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Wir stehen nicht am Ende, sondern erst am Anfang des Krieges
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Direkte Solidarität Chiapas vom 03.11.2002 |
Die mexikanischen Basisbewegungen können Erfolge im Kampf gegen den Plan Puebla-Panama feiern. Gleichzeitig verschärfen sich in Chiapas die Auseinandersetzungen um die indigene Autonomie. Doch die Regierung Fox betrachtet den Konflikt in Chiapas als beendet. Und die EZLN? Die Zapatistas scheinen sich in einem Abnützungskrieg zu befinden, in dem das Erkennen einer nationalen politischen Perspektive immer schwieriger wird.
San Salvador Atenco — Der Kampf der Zapatistas macht Schule
Ende Juli überraschte der nicht sehr glücklich regierende Vicente Fox für einmal mit einer positiven Nachricht: Die Enteignungsdekrete gegenüber den Bauern von San Salvador Atenco wurden rückgängig gemacht. Damit wurde ein Konflikt um den Bau eines neuen Grossflughafens ausserhalb von Mexiko Stadt beendet, der international für grosses Aufsehen gesorgt hatte (siehe ausführlicher im letzten Correos). Der erfolgreiche Kampf der bloss mit Macheten bewaffneten Bauernfamilien wurde somit zum Fanal für einen entschlossenen Widerstand gegen den Plan Puebla-Panama. Eine Delegation der widerständigen Gemeinde reiste ein Jahr zuvor nach Chiapas und hat sich mit den Zapatisten beraten; sie kehrten zurück in ihre Gemeinde mit dem Mut, sich der Regierungsarroganz mit aller Kraft entgegenzustellen.
Die Rücknahme der Land-Enteignungen und somit die Beerdigung eines der Vorzeigeprojekte der Regierung Fox ist ein wichtiger Erfolg für die erstarkende Bewegung gegen den Plan Puebla-Panama — wenn auch nur ein Etappensieg. Und mehreren Führern der jungen Bauernbewegung drohen langjährige Haftstrafen, bisher jedoch konnte ihnen nicht der Prozess gemacht werden, denn die Bevölkerung von San Salvador Atenco deklarierte sich Mitte September nach längeren Beratungen in einer Gemeindeversammlung als "municipio autónomo", als autonomer Bezirk. Dem Beispiel der Zapatistas folgend aberkennen sie die Legitimität der lokalen PRI-Regierung, zahlen keine Steuern mehr und verweigern staatlichen Funktionären den Zutritt. Das im Kampf gegen den Flughafen gewonnene Selbstbewusstsein ermöglicht es ihnen, in die eigenen Kräfte zu vertrauen und sich unabhängig von Parteien und staatlicher Einmischung selber zu regieren.
Bewaffnete Auseinandersetzungen in Chiapas
Kaum war der Kampf um Atenco entschieden, begannen sich in Chiapas gewaltsame Auseinandersetzungen zu häufen. Von Ende Juli bis Ende August 2002 wurden in vier autonomen Bezirken insgesamt vier zapatistische Indígenas getötet und rund 20 weitere verletzt, zahlreiche Familien beider Lager sind aus Angst vor weiteren Gewaltakten geflohen. Je nach lokalen Kräfteverhältnissen haben Milizionäre der EZLN oder paramilitärische Gruppierungen die Kontrolle über diese Gemeinden oder Teile davon übernommen. An mehreren Orten errichteten die Zapatistas Strassensperren, wo sich Dutzende von nur mit Macheten bewaffnete Bauern aus verschiedenen autonomen Bezirken im Wacheschieben ablösen und so mit massiver Präsenz weitere Angriffe zu verhindern suchen. Diese Wachen werden meist auch von internationalen BeobachterInnen unterstützt.
Dabei sind vordergründig Familienkonflikte und Landstreitigkeiten die Ursachen (siehe dazu den Artikel im letzten Correos), doch bei genauerer Analyse ist die Strategie der Aufstandsbekämpfung erkennbar: So greifen zum Beispiel Teile von ehemals verbündeten Organisationen (wie die ORCAO) die zapatistischen NachbarInnen an, welche sich nicht dem Regierungsprogramm PROCEDE zur Vergabe persönlicher Landtitel anschliessen wollen. Bekommt man diesen Landtitel, dann werden einem auch sofort Unterstützungsprogramme mit euphemistischen Namen wie Procampo oder Oportunidades angeboten und die damit verbundenen günstigen Kredite für Viehzucht sind eine grosse Verlockung; doch das Vieh braucht mehr Land, als bei der gemeinsamen Landbesetzung 1994 zugeteilt, und da wäre doch noch die Milpa, das Maisfeld des zapatistischen Nachbarn, der dieses ja "illegal" besetzt hält ...
In anderen Fällen wurden zapatistische Strassensperren angegriffen, die den Alkohol- und Drogenhandel sowie die illegale Ausfuhr von Edelhölzern aus dem lakandonischen Urwald verhinderten. Einträgliche Geschäfte, welche die regierungstreuen Indígenas in stark militarisierten Gebieten betreiben, und die sie auch mit Waffengewalt durchzusetzen gewillt sind.
Doch die für die zapatistische Bewegung gefährlichsten Angriffe waren diejenigen, die klar gegen Verantwortliche der autonomen Verwaltung gerichtet waren; in Amaytick, am Eingang der strategisch wichtigen Naturschutzzone "Montes Azules", wurden zwei Vertreter der autonomen Behörden bei dem Versuch, eine Familienangelegenheit zu schlichten, von bewaffneten Kontrahenten überrascht — einer verbalen Auseinandersetzung folgte ein Schusswechsel, beide Zapatistas wurden ermordet. Einer der Angreifer erlitt eine Schussverletzung. Und in der Zona Norte ermordete die Verbrecherbande "Los Aguilares" den zapatistischen Verantwortlichen der Gemeinde Kana’kil (zu den Aguilares siehe die Artikelübersetzung auf www.chiapas.ch).
Gibt es überhaupt Paramilitärs in Chiapas?
Dabei sind alle diese in komplexen lokalen Machtstrukturen wurzelnden Gewaltausbrüche kaum blosse Einzelereignisse, denn die insgesamt sechs "Zwischenfälle", wie sie in der Presse genannt werden, geschahen innerhalb von vier Wochen, und seit sich die kritische Öffentlichkeit zu Wort meldete, Protestbriefe und Beobachter- Karawanen organisiert wurden, gab es plötzlich keinen einzigen weiteren Überfall auf zapatistische Strukturen. Doch verhaftet wurde auch niemand, die Morde vom August werden so langsam zu weiteren Fällen "in der Geschichte", wie Hermann Bellinghausen in der Tageszeitung La Jornada schreibt. So wie die über hundert weiteren Toten, welche die Paramilitärs in Chiapas auf dem Gewissen haben. Man erinnere sich nur an das Massaker von Acteal, wo vor bald fünf Jahren 45 Menschen ihr Leben verloren: die Polizeieinheit zur "Bekämpfung von bewaffneten zivilen Gruppen", welche eigens in der Folge von Acteal geschaffen wurde, konnte bisher keine der 17 von BeobachterInnen identifizierten bewaffneten Gruppen dingfest machen. So befinden sich die Waffen, mit denen das Massaker von Acteal begangen wurden, nach wie vor in den Händen von Paramilitärs. Ab und zu werden ein paar kleine Fische verhaftet, beispielsweise 27 Mitglieder von "Paz, Desarrollo y Justicia" Mitte September in der Zona Norte. Sie werden aber diverser weniger schwer wiegender Delikte angeklagt und meist, wie Samuel Sanchez Sanchez, der historische Führer dieser Gruppe, nach kurzer Haft wieder freigelassen; aber die eigentlichen Hintermänner haben nichts zu befürchten. Nur selten, wie im Falle von Acteal und der Zona Norte, lassen sich die Verbindungen zum Staatsapparat direkt nachweisen. Im und um das Naturschutzgebiet "Montes Azules" sind zudem im Rahmen des Plan Puebla-Panama starke Interessen der multinationalen Firmen wie Novartis und ABB zu verzeichnen; die paramilitärischen Gruppen könnten hier versuchen, die Widerstandsbewegung durch Vertreibungen zu schwächen.
Der Begriff "Paramilitärs" wird von den Zapatistas auf alle Gruppen angewendet, welche sie in den letzten Monaten gewaltsam attackiert haben. Dies führte zu Unbehagen bei einigen MenschenrechtlerInnen hier wie in Europa, welche nicht in jedem einfachen Bauern, der sein Stück Land legalisieren will, gleich einen entschlossenen Paramilitär sehen mögen, man müsse da differenzieren. Noch einen Schritt weiter geht die chiapanekische Regierung Salazar, die vor zwei Jahren mit dem Versprechen angetreten ist, die Straflosigkeit zu beenden. Pablo Salazar und sein "linker" Innenminister Emilio Zebadua leugnen rundweg die Existenz paramilitärischer Gruppierungen und reduzieren die Konflikte auf innerkomunitäre Auseinandersetzungen, in einem Fall bezeichneten sie die Ermordung eines Zapatisten gar als "Jagdunfall" — die Zeugenaussage des zehnjährigen Sohnes, der die Ermordung seines Vaters mitansehen musste, steht dazu klar im Widerspruch.
Die Frage nach der Definition des Begriffs "Paramilitär" lässt sich etwa folgendermassen beantworten: Werden bewaffnete Gruppen gegen eine Aufstandsbewegung aktiv und können diese Gruppen mit Straflosigkeit rechnen, dann sind sie offensichtlich Teil der Aufstandsbekämpfung, haben also das Plazet der Regierung. Dass die aktive Unterstützung dieser Gruppen durch Militär und Polizei in Ausbildung und Bewaffnung oft nicht nachgewiesen werden kann, und dass sie sich aus armen indigenen Bauern rekrutieren, sollte eigentlich kein Grund dafür sein, ihre Funktion als Paramilitärs — oder Parapolizei — in den Aufstandsgebieten anzuzweifeln. Wenn sie dann von Staates Seite nicht mehr gebraucht werden, dann wenden sie sich anderen einträglichen Geschäften zu, werden (wieder) zu "normalen" Verbrecherbanden.
Ein wenig anders sieht es aus mit den Bauern-Organisationen, die auf eine soziale Basis zählen können und sich mit den Zapatistas um Land streiten. Hier scheint der Abbruch des breiten Dialogs zwischen der Bauern- und Indigenenorganisationen und der EZLN einerseits und der Regierung andererseits Früchte zu tragen: Die fallenden Preise für Agrarprodukte im Zuge des NAFTA-Vertrages vertiefen die Landkrise und führen zur Spaltung zwischen den "echten" Zapatistas, die in ihrer "resistencia" bleiben und, um der Gefahr der Kooptation zu begegnen, keinen Peso von der Regierung annehmen und dem Rest, also allen anderen Bauernorganisationen, die auch mal mit der EZLN Seite an Seite kämpften. Diese Auseinandersetzungen können gewalttätige Formen annehmen, und paramilitärische Strukturen können leicht auch daraus entstehen, wenn auch eine erste Konfliktstufe eher spontanen Charakter hat. Mit den Paramilitärs gemeinsam hat diese Form von Auseinandersetzungen ihren Aufstandsbekämpfungs-Hintergrund und die völlige Straflosigkeit.
Dabei ist die Spaltungspolitik der Regierung offensichtlich sehr erfolgreich und führt zunehmend zur Isolation der verbliebenen "Autonomen" und zu bewaffneten Auseinandersetzungen, welche das Funktionieren der zapatistischen autonomen Bezirken von innen heraus erschweren. Deren de-facto-Autonomie scheint zwar immer klarere Formen anzunehmen, es werden viele neue autonome Mikrokliniken, Schulen und Kooperativen aufgebaut, doch der politische "impase", die Ausweglosigkeit, auf nationaler Ebene die Anerkennung dieser Autonomie zu erkämpfen, macht die Bewegung nicht gerade attraktiver. In dieser schwierigen Konjunktur ist es dann auch ein Leichtes, die Legitimität der autonomen Autoritäten im Konfliktfall anzuzweifeln und ihnen Willkür vorzuwerfen.
Die mexikanische Justiz entscheidet sich gegen die indigene Autonomie
Die politische Grosswetterlage bezüglich der indigenen Autonomie hat sich wenige Tage nach den Angriffen auf die zapatistischen Strukturen erneut verdüstert. Das mexikanische Bundesgericht entschied Anfang September in einer Nacht- und Nebelaktion, den Einsprachen von über 300 indigenen Gemeinden gegen das "ley indígena light" nicht stattzugeben. Damit wurde auch die juristische Schiene zur Anerkennung der Abkommen von San Andrés verbaut. Der Aufschrei der mexikanischen Zivilgesellschaft war zwar durchaus zu hören, aber entwickelte nicht die Kraft, um das Parlament und die Regierung Fox zur erneuten Diskussion der indigenen Rechte zu zwingen. Einzig am "Día de la Raza" der an die sogenannte Entdeckung Amerikas am 12. Oktober erinnert, zeigte sich, dass indigene Bewegung und vor allem unzählige soziale Organisationen durchaus noch ein Mobilisierungspotenzial besitzen: Die Südgrenze zu Guatemala wurde durch Blockaden geschlossen, auch sonst waren alle wichtige Strassen in Chiapas und viele in anderen südlichen Bundesstaaten blockiert, im länderübergreifenden Protest gegen den Plan Puebla-Panama und für eine Anerkennung der indigenen Rechte.
Die EZLN hielt sich am 12. Oktober wider Erwarten zurück, die zapatistische Basis nahm offensichtlich nicht an den Blockaden und Demonstrationen teil. Seit der Riesenmobilisierung rund um den Marsch in die Hauptstadt im Frühjahr 01 und dem anschliessenden Verrat der Abkommen von San Andrés im mexikanischen Kongress verharrt die EZLN im Schweigen. Nicht zum ersten Mal stellt die zapatistische Führung die Öffentlichkeit — und die eigene Basis — auf eine Geduldsprobe. Im Moment scheint auch wirklich alles gesagt, was es zu sagen gibt. Sollte das "ley indígena light" nun tatsächlich umgesetzt werden, dann werden in allen 32 Bundesstaaten unterschiedliche Gesetzestexte erarbeitet, welche auch den nationalen Protagonismus der EZLN in der Indigenafrage beenden.
Die autonomen Gemeinden bauen weiterhin ihre unspektakuläre, alltägliche de-facto-Autonomie auf, die Leute rechnen hier nicht in Wahlperioden, sondern in Generationen. Dennoch wird die nächste politische Mobilisierung der Zapatistas irgendwann kommen. Ob sie so friedlich sein wird wie in den letzten Jahren, wagt in Chiapas niemand vorherzusagen. Eine Woche nach dem negativen Entscheid des Bundesgerichts, anlässlich der zapatistischen Feierlichkeiten des mexikanischen Unabhängigkeitstages, stellte ein Verantwortlicher in einem autonomen Bezirk fest: "Wir stehen nicht am Ende, sondern erst am Anfang des Krieges".
Quelle:
Direkte Solidarität mit Chiapas/Café RebelDía:
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