Mexiko: "La Crisis" trifft das Land härter als erwartet

Die schwache Binnenkonjunktur und der drastische Nachfragerückgang für mexikanische Produkte in den USA haben hunderttausende mexikanische Arbeitsplätze verschwinden lassen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Noch Ende September des vergangenen Jahres erklärte Mexikos Finanzminister Agustín Carstens optimistisch, dass sein Land "gut vorbereitet" sei den Auswirkungen der Finanzkrise in den Vereinigten Staaten zu trotzen und prophezeite der mexikanischen Wirtschaft für die Zukunft ein immerhin noch "geringeres Wachstum". Davon ist inzwischen nicht mehr die Rede. Anfang Januar dieses Jahres musste Carstens einräumen, dass 2009 "möglicherweise" von einem Nullwachstum auszugehen sei, was nur wenige Wochen später durch Guillermo Ortiz, den Direktor der mexikanischen Nationalbank Banco de México, bestätigt wurde, der auch ein Schrumpfen des Bruttoinlandproduktes für möglich hielt. Diese Vermutung ist inzwischen Gewissheit. Aktuelle Zahlen des Nationalen Amtes für Statistik (INEGI) belegen für das letzte Quartal 2008 ein Minuswachstum des mexikanischen BIP um 1,6 Prozent.

Die um 15,8 Prozent verminderte Binnennachfrage und die um 16 Prozent gefallenen Exporte haben alleine im Dezember des letzten Jahres die mexikanische Industrieproduktion um 11,3 Prozent zurückgehen lassen. Besonders hart getroffen hat es nach Angaben der Vereinigung der mexikanischen Automobilindustrie (AMIA) die Kraftfahrzeugbranche. Im Vergleich zum Januar des Vorjahres meldet der Verband einen Einbruch bei der KFZ-Produktion um 50,9 Prozent und den Rückgang der Exporte in die Vereinigten Staaten - Mexikos wichtigstem Handelspartner - um 58,2 Prozent für den ersten Monat dieses Jahres.

Doch nicht nur Mexikos Industrie leidet unter den Auswirkungen von "La Crisis", auch der Agrarsektor hat mit großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Am 01.Januar 2008 endeten die im Nordamerikanischen Freihandelsabkommen (NAFTA) vereinbarten Schutzfristen für die mexikanische Landwirtschaft, was zwischen Januar und Oktober 2008 die Importe von hochsubventioniertem Mais, Weizen und Reis aus den USA um 56% ansteigen ließ. Zusammen mit dem internationalen Preisverfall für Mais - Mexikos wichtigstem Grundnahrungsmittel - und den stark gestiegenen Kosten für importierte Pestizide und Düngemittel durch den drastischen Kursverlust des Peso, sind die nicht mehr reglementierten Getreideimporte eine zunehmende Bedrohung für die wirtschaftliche Existenz zahlloser mexikanischer Kleinbauern.

Nach Angaben des Sozialversicherungsinstitutes (IMSS) hat Mexiko zwischen November 2008 und Januar 2009 bereits 541.000 versicherungspflichtige Arbeitsplätze verloren und eine Umkehr dieser Entwicklung ist nicht in Sicht. Der mexikanische Peso hat in den letzten sechs Monaten gegenüber dem US-Dollar 33 Prozent an Wert eingebüßt, was die Importe aus den Vereinigten Staaten stark verteuert hat und die Inflationsrate auf 5,81 Prozent - den höchsten Wert in sieben Jahren - ansteigen ließ.

Die Banco de México versucht diesem Trend mit milliardenschweren Peso-Käufen entgegenzuwirken, konnte ein Abrutschen der Landeswährung unter die symbolträchtige Marke von 15 Peso pro Dollar jedoch nicht verhindern. Schon jetzt fällt es angesichts der schwierigen Wirtschaftslage vielen Mexikanern immer schwerer die notwendigen Geldmittel für ihren Lebensunterhalt aufzubringen. Die katholische Kirche Mexikos spricht bereits vom "Verschwinden der Mittelklasse" und beklagt den Rückgang ihrer Spendengelder. José Guadalupe Martín Rábago, der Erzbischof von León erklärte dem Politmagazin Proceso:

Die Einnahmen der Gemeinden sind um bis zu 40% gesunken. Die gleichen Gemeinden sagen mir, dass die Zuwendungen der Gläubigen immer geringer ausfallen, was dadurch zu erklären ist, dass die Menschen nicht genug zum Leben haben und daher auch nicht mehr teilen können.

Um die Auswirkungen der Krise auf die Bevölkerung abzumildern kündigte Mexikos rechtskonservativer Präsident Felipe Calderón von der Partei der Nationalen Aktion (PAN) Anfang Januar an, die Preise für Benzin und Haushaltsgas für den Rest de Jahres einzufrieren, sowie die Stromtarife für Unternehmen zu senken. Zusätzlich soll ein von der Regierung für 2009 beschlossene Investitionsprogramm auf insgesamt 570 Milliarden Peso (ca. 30,05 Milliarden Euro) aufgestockt werden, um über Infrastrukturprojekte wie den Bau von Straßen und Flughäfen den Arbeitsmarkt zu beleben.

Viele Kritiker Calderóns halten diese Maßnahmen für unzureichend und es war ausgerechnet Mexikos bekanntester Unternehmer und der laut Forbes-Liste zweitreichste Mensch auf dieser Erde - Carlos Slim Helu -, der anlässlich eines Kongresses mit dem Titel "Mexiko und die Krise: Was tun um zu wachsen?" ein düsteres Szenario für die wirtschaftliche Entwicklung seines Heimatlandes entwarf. Slim erklärte am 9. November in Mexiko-Stadt:

Es wird einen drastischen Einbruch im internationalen Handel geben, die Arbeitslosigkeit wird so stark ansteigen wie seit den 30er-Jahren nicht mehr, was viele kleinere, mittlere und große Unternehmen gefährdet. Uns erwartet in der Zukunft eine sehr schwierige Situation.

Der mexikanische Arbeitsminister Javier Lozano bezeichnete daraufhin Slim Helu als "Schwarzseher" und auch Präsident Calderón war von den Kommentaren seines prominenten Landsmannes wenig angetan. Zwei Tage später sagte Calderón an die Adresse von Slim Helu gerichtet: "Wir sind alle verpflichtet Mexiko in diesen schwierigen Zeiten zu helfen und ganz besonders jene, die das Meiste von dieser großen Nation empfangen haben."

Angespannte Sicherheitslage

Viele Mexikaner haben den Eindruck, dass die Regierung Calderón der gegenwärtigen Wirtschaftskrise nicht mit der nötigen Entschlossenheit entgegentritt und die aktuelle Situation angesichts der bevorstehenden Zwischenwahlen für das mexikanische Parlament am 05. Juli diese Jahres, zu positiv bewertet.

Einer aktuellen Umfrage der Tageszeitung Reforma zufolge, hat Calderóns PAN seit Dezember letzten Jahres bereits 10 Prozentpunkte verloren und liegt nun mit einem Abstand von 12 Prozentpunkten deutlich hinter der Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) nur noch auf Platz zwei der Prognose. Neben seinem wenig überzeugenden Krisenmanagement hat den Präsidenten vor allem die prekäre Sicherheitslage Mexikos viele Sympathien in der Bevölkerung gekostet.

Calderón, der am 1. Dezember 2006 mit dem Versprechen angetreten war, den organisierten Drogenhandel mit "allen zur Verfügung stehenden Mitteln" zu bekämpfen, hat durch sein Beharren auf vorwiegend militärischen Mittel zur Lösung dieses Konfliktes eine Gewaltspirale in Gang gesetzt, die alleine im letzten Jahr über 6.000 Menschen das Leben kostete. Täglich berichten die mexikanischen Medien ausführlich über die blutigen Kämpfe innerhalb der rivalisierenden Kartelle und die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften und Mitgliedern der Drogenbanden. Auch unbeteiligte Zivilisten und kritische Journalisten müssen zunehmend um ihr Leben fürchten.

Das US-Außenministerium hat angesichts dieser Entwicklung erst kürzlich seine Reisewarnung für Mexiko erneuert und bereits im Dezember 2008 erschien eine Studie des U.S. Joint Forces Command, in der Mexiko als möglicher "failed state" bezeichnet und mit Pakistan verglichen wird. Wörtlich heißt es in dem Bericht, dass "für zwei große und wichtige Staaten die Gefahr eines plötzlichen und schnellen Zusammenbruchs besteht: Mexiko und Pakistan." Weiter heißt es in dem Dokument, dass "die mexikanische Möglichkeit zwar weniger wahrscheinlich erscheint, aber sich die Regierung, seine Politiker und die Justiz unter permanentem Druck der kriminellen Banden und Drogenkartelle befinden".

Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangt auch der pensionierte U.S. Army-General und ehemalige Antidrogen-Zar der Vereinigten Staaten, Barry R. McCaffrey, der in einer Ende Dezember veröffentlichten Analyse schrieb, dass "Mexiko nicht nur einer gefährlichen Kriminalität gegenüber steht, es kämpft um sein Überleben gegen den Drogen-Terrorismus".

In der Tat hat die alltägliche Gewalt in Zusammenhang mit dem organisierten Drogenhandel ein beängstigendes Ausmaß erreicht. Besonders in den nördlichen Grenzregionen scheint der mexikanische Staat weitgehend die Kontrolle verloren zu haben. Der Rechtsprofessor Edgardo Buscaglia von der Privatuniversität ITAM in Mexiko-Stadt schätzt, dass es in Mexiko auf ca. 8 Prozent der Fläche des Landes rund 200 Zonen gibt, in denen die Drogenkartelle über mehr Macht und Einfluss verfügen als die staatlichen Institutionen.

Ein trauriges Beispiel für diese These ist die Stadt Ciudad Juárez im Bundestaat Chihuahua. Trotz der Präsenz von 1.600 Polizisten und 3.000 Armeeangehörigen starben dort im Monat Februar bereits 250 Menschen eines gewaltsamen Todes. Erst vor wenigen Tagen quittierte der Polizeichef der Stadt Roberto Orduña Cruz seinen Dienst, nachdem die "Narcos" angekündigt hatten, sie würden alle 48 Stunden ein Mitglied der Sicherheitskräfte töten, solange er nicht von seinem Posten zurücktrete - und diese Warnung auch in die Tat umsetzten. Auch der Bürgermeister von Ciudad Juárez, José Reyes Ferriz, wurde mit dem Tode bedroht, nachdem er erklärt hatte die Korruption innerhalb des Polizeicorps entschiedener bekämpfen zu wollen.

Ob Mexiko deshalb auf dem Weg zu einem "failed state" ist, wird in der mexikanischen Öffentlichkeit heftig und kontrovers diskutiert. Die Mehrzahl der Analysten hält es für unwahrscheinlich, dass Mexiko plötzlich zusammenbricht, warnen jedoch vor der Gefahr eines zunehmend schwachen Staates, in dem ähnlich wie in Russland die Mafia immer größere Teile der Gesellschaft unterwandert. Auch der mexikanische Präsident hat sich zu dem Thema vor wenigen Tagen öffentlich geäußert und erklärte in einem Interview mit der Nachrichtenagentur Associated Press:

Zu behaupten Mexiko sei ein gescheiterter Staat, ist absolut falsch, ich habe nicht einen einzigen Teil des mexikanischen Territoriums verloren.

Rückgang der Staatseinnahmen

Trotz der positiven Statements der Regierung Calderón meiden inzwischen viele US-Touristen die nördlichen Grenzgebiete Mexikos. Oscar Jesús Escobedo, Tourismusminister des Bundesstaates Baja California, schätzt, dass im letzten Jahr möglicherweise 800.000 potentielle Besucher den Staat aus Angst um ihre Sicherheit gemieden hätten. "Wir hatten große Probleme in der Grenzregion den Tourismus voranzubringen", sagte Escobedo und bezifferte den Schaden für die Reiseindustrie in diesem Teil des Landes auf 130 Millionen US-Dollar.

Insgesamt sanken Mexikos Einnahmen aus dem Tourismus trotz des günstigen Wechselkurses für europäische und us-amerikanische Reisende nach Angaben von Delia Paredes, Ökonom bei der Banco Santander, im letzten Quartal um 3,8 Prozent. Auch die drei anderen wichtigsten Devisenquellen des Landes weisen laut Banco Santander einen Negativtrend auf. Die ausländischen Direktinvestitionen fielen von 27,2 Milliarden US-Dollar in 2007 auf 18,6 Milliarden US-Dollar im letzen Jahr, und Mexikos Einnahmen aus dem Ölexport werden bedingt durch den Förderrückgang von ca. 9 Prozent, den niedrigen Ölpreis und die gesunkene Nachfrage im laufenden Jahr deutlich geringer ausfallen als in 2008. Lag der durchschnittliche Exportpreis für ein Barrel Rohöl damals noch bei 84,35 US-Dollar waren es im Januar 2009 lediglich noch 37,65 US-Dollar. Damit werden sich, so der Energie-Analyst David Shields, die Erlöse des staatlichen Erdölkonzerns PEMEX, nach dem Rekordgewinn von 43 Milliarden US-Dollar im letzten Jahr, in 2009 wohl drastisch auf ca. 19 Milliarden US-Dollar vermindern.

Auch die Überweisungen der schätzungsweise 12 Millionen Mexikaner in den USA fielen laut Informationen der Banco de México von 26,07 Milliarden US-Dollar in 2007 um 3,6 Prozent auf 25,14 Milliarden US-Dollar im letzten Jahr, nachdem sie in der Vergangenheit teilweise zweistellige Zuwachsraten aufwiesen. Durch die schwierige wirtschaftliche Lage in den Vereinigten Staaten wird es für viele Mexikaner in den USA immer schwieriger, genügend Geld aufzubringen, um ihre Verwandten südlich des Rio Grande wie gewohnt zu unterstützen.

Gleichzeitig wagen weniger Ausreisewillige den gefährlichen Weg in das nördliche Nachbarland, denn noch immer sterben pro Woche mindestens 10 Menschen bei dem Versuch, die Grenze zwischen den USA und Mexiko ohne gültige Papiere zu überqueren. Die Hoffnung vieler Pro-Migranten Organisationen, diese traurige Situation würde sich durch die Wahl Barack Obamas grundlegend ändern, hat sich offensichtlich nicht erfüllt.

Janet Napolitano, die neue Chefin des US-Heimatschutzministeriums, setzt wie bereits ihr Vorgänger Michael Chertoff auf vermehrte Razzien und Ausweisungen zur Abschreckung unerwünschter Einwanderer, fordert mehr "Bodentruppen" zur Bewachung der Grenze und betont ihren Willen, dem Rechtsstaat in Migrationsfragen wieder mehr Geltung zu verschaffen. Die Auswirkungen der repressiven US-Einwanderungspolitik spiegeln sich auch in den Zahlen des Nationalen Amtes für Statistik (INEGI) wieder. Nach Angaben von Eduardo Sojo, dem Leiter des Institutes, verließen zwischen August 2006 und August 2007 noch 933,000 Mexikaner ihr Land in Richtung USA, während es im Zeitraum von August 2007 bis August 2008 nur noch 654.000 Menschen waren. Die Zahl der Rückkehrer blieb in dieser Periode nahezu konstant.

In ihrer Summe lassen all diese Daten darauf schließen, das Mexiko wirtschaftlich äußerst schwierigen Zeiten entgegensieht und das ganze Ausmaß der Krise aktuell noch gar nicht abzusehen ist. Sehr viel wird davon abhängen wie sich die ökonomische Lage in den Vereinigten Staaten entwickelt, denn viele Mexikaner wissen aus eigenen, leidvollen Erfahrung in früheren Krisen nur zu gut, dass "wenn die Wallstreet Schnupfen hat, Mexiko mit einer Lungenentzündung im Bett liegt".