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CHIAPAS: Die 13. Stele - Teil eins

Eine Muschel

News vom 22.07.2003
übersetzt von Dana

  Dämmerung in den Bergen des mexikanischen Südostens.

Sachte, mit einer langsamen aber stetigen Bewegung, lässt der Mond den dunklen Tuch der Nacht von ihrem (*) Körper gleiten und enthüllt endlich die erotische Nacktheit ihres Lichtes. Dann lehnt sie sich am Himmel zurück, in dem Verlangen zu sehen und gesehen zu werden, das heißt, zu berühren und berührt zu werden. Licht skizziert das Entgegengesetzte, und so, tief unten reicht ein Schatten der Wolke seine Hand und murmelt:

"Komm mit mir, sieht mit deinem Herzen was meine Augen dir zeigen, gehe mit meinen Schritten und träume in meine Arme. Über uns bilden die Sterne eine Muschelschale, mit dem Mond als Quelle und Schicksal. Sieh und höre. Dies ist ein würdiges und rebellisches Land. Die Männer und Frauen die auf ihm leben, sind wie viele Männer und Frauen auf der ganzen Welt. Lass uns gehen, um sie zu sehen und ihnen zuzuhören, jetzt, während die Zeit zwischen Nacht und Tag schwebt, und die Dämmerung Königin und Herrin dieses Landes ist.

Achte auf die Pfützen und den Schlamm. Es ist besser den Spuren zu folgen, die wie in so vielen Dingen, am meisten wissen. Hörst du das Lachen? Es kommt von einem Paar, das das uralte Ritual der Liebe wiederholt. Er murmelt etwas und sie lacht, sie lacht als ob sie singen würde. Dann Schweigen, dann Seufzen und leises Stöhnen. Oder vielleicht andersherum, zuerst Seufzen und Stöhnen, und danach Murmeln und Lachen. Aber gehen wir weiter, denn Liebe braucht keine anderen Zeugen außer Blicke, die zu Fleisch werden, und da trotz der Stunde Sonnenlicht herrscht, entkleidet sie auch die Schatten.

Komm. Setzen wir uns ein wenig hin und lass mich dir einiges erzählen. Wir befinden uns auf rebellisches Land. Hier leben und kämpfen jene, die man "Zapatisten" nennt. Und diese Zapatisten sind sehr anders . und sie bringen mehr als nur einen zur Verzweiflung. Anstatt ihre Geschichte mit Hinrichtungen, Tod und Zerstörung zu weben, beharren sie auf das Leben. Und die Avantgarden der Welt raufen sich die Haare, denn was das "Sieg oder Tod" angeht, verschwinden und sterben die Zapatisten nicht, aber sie ergeben sich auch nicht, und sie verachten Martyrium genauso wie die Kapitulation.. Sehr anders, das stimmt. Und dann gibt’s da noch den einen, den man als ihren Anführer bezeichnet, so ein Sup Marcos, dessen öffentliche Bild mehr an Cantinflas und Pedro Infante erinnert als an Emiliano Zapata und Ché Guevara. Und es ist Zeitverschwendung zu sagen, dass niemand sie ernstnimmt, denn sie sind die ersten die über ihr Anderssein Witze reißen..

Sie sind rebellische Indigenas. Damit brechen sie das traditionelle Vorurteil, zuerst von Europa, und dann all derer, die in der Farbe des Geldes gekleidet sind, die ihnen aufgezwungen wurde um zu sehen und gesehen zu werden.

Und so fügen sie sich nicht dem "diabolischen" Bild derer, die Menschen opferten um die Götter zu besänftigen, auch nicht dem Bild des bedürftigen Indigenas, der mit ausgestreckter Hand auf die Brosamen und die Almosen jenes warten, der alles hat. Auch nicht dem Bild des edlen Wilden, der von der Modernität pervertiert wird, auch nicht das des Kleinkindes, das die älteren mit seinem Kauderwelsch unterhält. Auch nicht dem Bild des unterwürfigen Peon aller Haciendas, die die Geschichte Mexikos durchlöchern. Auch nicht dem Bild des talentierten Handwerkers, dessen Erzeugnisse die Wände derer schmücken, die ihn verachten. Auch nicht dem Bild des ungebildeten Narren, der über das was über das limitierte Horizont seiner Geographie hinausgeht keine Meinung haben dürfte. Auch nicht dem Bild von jemand, der himmlische oder weltliche Götter fürchtet.

Denn du musst wissen, meine blaue Gelassenheit, dass diese Indigenas auch auf jene ärgerlich werden können, die mit ihrer Sache sympathisieren. Und Tatsache ist, dass sie nicht gehorchen. Wenn man erwartet, dass sie sprechen, schweigen sie. Wenn Schweigen erwartet wird, sprechen sie. Wenn man erwartet, dass sie sich vorwärtsbewegen, gehen sie zurück. Wenn man erwartet, dass sie weiter zurückgehen, gehen sie auf die andere Seite. Wenn man erwartet, dass sie nur sprechen, brechen sie aus und sprechen über andere Dinge. Wenn man von ihnen erwartet, dass sie mit ihrer Geographie zufrieden sind, durchwandern sie die Welt und ihre Kämpfe.

Oder sie sind mit niemanden zufrieden. Und das scheint nicht viel für sie zu zählen. Was für sie zählt, ist, dass ihr Herz zufrieden ist, und so folgen sie den Pfaden, die ihnen ihr Herz zeigt. Das scheinen sie jetzt gerade zu tun. Überall sind Menschen auf Pfade. Sie kommen und gehen, tauschen kaum die üblichen Grüße aus. Sie verbringen viele Stunden auf Treffen oder Versammlungen oder was auch immer. Sie gehen mit gerunzelter Stirn hinein, und wenn sie wieder gehen, lächeln sie komplizenhaft.

Hmmm.

Was es auch immer ist, ich bin sicher, dass das was sie tun oder sagen werden vielen Leuten nicht gefallen wird. Außerdem, wie der Sup zu sagen pflegt, besteht die Spezialität der Zapatisten darin Probleme zu schaffen, und erst später zu sehen wer sie lösen wird. Also sollte man von diesen Treffen nicht viel anderes erwarten als Probleme .

Vielleicht können wir erraten worum es geht, wenn wir aufmerksam zusehen. Die Zapatisten sind sehr anders — ich weiß nicht, ob ich dir das schon gesagt habe — also stellen sie sich Dinge vor, bevor es diese Dinge gibt, und sie glauben dass, wenn sie sie benennen, diese Dinge anfangen zu leben und zu gehen... und ja, Probleme zu schaffen. Und deshalb bin ich mir sicher, dass sie sich bereits etwas vorgestellt haben, und dass sie anfangen werden so zu handeln, als ob dieses etwas bereits existiere, und am Anfang wir keiner irgendwas verstehen, denn wenn Dinge erst einmal benannt werden, fangen sie an ein Körper, ein Leben und ein Morgen zu entwickeln.

Oder wir könnten nach irgendeinem Hinweis Ausschau halten. nein, ich weiß nicht wohin wir sehen müssen . ich glaube es ist ihre Art mit ihren Ohren zu sehen und mit ihren Augen zuzuhören. Ja, ich weiß, das klingt kompliziert, aber sonst fällt mir nichts ein. Komm, gehen wir weiter.

Sieh mal, der Fluss verwandelt sich dort in ein Strudel, und in seiner Mitte schimmert der Mond in seinem sinnlichen Tanz. Ein Strudel. oder eine Muschel.

Sie sagen hier, dass die ältesten sagen, dass andere, noch Frühere sagen, dass die Allerersten dieses Landes die Form der Muschel hoch achteten. Sie sagen, dass sie sagen, dass sie sagten, dass die Muschelschale den Eintritt in das Herz symbolisiert, das ist, was die Allerersten Weisen sagten. Und sie sagen, dass sie sagen, dass sie sagten, dass die Muschel auch das Verlassen des Herzens symbolisiert, um die Welt zu durchwandern, was die Allerersten Leben nannten. Und mehr noch, sie sagen, dass sie sagen, dass sie sagten, dass sie mit der Muschel das Kollektiv zusammenriefen, damit das Wort von einem zum anderen gehen konnte, und ein Abkommen erreicht werden konnte. Und sie sagen auch, dass sie sagen, dass sie sagten, dass die Muschel dabei half, dass das Ohr auch das entfernteste Wort wahrnehmen konnte. Das sagen sie, dass sie sagen, dass sie sagten. Ich weiß es nicht. Ich gehe Hand in Hand mit dir spazieren, und ich zeige dir, was meine Ohren sehen und meine Augen hören. Und ich sehe und höre eine Muschel, die "pu’y’, wie sie hier in ihrer Sprache sagen.

Pssst. Schweigen. Die Dämmerung ist bereits dem Tag gewichen. Ja, ich weiß, es ist immer noch dunkel, aber sieh mal wie die Hütten sich langsam mit dem Licht der Herdfeuer füllen. Da wir nun Schatten im Schatten sind, sieht uns niemand, aber wenn sie uns sehen würden, würden sie uns sicher eine Tasse Kaffee anbieten, die wir bei dieser Kälte schätzen würden. Genau wie ich den Druck deiner Hand in meiner schätze.

Sieh mal, der Mond gleitet bereits nach Westen, und verbirgt sein schwangeres Licht hinter dem Mond. Es ist Zeit aufzubrechen, die Reise im Schatten einer Höhle zu Bergen, dort wo Verlangen und Erschöpfung von einer anderen, angenehmeren Erschöpfung gestillt werden. Komm her, ich werde dir mit Fleisch und Worten zuflüstern: "Und, ach, wie sehr ich wünschte / eine Freude unter Freuden zu sein / eine einzige, die Freude, die dich erfreuen würde!/Eine Liebe, eine einzige Liebe: / Die Liebe, die du lieben würdest./ Aber ich bin nur das was ich bin "/ (Pedro Salinas. "La voz a ti debida"). Wir werden uns dort nicht länger anblicken, aber in den Halbschlaf des Verlangens, verankert in einem sicheren Hafen, werden wir der Aktivität zuhören können, die diese Zapatisten nun antreibt, jene, die darauf bestehen sogar die Zeit zu stürzen, und die erneut ein Kalender wie eine Fahne heben ... den Kalender des Widerstandes."

Schatten und Licht weichen. Sie haben nicht bemerkt, dass in einer Hütte ein schwaches Licht die ganze Nacht hindurch gebrannt hat. Dort drin teilen sich nun eine Gruppe Männer und Frauen Kaffee und Schweigen, genau wie sie zuvor das Wort geteilt haben.

Mehrere Stunden lang haben diese Menschen mit Herzen von der Farbe der Dämmerung, mit ihren Ideen eine große Muschel umrissen. Von der Internationalen wandten sich ihre Augen und ihre Gedanken nach innen, durchstreiften nacheinander das Nationale, das Regionale und das Lokale, bis sie das erreichten was sie "El Votan" nennen. Der Wächter und das Herz des Volkes. "der zapatistischen Völker". Und so, von der äußersten Windung der Muschel, dachten sie Worte wie "Globalisierung", "Eroberungskrieg", "Widerstand", "Wirtschaft", "Stadt", "Land", "politische Lage", und andere, die der Radierer nach der üblichen Frage eliminierte: "Ist das klar, oder gibt es Fragen?" Am Ende des Pfades von aussen nach innen, im Zentrum der Schale, bleiben nur einige Initialen zurück: "EZLN". Danach kommen Vorschläge, und sie malen, in Gedanken und Herzen, Fenster und Türen, die nur sie sehen können (unter anderem deshalb, weil sie noch nicht existieren). Das uneinige und verstreute Wort beginnt einen gemeinsamen, kollektiven Pfad zu schaffen. Jemand fragt: "Ist man sich einig?, "Das ist man", antworten die nun kollektiven Stimmen bestätigend. Die Muschel wird wieder umrissen, aber in entgegengesetzter Richtung, von innen nach außen. Der Radierer setzt den umgekehrten Pfad ebenfalls fort, bis nur noch ein einziger Satz übrigbleibt, der die alte Tafel ausfüllt, ein Satz, der für viele verrückt anmutet, aber der für diese Männer und Frauen, ein Grund zu kämpfen ist: "Eine Welt, in der viele Welten passen". Kurz darauf, wird eine Entscheidung getroffen.

Nun herrscht Schweigen und Warten. Ein Schatten geht raus in den Nachtregen. Ein Lichtfunke erhellt schwach das Auge. Wieder steigt Rauch von seinen Lippen in die Dunkelheit auf. Mit den Händen hinter seinem Rücken, beginnt er ziellos hin und her zu gehen. Vor wenigen Minuten, dort drin, wurde ein Tod beschlossen .

(Fortsetzung folgt)

Aus den Bergen des mexikanischen Südostens.

Subcomandante Insurgente Marcos

Mexiko, Juli, 2003.

* * *

(*) im Spanischen ist der Mond weiblich.

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