«Wir wollen sie lebend wiederhaben»

Seit bald vier Monaten werden in Mexiko 43 Studenten vermisst. Ihr Verschwinden setzt ein Schlaglicht auf die Unterwanderung der staatlichen Strukturen durch die Mafia.

Philipp Lichterbeck, Iguala
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Epifanio und Blanca Alvarez wollen wissen, was mit ihrem Sohn Jorge passiert ist. (Bild: Philipp Lichterbeck / Jorge Dan Lopez / Reuters)

Epifanio und Blanca Alvarez wollen wissen, was mit ihrem Sohn Jorge passiert ist. (Bild: Philipp Lichterbeck / Jorge Dan Lopez / Reuters)

Gebückt betritt Epifanio Álvarez die Bühne vor dem Revolutionsmonument im Zentrum von Mexiko-Stadt. In der Rechten hält er ein Plakat, darauf die Foto eines jungen Mannes. Jemand reicht ihm ein Mikrofon, und er ruft: «Wir sind nur Bauern, und vielleicht haben wir nicht die richtigen Worte. Aber in unseren Herzen tragen wir Wut. Hier stehen wir und leiden – und werden so lange leiden, bis wir unsere Söhne wiedersehen.» Zehntausend Personen vor der Bühne antworten: «Ihr seid nicht allein!»

Der Fall als Symbol

Hinter Álvarez drängeln Männer und Frauen, sie stehen Schulter an Schulter. Einfache Bauern wie er, mit sonnengegerbten Gesichtern, Strohhüten und in Ledersandalen. Einige Frauen tragen bunte Röcke und die Haare zu Zöpfen geflochten. Sie halten Fotos von jungen Männern in den Händen. Nacheinander treten sie nun vor und reden. Eine zierliche Frau sagt: «Mein Sohn hat niemandem etwas getan. Die Kriminellen sind die Polizisten und die Soldaten.» Am Ende erschallt ein Ruf über den Platz: «Sie haben sie lebend mitgenommen – lebend wollen wir sie wiederhaben.»

Vor bald vier Monaten wurden mehrere hundert Lehramtsstudenten von der Polizei durch die Provinzstadt Iguala gejagt. Drei von ihnen fand man anschliessend tot auf der Strasse, einen mit abgezogener Gesichtshaut. Auch drei Unbeteiligte wurden von der Polizei erschossen. Die Beamten setzten 43 Studenten fest und transportierten sie ab. Von einem wurden mittlerweile Knochenstücke gefunden. Von den anderen 42 fehlt jede Spur. Unter ihnen Jorge Álvarez, 19 Jahre alt, Sohn von Epifanio Álvarez und seiner Frau Blanca. Sie sind Maisbauern aus dem Bergdorf La Palma im Gliedstaat Guerrero, vier Stunden südwestlich von Mexiko-Stadt.

Eine Protestbewegung ist seitdem entstanden, wie sie Mexiko seit Jahren nicht gesehen hat. Sie fordert die Rückkehr der Studenten. Was ist das für ein Land, in dem 43 junge Personen verschwinden können, entführt von Polizisten? In dem der Präsident elf Tage braucht, um Worte zu finden – und dann lieber nach Asien reist anstatt nach Iguala. In dem der oberste Staatsanwalt – in Widersprüche verstrickt – klagt, dass ihn der Fall ermüde. In dem wöchentlich Massengräber mit verstümmelten Leichen gefunden werden.

Die 43 Studenten sind zum Symbol geworden für ein Land, in dem das organisierte Verbrechen vielerorts die Kontrolle übernommen hat und die Menschen in Angst und Hilflosigkeit ersticken lässt. In dem der Staat vorgibt, die Mafia zu bekämpfen – aber eigentlich von dieser gar nicht mehr gross zu unterscheiden ist.

Nach der Kundgebung besteigt Epifanio Álvarez einen Bus, der ihn zurück nach Guerrero bringt. Er schweigt, starrt vor sich hin, so wie die anderen Eltern der vermissten Studenten. «Wir sind müde, wir warten seit Monaten auf Antworten», sagt Álvarez. Einmal hat er sie beim Präsidenten persönlich gesucht. Staatschef Peña Nieto empfing die Eltern der Vermissten in seinem Palast. «Aber er hatte uns nichts zu sagen», sagt Álvarez, «er sprach nur leere Worte.» Nun sind die Eltern überzeugt, dass die Regierung etwas vertuschen will.

Auf der nächtlichen Fahrt werden die Busse von 30 Transportern der mexikanischen Armee begleitet. Sie fahren ebenfalls nach Guerrero. Die Soldaten auf den Pritschen sind vermummt, tragen Schilde, jeweils zwei stehen an Maschinengewehren. Im Bus macht ein Satz die Runde: Sie kommen, um uns zu unterdrücken. Tatsächlich gibt es in Guerrero seit Wochen Ausschreitungen. Auf die Armeekaserne in Iguala flogen Molotowcocktails. Studenten und Lehrer besetzen Rathäuser und Mautstellen an der Autobahn zum Küstenort Acapulco.

Nach Mitternacht erreichen die Busse Tixtla. Hinter einem Metalltor liegt das Lehrerseminar Ayotzinapa. Der Campus ist zum Zentrum des Protests geworden. Seit dem Massaker wohnen Epifanio Álvarez und seine Frau hier in einem Zimmerchen, schlafen auf alten Matratzen, benutzen die Gemeinschaftstoiletten, essen die Bohnen, die auf dem Versammlungsplatz in grossen Töpfen gekocht werden. Einmal hätten sie versucht, in ihr Haus zurückzukehren, berichtet Álvarez. Aber da hätten sie die Gitarre von Jorge gesehen, und seine Frau sei zusammengebrochen. «Ich wollte auch weinen», sagt Álvarez. «Aber ich muss stärker sein.» Ihr Platz sei in Ayotzinapa, wo ihr Sohn versucht habe, im Leben voranzukommen.

Das Verschwinden der Studenten von Ayotzinapa hat eine Geschichte. Sie beginnt mit der mexikanischen Revolution. Damals wurden in vielen ländlichen Regionen Lehrerseminare gegründet. Die Söhne von Bauern sollten ausgebildet in die Dörfer ziehen und alphabetisieren. Der Schrei der Revolution war noch frisch. In Ayotzinapa ist er bis heute lebendig, prangt auf einer Wand neben dem Porträt seines Urhebers Emiliano Zapata. Andernorts haben die Studenten die Gesichter von Ché Guevara und Karl Marx aufgemalt. Überall liest man revolutionäre Parolen: «Besser aufrecht sterben als auf Knien leben!»

In Guerrero, einem der ärmsten Gliedstaaten Mexikos, haben die Lehrerschulen sich den Ruf erworben, Rebellen hervorzubringen. Auch deshalb hat der Staat von einst 40 Schulen 24 geschlossen. Den Rest lässt er ausbluten. In vielen Klassenzimmern in Ayotzinapa fehlt das Fensterglas, die Gebäude bröckeln. Seit Jahren protestieren die Studenten dagegen. 2011 erschoss die Polizei zwei von ihnen bei einer Strassenblockade.

Von Gewalt geprägte Region

«Wir sind berühmt für unsere kritische Haltung», sagt Uriel Alonso am nächsten Morgen vor dem Kaffeeausschank. «Wir erfahren das Elend am eigenen Leib.» Alonso studiert in Ayotzinapa, er war in der Nacht des Massakers in Iguala. Er überlebte hinter einem Bus versteckt, der von Kugeln durchsiebt wurde. Am Mittag will der 19-Jährige zurück in sein Heimatdorf, es findet eine Hochzeit statt. Die Fahrt auf der Ladefläche eines Pick-up dauert zwei Stunden und führt über eine Bergstrasse. Es ist die Fahrt in ein von Gewalt versehrtes Gebiet ohne Recht und Gerechtigkeit. Unterwegs liest man auf den Schildern die Parole: «43!»

Alonso Uriel, Student am Lehrerseminar Ayotzinapa, der in der Nacht des Attentats auch in Iguala war und überlebte, weil er sich hinter einem Bus versteckt hatte. (Bild: Philipp Lichterbeck)

Alonso Uriel, Student am Lehrerseminar Ayotzinapa, der in der Nacht des Attentats auch in Iguala war und überlebte, weil er sich hinter einem Bus versteckt hatte. (Bild: Philipp Lichterbeck)

Schliesslich geht es vorbei an einer Barrikade aus Sandsäcken und Männern mit Flinten. Es sind die «Comunitarios»: Bewohner aus Alonsos Dorf, die vor zwei Jahren das Drogenkartell der «Guerreros Unidos» vertrieben haben und jetzt die Dorfpolizei stellen. Die Mafia hatte den Ort terrorisiert, Schutzgelder erpresst. «Einmal hielten sie mir eine Pistole an den Kopf», sagt Alonso. Es war das erste Mal, dass man eine Waffe auf ihn richtete. Das zweite Mal tat es die Polizei von Iguala. In jener Nacht verschwanden vier seiner Kommilitonen.

Es ist Schmerz, der Guerrero durchzieht. In seinem schmutzigen Krieg gegen die linken Guerillas entführte das Militär in den siebziger Jahren wahllos Bauern. So verschwand der Grossvater eines der jetzt vermissten Studenten. Dann kamen die Drogenkartelle, die in Guerrero ideale Bedingungen für den Anbau von Mohn und Marihuana vorfanden. 2008 gründeten sich die Guerreros Unidos, die Entführung und Erpressung zum Geschäft hinzufügten. Sie finanzieren die Wahlkämpfe von Politikern und unterwandern die Lokalverwaltungen.

«Die Guerreros sollen die 43 umgebracht haben. Aber der Staat hängt mit drin», sagt Vidulfo Rosales. Rosales ist Anwalt und arbeitet für die Menschenrechtsgruppe «Tlachinollan». 2012 erhielt er eine Morddrohung: «Halt's Maul, oder wir schicken dich in Stücken nach Hause!» Damals vertrat er Bauern, die wegen eines Staudammbaus vertrieben werden sollten. Rosales vertritt nun die Eltern der 43 Vermissten. Auch deswegen führt Mexikos Inlandsgeheimdienst eine Akte über ihn, er gilt als subversiv. Der 38-Jährige glaubt, dass die Regierung den Studenten eine Lektion erteilen wollte. «Wer Probleme macht, lebt gefährlich.» Sie habe nur nicht mit den massiven Protesten gerechnet.

Unklare Ereignisse

Was geschah in Iguala? Laut der Bundesanwaltschaft kamen die Studenten, um Busse in Beschlag zu nehmen. Mit diesen wollten sie zu einer Demonstration nach Mexiko-Stadt fahren. Das ist unbestritten. Was folgt, ist unklar. Möglicherweise hat Igualas Bürgermeister der lokalen Polizei einen Angriffsbefehl erteilt. Er paktierte mit den Guerreros Unidos und befürchtete, die Studenten könnten eine Wahlkampfveranstaltung seiner Frau stören. Die 43 während der Aktion festgenommenen Studenten seien dann den Guerreros Unidos übergeben worden. Diese hätten sie erschossen. Anschliessend hätten sie die Leichen auf einer Müllhalde in Igualas Nachbarort Cocula verbrannt, die Überreste gesiebt und in Säcke abgefüllt in einen Fluss geworfen.

Die Staatsanwaltschaft stützt ihre Version auf die Aussage dreier Kartellmitglieder. Diese wurden jedoch gefoltert. Zudem haben Experten die Unmöglichkeit der beschriebenen Einäscherung nachgewiesen. Niemand in der Umgebung der Müllhalde hat einen Feuerschein gesehen oder Rauch wahrgenommen. Ausserdem regnete es in der fraglichen Nacht. Zwar wurden auf der Müllhalde Knochenfragmente eines Studenten gefunden, doch bei dem Fund waren die argentinischen Forensiker, die extra angefordert worden waren, nicht dabei. Ein Experte ist zu dem Ergebnis gekommen, dass die Leichen in einem Krematorium verbrannt worden sein müssen. Die Militärkaserne von Cocula besitzt ein Krematorium.

«Wir wissen, dass die Armee mit der Sache zu tun hat», sagt Vidulfo Rosales. «Die Fäden reichen bis ganz nach oben.» Es ist mittlerweile erwiesen, dass das Militär die Studenten in jener Nacht überwachte. Die Soldaten verweigerten ihnen Hilfe, bedrohten sie sogar. Ebenso beteiligten sich Bundespolizisten an der Hetzjagd. Dennoch weigert sich die Bundesanwaltschaft, in diese Richtung zu ermitteln. Die Verantwortung soll bei der lokalen Polizei und der Mafia bleiben. Sie darf die Hauptstadt und den Präsidenten nicht erreichen. Dieser hatte versprochen, die Gewalt in Mexiko einzudämmen, und versucht sich vom Stigma der Korruption zu befreien.

Tausende von Vermissten

An einer unscheinbaren Strassenecke in Iguala stehen zwei Kreuze und Blumen. Jemand hat die Einschusslöcher in den Wänden rot umrandet. Hier wurden zwei Studenten in der Nacht tot aufgefunden. Eine Menschenrechtlerin aus Iguala ist gekommen, unter Zusicherung von Anonymität. Sie ist mit dem Tod bedroht worden und wird überwacht von sogenannten Falken. Das sind Taxifahrer oder arbeitslose Jugendliche, die als Informanten für die Mafia arbeiten. «Sie sehen uns auch hier», sagt die junge Frau.

Zwei Patrouillen der mexikanischen Bundespolizei fahren vorüber, vordergründig hat sie die Macht in Iguala übernommen. Das sei Unsinn, sagt die Aktivistin. «Die Mafia macht, was sie will, die stecken zusammen unter einer Decke.» Eine Ärztin wurde entlassen, weil sie verletzten Studenten half. Eine Lehrerin, die Details der Jagd berichtete, wurde angeschossen.

Die Behörden suchten zunächst in Pueblo Viejo, einem Armenviertel am Fuss eines Berges, rund 15 Fahrminuten von Iguala, nach den Studenten. Stattdessen fanden sie Massengräber mit sterblichen Überresten anderer Menschen. Die Guerreros Unidos, so kam heraus, nutzten den Berg als Exekutionsort. Er wurde kurz untersucht. Nun versichert ein Strassenverkäufer in Pueblo Viejo, dass die Mafia wieder begonnen habe, dort oben Menschen zu erschiessen. Insgesamt wurden in dem Fall 90 Personen festgenommen, unter ihnen 58 lokale Polizisten. Der Bürgermeister von Iguala gilt als Hauptverdächtiger, gegen ihn wurde nun Anklage erhoben.

In Mexiko sind seit 2007 rund 23 000 Personen verschwunden. Viele von ihnen sind Jugendliche, so wie Jorge Álvarez und die anderen 42 Vermissten. Wie schwer diese Situation für ihre Eltern ist, verdeutlicht Jorges Vater beim Abschied: «Wenn unser Sohn nicht wiederkehrt, dauert die Nacht ewig.»

Philipp Lichterbeck ist freier Journalist und lebt in Rio de Janeiro.

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