Durch Mexiko unterwegs auf der «Bestie»

Die Reise auf dem Güterzug durch Mexiko ist lebensgefährlich. Dennoch versuchen es jedes Jahr Hunderttausende von Migranten. Denn die Hoffnung auf einen Ausweg aus der Armut ist grösser als die Angst.

Matthias Knecht, Huehuetoca
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Ein Migrant in der kürzlich neu eröffneten Notunterkunft für illegal Eingewanderte in der Ortschaft Huehuetoca nahe der mexikanischen Hauptstadt. (Bild: EDGARD GARRIDO / Reuters)

Ein Migrant in der kürzlich neu eröffneten Notunterkunft für illegal Eingewanderte in der Ortschaft Huehuetoca nahe der mexikanischen Hauptstadt. (Bild: EDGARD GARRIDO / Reuters)

Das Pfeifen des Güterzuges unterbricht jäh die Siesta. «Pa' arriba, pa' arriba!», ruft aufgeregt ein Mann am Eingangstor der Notherberge in Huehuetoca, 50 Kilometer nördlich von Mexiko-Stadt. Alle wissen, was gemeint ist. Der Zug fährt nach oben, nach Norden. Männer, Jugendliche und einige wenige Frauen, die gerade noch in der Mittagshitze dösten, stopfen eilig ihre wenigen Habseligkeiten in die Rucksäcke und laufen zu den Gleisen gegenüber der Herberge. Schon schiebt sich das Ungetüm heran. Drei Diesellokomotiven ziehen in bedrohlich wirkender Langsamkeit eine Kette von Wagen, die bis zum Horizont reicht. Die Erde bebt, das Bauchfell vibriert, der Schädel brummt. «La bestia» nennen sie den Zug in Richtung Vereinigte Staaten, die «Bestie». Nur ein halbes Dutzend Menschen schafft den lebensgefährlichen Sprung auf einen der Wagen. Der Rest bleibt zurück und wartet auf die nächste Chance.

Zunehmende Grausamkeit

Der Priester Pedro Pantoja atmet erleichtert auf. Niemand geriet diesmal unter den Zug, niemand verlor Arme oder Beine. Seit zwölf Jahren setzt sich der katholische Geistliche für diejenigen ein, die auf der «Bestie» den Weg in ein besseres Leben suchen und stattdessen oft die Hölle durchleben. «Die Grausamkeit nimmt ständig zu», sagt Pantoja. Damit meint er nicht nur die fürchterlichen Verletzungen derjenigen, die vom Zug fallen.

Priester Pedro Pantoja. (Bild: Matthias Knecht)

Priester Pedro Pantoja. (Bild: Matthias Knecht)

Die mehrere Wochen lange Fahrt auf dem Zugdach ist die billigste Art, Mexiko zu durchqueren, aber zugleich auch die gefährlichste. Banden und korrupte Polizisten überfallen regelmässig die wehrlosen Reisenden. Im besten Fall werden diese um ihre letzten Pesos erleichtert. Im schlimmsten Fall werden sie entführt, damit Lösegeld erpresst werden kann. Wer keine zahlungswilligen Verwandten hat, wird oft ermordet und irgendwo verscharrt. Jahr für Jahr verschwänden in Mexiko darum mehr als 10 000 Migranten spurlos, resümiert Pantoja.

Heute ist der Geistliche Ehrengast in Huehuetoca, wo er die eben erst eröffnete Notherberge segnet. Sie besteht aus einer Küche, einem Bad und zwei viel zu kleinen Räumen, wo die täglich 200 neuen Gäste beherbergt werden. Die meisten campieren im Garten, unter straff gespannten Plasticplanen. Wer in Huehuetoca ankommt, hat bereits etwa 1900 Kilometer auf dem Zugdach hinter sich und etwa genauso viel vor sich, je nach Route. Zwei Tage dürfen die Gäste bleiben und sich ausruhen, dann müssen sie weiter.

Keine Zukunft in der Heimat

Einer der Gäste ist der 21-jährige Josué aus Honduras. Wie alle anderen nennt er seinen Nachnamen nicht, aus Furcht vor den Behörden. Josué will nach Houston, Texas, wo bereits viele seiner Landsleute leben. Er unternimmt die lebensgefährliche Reise, weil er daheim in Honduras keine Zukunft mehr sieht. Trotz seiner Ausbildung als Informatiker findet er keine Arbeit, um seine Frau und seine drei Kinder ernähren zu können. «Es gibt nichts, und es wird jeden Tag schlimmer», so fasst er die Hoffnungslosigkeit seiner Heimat zusammen. Von Texas aus hofft er seine Familie ernähren zu können, ganz gleich wie: «Ich nehme, was kommt, auf dem Bau, in der Landwirtschaft oder sonst etwas.»

Zehn Tage zuvor brach Josué auf. Von Guatemala aus durchschwamm er den Grenzfluss nach Mexiko. Dort schlug er sich einige Kilometer um Polizei- und Armeekontrollen herum bis zur Station Tenosique durch, dem südlichen Ausgangspunkt der «Bestie». Bereits nach wenigen Stunden Fahrt wurde der komplette Zug in Salto de Agua, im Gliedstaat Chiapas, überfallen. Die Räuber waren Mitarbeiter der Zuggesellschaft. Sie brachten Josué und Hunderte weiterer Migranten um ihre dürftigen Reisekassen. Die Polizei unternahm nichts. «Die Angst ist immer da», so beschreibt Josué die Reise auf der «Bestie» und fügt resigniert hinzu: «Was will man schon machen? Es gibt keine Alternative.»

Ohne gültige Papiere

Wie Josué stammen alle Gäste der Notherberge aus Honduras, Nicaragua, Guatemala oder El Salvador, den Armenhäusern Lateinamerikas. 200 000 bis 300 000 Menschen aus den zentralamerikanischen Kleinstaaten verlassen jährlich ihre Heimat, um auf der «Bestie» die Vereinigten Staaten zu erreichen, schätzt der Priester Pantoja. Bereits in Mexiko sind sie Sans-Papiers, damit recht- und schutzlos. Denn Mexiko erteilt nur jenen ein Visum, die auch für die Vereinigten Staaten gültige Papiere haben. Das solle die Menschen wohl von der Emigration in den Norden abschrecken, vermutet der streitbare Geistliche und schimpft: «Mexiko erledigt die schmutzige Arbeit für die Amerikaner.»

Pantoja leitet selbst eine weitere Notherberge in El Saltillo im Norden Mexikos. Seit Jahren weist er auf die Tragödien hin, die sich täglich auf den mexikanischen Zügen abspielen, und reist dafür durch den halben Kontinent. Einmal spricht er in Washington vor, wo die Interamerikanische Menschenrechtskommission ihren Sitz hat, einmal verhandelt er mit den Behörden in Mexiko-Stadt oder in Honduras. Doch gehört wird Pantoja erst, seit sich vor zwei Jahren das bisher grösste Massaker an zentralamerikanischen Migranten ereignete: In San Fernando, in Nordmexiko, metzelten Killer 72 zuvor vom Zug gekidnappte Menschen nieder. Sie hatten sich geweigert, für das dortige Drogenkartell zu arbeiten.

Unter internationalem Druck reformierte Mexiko seither sein Migrationsgesetz. Die Migrationsbehörde darf jetzt nicht mehr die Züge kontrollieren. Denn in der Vergangenheit verkauften deren skrupellose Beamte festgenommene Papierlose an die Drogenkartelle. Stattdessen patrouilliert nun die Bundespolizei in den Zügen. Sie fragt nicht nach dem Visum, sondern soll vor allem Gewalt und Übergriffe verhindern.

In der Praxis hat sich damit wenig geändert, klagen die Gäste in der Notherberge. In Südmexiko herrscht auf den Zügen die «Mara Salvatrucha», eine in Zentralamerika und Kalifornien aktive Jugendbande salvadorianisch-amerikanischen Ursprungs. Sie verkauft Drogen oder entführt Reisende zur Lösegelderpressung, in Komplizenschaft mit der Polizei. Diese wiederum nutzt die Güterbahnhöfe als weitere Geldquelle. Wer auf einen dort stehenden Zug aufsteigen will, muss der Polizei 100 Pesos zahlen, 7 Franken. Die meisten Reisenden bringen das Geld nicht auf und springen ausserhalb der Bahnhöfe auf die anfahrenden Züge. «Mexikos Polizisten sind krimineller als die Kriminellen selbst», resümiert der 32-jährige Luis aus Honduras. Er berichtet in Übereinstimmung mit anderen Reisenden von wild um sich schiessenden Polizisten auf den Zugdächern.

Überlebenswichtige Stationen

Herbergen wie in Huehuetoca sind darum überlebenswichtig. «Ohne solche Unterkünfte würde ich die Reise niemals schaffen», sagt José David, ein weiterer Migrant aus El Salvador. Mehrere Tage verbringt der 29-Jährige jeweils auf einem Güterzug, geplagt von Hunger und Durst, immer auf der Hut vor der Polizei, bis er wieder in der nächsten Herberge Kräfte sammelt. Seit einem Monat ist er auf diese Weise bereits unterwegs. Sein Ziel ist Kalifornien, wo besonders viele seiner Landsleute leben.

Insgesamt 54 Unterkünfte für die Migranten gibt es in Mexiko. Getragen werden sie von engagierten Bürgern und Geistlichen wie Pantoja. Einen Teil finanzieren ausländische Organisationen, so etwa das deutsche Hilfswerk Medico International. Dieses eröffnete kürzlich eine Krankenstation entlang einer der Bahnstrecken und unterstützt zudem lokale Organisationen bei der Suche nach verschollenen Migranten. Diesen zu helfen, ist eine gefährliche Arbeit. Denn in der Nähe der Herbergen lauern Kriminelle auf der Suche nach wehrloser Beute. «Das organisierte Verbrechen umgibt immer unsere Häuser. Sie sehen die Migrationsbevölkerung als Ware», sagt Pantoja und kritisiert die Untätigkeit der Behörden. «All diese Verbrechen wären nicht möglich ohne die Komplizenschaft der staatlichen Sicherheitskräfte.»

Geradezu poetisch gibt sich ein weiterer Honduraner, der sich in fliessendem amerikanischem Englisch als Michael vorstellt. Seit der Kindheit durchquerte der heute 32-Jährige unzählige Male Mexiko auf dem Güterzug, lebte einmal in New York, einmal in Honduras und immer auf der Strasse. «Mexiko ist ein Dämon. Hier geht der Tod um», rezitiert er in beschwörendem Ton. Seine fatalistische Verklärung des Todes kommt nicht von ungefähr. Lange gehörte er der «Mexican Mafia» an, einer in amerikanischen Städten aktiven, extrem gewalttätigen Jugendgang der Latinos. Fünf Jahre sass er in New York wegen Drogenhandel im Gefängnis, wurde danach einmal mehr ausgeschafft und fing sich schliesslich. Auf der Taucherinsel Roatán vor der Küste Honduras' baute er sich eine neue Existenz als Fremdenführer auf. Sie endete mit dem Staatsstreich von 2009. Der Tourismus brach ein, Michael war wieder arbeitslos. Der ewige Kreislauf von Zugreisen in den Norden und Ausschaffungen begann von neuem.

Jetzt reist Michael allerdings Richtung Süden, gegen den Migrantenstrom. Denn irgendwo auf den letzten 400 Kilometern kam ihm seine 18-jährige Schwester abhanden, mit der er unterwegs war. Das stellte er erst in Huehuetoca fest. Vielleicht fiel sie nachts erschöpft vom Zug, vielleicht wurde sie entführt. Michael fährt Station um Station zurück und forscht nach. Zuversichtlich bleibt er gerade wegen seiner kriminellen Vergangenheit in der «Mexican Mafia». Dadurch kennen ihn die Führer der konkurrierenden «Mara Salvatrucha», und er kennt sie. «Irgendwo in Südmexiko werde ich auf sie stossen. Und dann müssen wir eben ein Lösegeld für meine Schwester aushandeln», sagt er mit der Abgeklärtheit eines Menschen, für den organisierte Bandenkriminalität das Normalste der Welt ist.

Verhinderter Mathematiker

Es ist nicht nur die Armut, die die Menschen trotz Lebensgefahr in den Norden treibt. Die meisten in Huehuetoca äussern an zweiter Stelle den Wunsch nach Bildung. Doch oft bleibt es beim Traum, wie das Beispiel von Elmer zeigt. Der 26-Jährige ist das vierte Mal auf dem Zug unterwegs in Richtung New Jersey, das zu seiner zweiten Heimat wurde. Ursprünglich begann er dort zu arbeiten, um sich ein Mathematikstudium in Honduras zu finanzieren. Als inzwischen erfahrener Zimmermann verdient er in New Jersey 1000 Dollar die Woche, in bar. Für so viel Geld müssen seine Landsleute daheim fast ein ganzes Jahr schuften. Elmer war nun in Honduras, um endlich mit dem Studium zu beginnen. Nach drei Jahren auf dem Bau sei das aber nicht mehr gegangen. Es sei ihm immer schwerer gefallen, sich auf das Lernen zu konzentrieren. Dann sagt er den Satz, der an diesem Tag Dutzende von Male zu hören ist: «Ich gehe nie mehr zurück!»

Der Priester Pantoja sieht in der massenhaften Abwanderung begabter junger Menschen die eigentliche Tragik in der ganzen Migrationsdebatte. Er weist auf die neuesten Zahlen aus Honduras hin: 700 Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren verlassen Woche für Woche das Land, die meisten für immer. «Das ist ein enormer Aderlass», klagt er. Elmer und seine drei Mitreisenden studieren derweil die mexikanische Bahnkarte, die gut sichtbar vor der Küche der Herberge aushängt. Der kürzeste Weg von Huehuetoca in die Vereinigten Staaten beträgt 1079 Bahnkilometer und führt über San Luis Potosí nach Reynosa, gegenüber von McAllen, Texas. Das ist allerdings auch die gefährlichste Strecke, denn nördlich von San Luis tobt der Krieg der mexikanischen Drogenkartelle gerade besonders heftig. Sicherer ist die Pazifikstrecke über Guadalajara und Mexicali nach Kalifornien. Das aber bedeutet 1501 zusätzliche Bahnkilometer und damit eine oder zwei weitere Wochen auf dem Zugdach.

Plötzlich kommt das Gerücht auf, um 17 Uhr komme der nächste Zug vorbei, auf dem Weg nach Reynosa. Damit fällen Elmer und seine Freunde den Entscheid für die gefährliche Route. Eine halbe Stunde bleibt ihnen noch, gerade genug Zeit für eine letzte friedliche Siesta unter der Plane. Das Signal der Lokomotive wird sie schon rechtzeitig wecken.