Bei einem der letzten Protestzüge durch das Zentrum von Mexiko-Stadt tauchte in der Menschenmenge plötzlich Präsident Enrique Peña Nieto auf. Er riss die Arme hoch, winkte in die Menge, dann verkündete er: "Ich trete zurück, sofort." Jubel von allen Seiten. Ein junger Sunnyboy im Anzug hatte als Peña-Nieto-Double einen Wunsch inszeniert, den gerade Tausende von Mexikanern teilen.

Seit genau zwei Jahren ist Mexikos Präsident nun im Amt – doch das Jubiläum am Montag markierte keinen Feiertag, sondern die schwerste politische Krise, der Peña Nieto bisher ausgesetzt war. In mehr als 60 mexikanischen Städten gingen die Menschen auf die Straße, um das unaufgeklärte Verschwinden von 43 Studenten, Gewalt und Korruption anzuprangern – viele forderten Peña Nieto zum Rücktritt auf. "Verschwinde, Peña", skandierten Demonstranten landesweit, in der Grenzstadt Tijuana verbrannten sie sogar eine Peña-Nieto-Puppe. Einer Umfrage der mexikanischen Zeitung Reforma zufolge hat er mit 39 Prozent die niedrigsten Zustimmungswerte eines mexikanischen Präsidenten seit der Wirtschaftskrise Mitte der 1990er Jahre.

Staat als Teil des Verbrechens

"Es ist pervers, dass Studenten getötet werden und Drogenbosse straffrei bleiben", kritisierte eine junge Frau, die bei dem Protest in Mexiko-Stadt eine Fahne mit roten Farbspritzern schwenkte. Für sie ist Peña Nieto der oberste Vertreter eines Staates, der selbst Teil des organisierten Verbrechens ist. – "Eigentlich müssten alle zurücktreten, nicht nur Peña Nieto."

Mehr als zwei Monate liegt die Verschleppung von Studenten aus Ayotzinapa im Bundesstaat Guerrero zurück. Ein Verbrechen, das so grausam wie alltäglich für Mexikos Verhältnisse ist, und die Komplizenschaft zwischen korrupten Politikern, Sicherheitskräften und Drogenkartellen offenbart. Drei Busse voller Studenten, die sich für soziale Gerechtigkeit einsetzten, wurden in Iguala von der Polizei beschossen – sechs starben sofort, 43 junge Männer wurden an das lokale Drogenkartell Guerreros Unidos übergeben, deren Handlanger sie wohl ermordeten. Den Befehl hatten der Bürgermeister und seine Frau gegeben, die inzwischen verhaftet worden sind. Auch den Gouverneur von Guerrero, Ángel Aguirre, zwangen die Proteste zum Rücktritt.

Angehörige halten an der Forderung fest, die 43 lebend wiederzusehen – solange es keinen Beweis für ihre Ermordung gibt. In den vergangenen Wochen wurden rund um Iguala zahlreiche Massengräber entdeckt, sowie Plastiktüten mit verbrannten menschlichen Überresten. Ein österreichisches Forensik-Labor arbeitet an der Identifikation der Proben.

Studenten, aber auch Senioren, Familien mit Kindern hielten bei den Massenprotesten Fotos der 43 jungen Männer hoch, riefen immer wieder: "Vivos se los llevaron, vivos los queremos" – "Lebend haben sie sie mitgenommen, lebend wollen wir sie wieder." In der Hauptstadt hatten sich Demonstranten in ein riesiges, rotes Tuch eingewickelt, wandelten wie Geister durch die Menschenmasse, die sich zum Protest versammelt hatte. Der Protest vereint Generationen und unterschiedliche gesellschaftliche und politische Lager und Perspektiven – denn von Gewalt und Korruption sind alle betroffen.

"Außer Kontrolle"

Vor zwei Jahren ist Enrique Peña Nieto mit dem Versprechen angetreten, das Land sicherer zu machen. "Peña Nieto hat zwar wunderbar neue Wirtschaftsmöglichkeiten beworben", bilanziert der Sicherheitsexperte Dr. Edgardo Buscaglia, Präsident des Instituto de Acción Ciudadana para la Justicia y la Democracia. "In Bezug auf Sicherheit hat er nichts erreicht."

Der Präsident habe die Chance vertan, eine zentrale Wurzel der Konflikte anzugehen – die lang gewachsene, parteienübergreifende politische Korruption. "Jeder einzelne Bürgermeister in Mexiko verhält sich wie ein Feudalherr, der auf eigene Faust Deals macht, regiert – aber das Problem reicht von der Gemeindeebene bis hoch zur Bundesebene", so Buscaglia. "Die politische Korruption ist außer Kontrolle, weil es keine Kontrollmechanismen gibt." Gewalt und organisiertes Verbrechen profitieren von Komplizenschaft und der Straffreiheit für Verbrechen – bei 100 Verbrechen werden höchstens zwei oder drei Kriminelle verurteilt.

Als Konsequenz der Proteste hat Peña Nieto angekündigt, dass es in der Sicherheitspolitik ein "vor und nach Iguala" geben werde, einen 10-Punkte-Plan veröffentlicht und Gesetzesinitiativen in den Kongress eingebracht, geplant ist etwa die Auflösung der als korrupt geltenden städtischen Polizeieinheiten, eine Neuregelung der Zuständigkeiten der Strafverfolgungsbehörden, eine bessere Kontrolle der lokalen Institutionen. Doch wie können korrupte Organe auf Landes- und Bundesebene zu Kontrolleuren werden? "Peña Nieto hat keine Strategie – er hat zehn Punkte aufgeführt, die kosmetische Maßnahmen sind und nicht das Kernproblem berühren", kritisiert Dr. Edgardo Buscaglia. Transparency International zufolge wären etwa landesinterne und externe, unabhängige Anti-Korruptionsgremien notwendig.