef von Mexiko-Stadt politisch ausgebootet werden

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Als in Mexiko vor fünf Jahren die 71jährige Herrschaft der Partie der Institutionellen Revolution (PRI) zu Ende ging, waren die Hoffnungen auf eine Demokratisierung des verkrusteten Systems groß. Zwar blieb mit dem überraschenden Wahlsieg der Partei der Nationalen Aktion (PAN) eine konservative Kraft am Ruder, doch rechnete sich die sozialdemokratische Opposition gute Chancen für die kommenden Präsidentschaftswahlen 2006 aus. Mit dem nahenden Wahltermin aber werden diese Erwartungen in zunehmenden Maße enttäuscht.

Nach einer offenbar politisch motivierten Anklage entzog das konservativ dominierte Abgeordnetenhaus dem linken Anwärter auf die Präsidentschaft, Andrés Manuel López Obrador, unlängst die diplomatische Immunität. Wird durch das Ministerium für Öffentlich Angelegenheiten nun ein Verfahren beantragt, droht dem populären Politiker der sozialdemokratischen Partei der Demokratischen Revolution (PRD) die Enthebung aus seinem Amt als Regierungschef der Hauptstadt - oder gar eine Haftstrafe. Der Betroffene beklagt "Intrigen" und eine "Verschwörung". Der Vorwurf ist nicht weit hergeholt, denn das Verfahren wurde schließlich just in einem Moment eröffnet, zu dem López Obrador in den Umfragen für die nahende Präsidentschaftswahl die Kandidaten der beiden Rechtsparteien PRI und PAN überholte.

Die Geschichte der Justizfarce

Der politische Skandal nahm vor gut vier Jahren seinen Anfang. Damals wollte die Hauptstadtregierung im Rahmen neuer Sozialprogramme die Zufahrtsstraße zu einem Krankenhaus verbreitern. Nachdem ein Anwohner sein Privatgrundstück beeinträchtigt sah, klagte er und konnte sich durchsetzen. Die Straße wurde daraufhin um das Grundstück herum gebaut. Damit hätte der Fall geklärt sein können. Nun wird López Obrador als amtierenden Regierungschef aber vorgeworfen, das Urteil des Gerichtes missachtet zu haben, weil die Straße gar nicht hätte gebaut werden dürfen.

Dass der aussichtsreichste Präsidentschaftskandidat wegen eines Streits um eine 200 Meter lange Zufahrtsstraße seiner Chancen beraubt werden soll, hätte sich vor fünf Jahren in Mexiko wohl niemand träumen lassen. Die Zeit der offenen Wahlbetrügereien schien der Vergangenheit anzugehören. Nun aber droht die Präsidentschaftswahl 2006 zu einer Farce zu werden, wie dies bereits beim Urnengang im Jahr 1988 der Fall war. Damals hatte sich der bekannte PRD-Politiker und Sohn des Parteigründers Cuauhtémoc Cárdenas gegen seinen Herausforderer von der PRI, Carlos Salinas, durchsetzen können. Als sich sein Sieg abzeichnete, wurden die ausgezählten Wahlzettel von der Armee in den Keller des Parlamentes gebracht und durch einen "unglücklichen" Großbrand vernichtet. Salinas erklärte sich daraufhin zum Sieger.

Friedliche Massenproteste – bis jetzt

Die Enttäuschung der Menschen ist groß, zumal die PAN, die sich vor fünf Jahren noch als neue demokratische Kraft präsentierte, inzwischen ein Zweckbündnis mit der PRI eingegangen ist. Der PAN sei inzwischen "jedes Mittel recht, um die Macht zu erhalten", sagt Carlos Barba Solano, der als Soziologieprofessor an der staatlichen Universität der zentralmexikanischen Stadt Guadalajara lehrt. Die rechtsklerikale Partei sei bislang zwar in politischer Hinsicht demokratisch gewesen, habe inzwischen aber "ein völlig anderes Profil angenommen". Das Verfahren gegen López Obrador, so Barba Solano, sei verheerend, weil es den Weg zu weiteren demokratischen Reformen verschließe. Der Schriftsteller Carlos Fuentes warnte in diesem Zusammenhang vor den mittelfristigen Folgen dieses Vorgehens. Wenn die Linke heute vom demokratischen Prozess ausgeschlossen werde, könne sie wieder "in die Berge gehen" – eine Anspielung auf linke Guerillaorganisationen, die vor allem in den siebziger Jahren gegen das damals besonders repressiv herrschende PRI-Regime kämpfte.

Noch ruft López Obrador seine Anhänger zum "gewaltlosen zivilen Ungehorsam" auf. Und die Menschen folgen diesem Aufruf: Im vergangenen August gingen bereits zwei Millionen Menschen in Mexiko-Stadt auf die Straße. Es war eine der größten Demonstrationen in der jüngeren Geschichte des Landes. Aber niemand kann mit Sicherheit sagen, wie lange der PRD-Politiker die Massen kontrollieren kann. Es geht nämlich nur vorrangig um seine Kandidatur. Im Zentrum des Streits steht die Frage, bis zu welchem Grad sich das mexikanische System demokratisiert hat. Und diese Demokratie könnten die Menschen eher früher als später mit Nachdruck einfordern.

López Obrador – ein "mexikanischer Lula"

Die etablierten Rechtsparteien fürchten den Regierungschef von Mexiko-Stadt vor allem wegen dessen Popularität. Schon kurz nach seinem Amtsantritt im Jahr 2000 startete López Obrador breit angelegte Sozialprogramme. Erstmals wurde älteren Menschen eine monatliche Mindestrente von umgerechnet 65 US-Dollar zugesprochen, inzwischen erhalten knapp 70.000 Bedürftige diese Unterstützung. Zudem reformierte der PRD-Mann das Bildungssystem und rief ein Programm zum sozialen Wohnungsbau ins Leben. Bisweilen wird der Politiker daher in Anspielung auf den brasilianischen Regierungschef Luis Inacio "Lula" da Silva als "mexikanischer Lula" bezeichnet. Mit einem Unterschied: "Wir haben für die Sozialprogramme allein in der Hauptstadt jährlich umgerechnet eine Milliarde Dollar eingeplant", sagt López Obrador. Allein für die Renten- und weiteren Sozialprogramme würden 320 Millionen Dollar aufgewendet.

Eine solche in Mexiko bislang nie gekannte Sozialpolitik hat die Popularität des PRD-Politikers massiv steigen lassen. Während López Obrador die Wahl zum Hauptstadt-Regierungschef im Jahr 2000 nur knapp gewann, konnte er 2003 fast alle Bezirke von Mexiko-Stadt für sich gewinnen. Inzwischen liegt er bei Umfragen bei Werten über 80 Prozent. Die Bundesregierung unter dem PAN-Präsidenten Vicente Fox tat daher alles, um dem linken Konkurrenten Einhalt zu gebieten. Im vergangenen Oktober kam es zu massiven politischen Auseinandersetzungen, weil die Bundesregierung in die Finanzen der Hauptstadtregierung eingreifen wollte. Das Ziel war offensichtlich: Die Sozialprogramme von López Obrador sollten beschnitten werden, um seiner Popularität zu schaden.

Weil alle diese Versuche erfolglos blieben, werden nun offenbar die Gerichte bemüht, die, so heißt es in der PRD, von Anfang an in den Komplott verstrickt gewesen seien. Aber es mögen auch geopolitische Interessen eine Rolle spielen. Die US-Regierung ist schließlich zunehmend beunruhigt über den Linksruck in Lateinamerika. In Argentinien, Brasilien, Kuba, Panama, Uruguay und Venezuela sind inzwischen von mehr oder weniger US-kritische Kräfte an der Regierung. Ein Sieg López Obradors wäre für Washington eine Katastrophe. Mexiko ist nicht nur eine wichtige Regionalmacht. Die linke Herrschaft würde dann bis an die eigene Südgrenze reichen.