SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2007, Seite 11

Mexiko

Die Rückkehr des Militärs

von Leo Gabriel

Die innenpolitische Lage Mexikos wird zunehmend unsicher. Die Regierung bereitet sich darauf vor, soziale Konflikte mit miitärischer Gewalt zu unterdrücken.
Mehr als ein Dutzend Journalisten, Hunderte politische Gefangene aus Oaxaca, von denen einige bis heute nicht wieder aufgetaucht sind, und eine selbst für mexikanische Verhältnisse noch nie da gewesene Rechtsunsicherheit charakterisieren das erste Amtsjahr von Felipe Calderón von der rechtskonservativen Nationalen Aktionspartei (PAN).Calderón ist nach einem, zusammen mit der Institutionalisierten Revolutionspartei (PRI), eingefädelten Wahlbetrug seit dem 20.November 2006 mexikanischer Staatspräsident.
Auch in Chiapas sind Übergriffe auf die von indianischen Gemeinden besiedelten Gebiete in der Nähe der Biosphäre von Montes Azules unweit der guatemaltekischen Grenze an der Tagesordnung. Während die Bauern gegen den geplanten Staudammbau von La Parrota im Bundesstaat Guerrero noch Widerstand leisten, plant die Regierung die Errichtung eines Flughafens just an jener Stelle, wo die Bewohner von Atenco vor vier Jahren noch heftigen Widerstand geleistet haben. Gleichsam zur Warnung vor zukünftigen Protesten wurden die Anführer der Bewegung von Atenco im Frühjahr dieses Jahres zu nicht weniger als 67 Jahren Haft verurteilt; in vielen Bundesstaaten wurde gegen friedliche Demonstranten das sog. Antiterrorismusgesetz angewandt.

Militärs übernehmen Machtpositionen

All das kommt nicht von ungefähr. Kurz nach der Machtübernahme hat die neue Regierung Calderón die Gehälter der Militärs substanziell erhöht und im Juli die Aufgaben der Staatssicherheit vom Innenministerium dem militärischen Sicherheitsdienst übertragen. Zum ersten Mal seit siebzig Jahren, als Lázaro Cárdenas das ausgeklügelte System der Einheitspartei PRI auf der Basis von Massenorganisationen errichtete und damit die mexikanische Revolution konsolidierte, haben die Militärs in Mexiko wieder das Sagen.
Im Unterschied zur PRI, die das Land bis zum Jahr 2000 beherrschte, versucht die PAN gar nicht erst, ihre Machenschaften zu verbergen. Das zeigte sich kürzlich, als Calderóns Vorgänger, der ebenfalls aus der PAN stammende Vicente Fox, in aller Öffentlichkeit seinen Palast vorstellte, den er zusammen mit seiner "präsidiablen" Frau Marta Sahagún hatte bauen lassen. Und obwohl es gegen die Pensionsreform im ganzen Land erbitterten Widerstand gab und gibt, zog der Präsident und seine unheilige PAN-PRI-Allianz das Gesetz, das die Lohnabhängigen dazu verpflichtet, für weniger Rente länger zu arbeiten, einfach durch.
An der neoliberalen Reform des Sozialversicherungssystems konnten auch die Vertreter der öffentlichen Bediensteten des Instituto Sindical de Seguridad Social (ISSSTE) nichts ändern, die seit Monaten vor dem Monumento de la Revolución in der Hauptstadt kampieren, unter denen sich auch die kämpferischen Lehrergewerkschaften aus Oaxaca befinden. Ebenso wenig gelang es dem um seinen Wahlsieg betrogenen Präsidentschaftskandidaten Andrés Manuel López Obrador von der linken Partei der demokratischen Revolution (PRD) und seiner millionenstarken Anhängerschaft, auch nur ein Komma aus dem Vorschlag der Regierung für eine umfassende Steuerreform zu streichen, die u.a. eine kontinuierliche Erhöhung der Benzinpreise vorsieht.
Es scheint, als rechne die Regierung Calderón schon jetzt mit einer rapiden Verschlechterung des sozialen Klimas und als sei sie bereit, die allgemein erwarteten massiven Proteste mit Gewalt zu unterdrücken. Mehr noch: Nicht wenige Anführer der vielen sozialen Bewegungen und zahlreiche Linksintellektuelle stellen sich darauf ein, in den Untergrund zu gehen; und das nicht etwa weil sie beabsichtigen, sich einer der Guerillabewegungen anzuschließen, die in letzter Zeit mit Attentaten auf Pipelines der staatlichen Erdölgesellschaft Pemex auf sich aufmerksam machten, sondern weil sie eine Welle willkürlicher Verhaftungen befürchten.

"Kolumbianisierung" Mexikos

Angesichts dieser Situation sprechen in- und ausländische Beobachter von einer zunehmenden "Kolumbianisierung" Mexikos und meinen damit eine Zeit, die in Kolumbien selbst schon teilweise der Vergangenheit angehört, nämlich die, als sich der Staat mit einem der großen Drogenkartelle verbündete, um die anderen damit rivalisierenden Kartelle mit Hilfe korrupter Militärs auszuschalten.
Tatsächlich gibt es in mehreren Großstädten im Norden jeden Abend eine Ausgangssperre, und selbst in der Touristenstadt Acapulco sind Schießereien am helllichten Tag keine Ausnahme. Das alles hat zur Folge, dass der unbefangene Besucher in verschiedenen Bundesstaaten, insbesondere in den von der PAN oder der PRI regierten, auf Schritt und Tritt Straßensperren begegnet, und Geheimpolizisten selbst bei Lehrveranstaltungen an den Universitäten ihre nicht immer ganz unauffälligen Gesichter zeigen.
Die Sicherheitsbehörden zeigen sich von den Klagen und Anklagen der zahlreichen nationalen Menschenrechtsorganisationen ebenso wenig beeindruckt wie von Amnesty International, deren Präsidentin Irene Khan bei ihrem letzten Besuch die Regierung äußerst scharf kritisierte. Sie vertrauen auf das Gewohnheitsrecht der Straflosigkeit, das traditionellerweise jedem zukommt, der eine Uniform trägt.
Ein Beispiel unter vielen: Vor ein paar Monaten wurden einige Militärs in Saltillo vor Gericht gestellt, die offensichtlich 14 Prostituierte vergewaltigt und ermordet hatten. Als der Bischof von Saltillo, Raul Vera, den Familienangehörigen der ermordeten Frauen zur Seite stand, entging er nur knapp einem Attentat.
Im Zentrum der Macht gibt es Anzeichen dafür, dass die Korruption unter der Herrschaft der Regierungskoalition PAN-PRI in einem noch nie da gewesenen Ausmaß um sich gegriffen hat. Ein Beispiel dafür ist die Affäre um den chinesischen Chemikalienhändler Zhen Li Ygon, in dessen Wohnung während des Präsidentenwahlkampfs 2006 an die 205 Millionen Dollar in bar deponiert wurden. Den Aussagen von Zhen zufolge geschah dies im Auftrag des damaligen Wahlkampfmanagers der PAN und heutigen Parteichefs, was dieser natürlich in Abrede stellte. Das Geld wurde sofort nach der Beschlagnahmung auf eine US- amerikanische Bank überwiesen, um etwaige Spuren zu verwischen. Zudem wurden Beamte der Finanzpolizei, die die in Koffern deponierten Geldscheine abgeholt und registriert hatten, in der Zwischenzeit ermordet. Gegen Zhen, der sich nach seiner Flucht in die USA in Haft befindet, läuft derzeit ein Auslieferungsbegehren der mexikanischen Regierung.
Der Fall um den "Chino" gab natürlich in der mexikanischen Öffentlichkeit Anlass zu verschiedensten Gerüchten. War das Geld für den Wahlkampf bestimmt, wie die einen sagen? Oder waren es Mittel der CIA, die dazu hätten dienen sollen, vor dem Hintergrund eines damals als wahrscheinlich geltenden Wahlsiegs von López Obrador Under-cover-Operationen nach dem Vorbild von Iran- und Contragate durchzuführen? Die Antwort steht unter dem Sternenbanner.

Widerstand formiert sich

Angesichts der angespannten Lage polarisieren sich die Kräfte auch auf der Seite der Opposition und des Widerstands. In Mexiko gibt es derzeit eine ganze Bandbreite von sozialen Bewegungen, zu denen die Gewerkschafter der ISSSTE, die Bauern von La Parrota und die Aufständischen von Atenco ebenso zählen wie die Anhänger der zapatistischen Befreiungsarmee EZLN und der Widerstand der Volksbewegung in Oaxaca, der trotz der heftigen Repressionswelle im November vergangenen Jahres weitergeht.
Im Juni dieses Jahres gingen in Oaxaca erneut über 10000 Menschen auf die Straße, und derzeit bereiten sich die verschiedensten Bauernorganisationen auf eine große Mobilisierung an der vermauerten Grenze zu den USA vor, wo am 1.Januar 2008 die letzte Etappe des NAFTA-Vertrags in Kraft treten soll, der den ungehinderten und zollfreien Import von landwirtschaftlichen Produkten aus den USA ermöglichen soll.
Was das für ein Land bedeutet, in dem über 50% der Bevölkerung nach wie vor auf dem Land leben, ist kaum vorstellbar; zumal gleichzeitig ein Großteil der Maisproduktion in diesem Jahr für den Export in die USA bestimmt ist, wo er zu Ethanol verarbeitet werden soll, um das erwartete Erdöldefizit der USA abzudecken. So soll etwa der gesamte Maisvorrat in Sinaloa noch dieses Jahr in die USA exportiert werden, was den Preis für die Tortillas — das Grundnahrungsmittel aus Maisfladen — sprunghaft von 8 auf 18 Pesos je Kilo treiben wird.
Soziale Konflikte sind also vorprogrammiert. Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass sie politisch gelöst werden können, u.a. weil die Oppositionspartei PRD in sich gespalten ist: in einen institutionellen Flügel, der aus Abgeordneten, Senatoren und gut bezahlten Mitgliedern von immer weniger Landesregierungen besteht, und die Anhängerschaft des ausgetricksten Präsidentschaftskandidaten López Obrador, der sich am 20.November des vergangenen Jahres von Millionen von Menschen als "presidente legítimo" ausrufen ließ und inzwischen eine Art Gegenregierung zusammengestellt hat, die die Regierung Calderón nach wie vor nicht anerkennt.
Angesichts dieser inneren Polarisierung des Landes gleicht die gegenwärtige Lage in Mexiko einer Ruhe vor einem allseits erwarteten Sturm. Die meisten sozialen Bewegungen bereiten sich in ihren strategischen Plänen auf einen längeren Kampf vor, der zum Jahreswechsel beginnen soll und 2010 in eine kritische Phase gehen würde. Auf Subcomandante Marcos geht die Einschätzung zurück, das Jahr 2010 — genau 200 Jahre nach der Unabhängigkeit und 100 Jahre nach dem Beginn der mexikanischen Revolution — könnte zum Schlüsseljahr für ein mögliches Auseinanderbrechen des politischen Systems werden; ihr ist durchaus etwas abzugewinnen.
Vielleicht behalten aber doch die Mayas Recht, deren Kalender für 2012 das Ende eines historischen Zyklus voraussieht, was manche als den "Untergang der Welt" interpretieren. Die Antwort darauf steht wie immer in den Sternen.

Der Autor leitet das Institut für interkulturelle Forschung und Zusammenarbeit in Wien.


Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo

  Sozialistische Hefte 17   Sozialistische Hefte
für Theorie und Praxis

Sonderausgabe der SoZ
42 Seiten, 5 Euro,

Der Stand der Dinge
Perry Anderson überblickt den westpolitischen Stand der Dinge   Gregory Albo untersucht den anhaltenden politischen Erfolg des Neoliberalismus und die Schwäche der Linken   Alfredo Saa-Fidho verdeutlicht die Unterschiede der keynsianischen und der marxistischen Kritik des Neoliberalismus   Ulrich Duchrow fragt nach den psychischen Mechanismen und Kosten des Neoliberlismus   Walter Benn Michaelis sieht in Barack Obama das neue Pin-Up des Neoliberalismus und zeigt, dass es nicht reicht, nur von Vielfalt zu reden   Christoph Jünke über Karl Liebknechts Aktualität





zum Anfang