18. Jahrgang | Nummer 3 | 2. Februar 2015

Gegen eine deutsche Komplizenschaft

von Peter Clausing

Am 3. Februar sollen Innenminister Thomas de Maiziére rund 7.500 Unterschriften gegen den Abschluss eines Polizeiabkommens mit Mexiko überreicht werden, das in den vergangenen Monaten wiederholt in den Medien kritisiert wurde. Besonders wegen des schrecklichen Vorfalls, der sich in der Nacht vom 26. zum 27. September 2014 in der Stadt Iguala im mexikanischen Bundesstaat Guerrero ereignete, geriet das geplante Abkommen in die Schlagzeilen. In jener Nacht wurde eine Gruppe von Lehrerstudenten, die sich auf dem Weg zu einer Protestaktion befand, von der örtlichen Polizei überfallen. Drei Studenten und drei weitere Personen wurden bei dem Überfall erschossen, 43 weitere wurden verhaftet und verschwanden danach spurlos. Dies rückte eine Polizei ins Schlaglicht, die willkürlich verhaftet, foltert und skrupellos mordet. Eine Polizei, mit der die deutsche Seite ihre Zusammenarbeit intensivieren will und die durch das Sicherheitsabkommen zusätzliche Legitimität erhalten würde. Die Schlagzeilen brachten die deutsche Regierung in Erklärungsnöte. Seitdem bemüht sie sich um Schadensbegrenzung.
Die Deutsche Menschenrechtskoordination Mexiko, ein Netzwerk von 14 Organisationen, lehnt das Abkommen nicht erst seit den dramatischen Ereignissen vom September 2014 ab, denn dieses Verbrechen war keine Einzelerscheinung. Es gibt genügend Dokumentationen von Amnesty International, Human Rights Watch und anderen Organisationen, die belegen, dass alle Ebenen der staatlichen Gewalt in Mexiko an zahllosen Menschenrechtsverletzungen beteiligt sind. Doch das wird von der deutschen Regierung hartnäckig ignoriert.
Seit langem pflegt die Bundesregierung den Mythos, dass die mexikanische Regierung ernsthaft um eine Verbesserung der Rechtsstaatlichkeit bemüht sei, aber an den korrupten Strukturen auf lokaler Ebene scheitere, weshalb man ihr Zeit und Unterstützung gewähren müsse. Doch das vom Außenministerium beständig wiederholte Argument einer „Unschuldsvermutung“ für die mexikanische Regierung wird von den tatsächlichen Verhältnissen ad absurdum geführt. Insbesondere die Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI), die Mexiko über 70 Jahre beherrschte und sich seit 2012 nach zwölfjähriger Unterbrechung wieder an der Macht befindet, ist Weltmeister im Verschleiern realer Zustände.
Ein gravierendes, aber bei weitem nicht das einzige Beispiel für diese Art von Simulation, ist die systematisch angewendete Folter. Mexiko ratifizierte 1987 als einer der ersten Staaten die Antifolter-Konvention der UNO und verbot Folter per Gesetz. Doch bis zum heutigen Tag gehört Folter zum Tagesgeschäft, was von der deutschen Regierung nicht bestritten, aber hartnäckig mit dem Verweis darauf relativiert wird, dass dies „leider immer noch“ ein Thema sei, weil Mexiko es – salopp gesagt – nicht schaffe, einige sadistische Dorfpolizisten unter Kontrolle zu bringen.
Doch die Realität steht in krassem Gegensatz zum „leider immer noch“-Diskurs der deutschen Regierung. Nicht nur, dass laut Amnesty International die Zahl von Folterfällen in den letzten zehn Jahren dramatisch angestiegen ist. Auch werden unter Folter erzwungene Geständnisse nach wie vor als Beweismittel anerkannt, was belegt, dass es sich hierbei nicht um individuelle Verfehlungen von Polizisten handelt, sondern um ein strukturelles Problem. Zu diesem Problem gehört auch die nahezu vollständige Straflosigkeit für Menschenrechtsverletzungen durch die Sicherheitskräfte, zu denen extralegale Hinrichtungen, Vergewaltigungen und das gewaltsame Verschwindenlassen unschuldiger Personen zählen.
Zu dem von der Bundesregierung gepflegten Mythos zählt ferner die Behauptung, dass die mexikanische Bundespolizei (nahezu) frei von Korruption und Menschenrechtsverletzungen sei und deshalb einen wichtigen Partner beim Bemühen um einen Strukturwandel darstelle. Insbesondere seit dem oben beschriebenen Vorfall wird intensiv darauf verwiesen. In den letzten Monaten bezogen sich zwei Staatsminister des Auswärtigen Amtes in Fragestunden des Bundestages explizit auf diesen angeblichen Unterschied. So verkündete Staatsministerin Dr. Maria Böhmer am 15. Oktober 2014: „Die Bundesregierung hält an der Absicht fest, das in Verhandlungen befindliche Sicherheitsabkommen mit Mexiko zum Abschluss zu bringen. Ziel des Abkommens sind die Verbesserung der Zusammenarbeit mit der mexikanischen Bundesregierung – ich betone: Bund – und deren Unterstützung bei der Bekämpfung schwerer und organisierter Kriminalität.” Dieser Ausschnitt der Fragestunde wurde spanisch untertitelt und im Internet zugänglich gemacht. Er erhielt innerhalb weniger Tage über 130.000 Klicks. Die mexikanische Zivilgesellschaft wollte ihren Ohren und Augen nicht trauen.
Danach ging das Auswärtige Amt von haltlosen Behauptungen zu offenen Lügen über. In einer zweiten Fragestunde, Anfang Dezember 2014, erklärte Frau Böhmer, mexikanische Menschenrechtsorganisationen hätten sich „grundsätzlich bejahend” zu dem geplanten Sicherheitsabkommen geäußert, und benannte auf schriftliche Nachfrage die drei Organisationen, denen sie diese Bejahung unterstellte. Alle drei Organisationen erklärten auf Nachfrage des Nachrichtenportals amerika21, dass es eine solche Äußerung nie gegeben habe. Während mexikanische und deutsche Menschenrechtsorganisationen die Verschleppung und Behinderung der Bemühungen, das Verbrechen von Iguala aufzuklären, beklagten, lobte Außenminister Frank-Walter Steinmeier anlässlich des Besuchs seines mexikanischen Amtskollegen am 20. Januar die mexikanischen Strafverfolgungsbehörden, die sich „energisch eingeschaltet und zur Aufklärung beigetragen“ hätten. Die Diffamierungskampagne gegen den Rechtsanwalt Vidulfo Rosales, der die Familien der 43 verschwundenen Studenten begleitet, wurde von Herr Steinmeier offenbar nicht thematisiert.
Die Argumentation der Bundesregierung ist schamlos, denn selbst im Fall der 43 Lehramtsstudenten ist eine Beteiligung der Bundesebene nachgewiesen. Nach Informationen mexikanischer Menschenrechtsorganisationen wurden die Studenten, bevor sie von der lokalen Polizei angegriffen wurden, durch bundesstaatliche und föderale Polizeikräfte überwacht. Diese Kräfte zogen sich bei Beginn der Angriffe durch die lokalen Polizeieinheiten zurück. Soldaten des 27. Infanteriebataillons und der Bundespolizei errichteten eine Straßensperre, während die Studenten beschossen und verhaftet wurden, so dass der betreffende Ort für unabhängige Personen, zum Beispiel Journalisten, unerreichbar war. Dort stationierte bundesstaatliche Sicherheitskräfte sowie ein Operationszentrum der Bundesgeneralstaatsanwaltschaft wurden in derselben Nacht über den Vorfall informiert, unternahmen aber nichts. Zwei Stunden nach dem Überfall war das Militär am Ort des Geschehens und bedrohte und schlug die nicht entführten Studenten, statt ihnen Hilfe zu gewähren.
Steinmeiers Lob für das „energische Vorgehen“ der mexikanischen Strafverfolgungsbehörden verhöhnt die Opfer. Für die Ermittlungen war anfänglich die Generalstaatsanwaltschaft des Bundesstaates Guerrero zuständig, wobei 15 Tage nach dem Verbrechen Regierungsvertreter dieses Bundesstaates an die Familien herantraten und Geld anboten, wenn sie die Suche nach ihren entführten Söhnen einstellen würden. Nationale Institutionen unterstützten die Suche nach den Verschwundenen zunächst überhaupt nicht. Präsident Enrique Peña Nieto behauptete, das sei Aufgabe des Bundesstaates. Erst acht Tage nach dem Ereignis übernahmen nationale Institutionen die Suche nach den Studenten. Diese Vorgehensweise erinnert an die Verhältnisse zu den schlimmsten Zeiten des kolumbianischen Bürgerkrieges: Die zentralen Kräfte schaffen die Rahmenbedingungen und sorgen für Straflosigkeit, lokale Kräfte erledigen die Drecksarbeit.
Die Ereignisse vom September 2014 sind kein Einzelfall. Ebenfalls im Bundesstaat Guerrero wurde am 12. Dezember 2011 eine Demonstration gewaltsam aufgelöst, wobei zwei Studenten erschossen wurden. Gegen die Mörder der beiden Studenten gibt es bis heute kein Strafverfahren. In beiden Fällen war ein Teil der Polizisten mit G36-Sturmgewehren des deutschen Unternehmens Heckler & Koch ausgerüstet. Ein schwerwiegender Fall der jüngeren Zeit, der in den deutschen Medien kaum Beachtung fand, ereignete sich am 30. Juni 2014, als 15 unbewaffnete Personen von der mexikanischen Armee exekutiert wurden. Offiziellen Darstellungen zufolge waren vermeintliche Drogenhändler bei einem Schusswechsel ums Leben gekommen. Erst eine Recherche der Zeitschrift Esquire brachte die extralegale Hinrichtung ans Tageslicht.
In Mexiko gibt es zahlreiche Fälle wie diese. Wenn die deutsche Regierung trotz erdrückender Beweislage darauf beharrt, dass die mexikanischen Sicherheitskräfte auf der Bundesebene sozusagen „unbefleckt“ sind, beteiligt sie sich auf diplomatischer Ebene an der Verschleierung von Straftaten.

Dieser Beitrag ist die aktualisierte, gekürzte Fassung einer IMI-Analyse, die der Autor am 27. November 2014 publiziert hat; dort auch mit Quellenangaben.