Der bemerkenswerte Weg der indigenen Gemeinde Cherán in Mexiko zur Selbstbestimmung

Vivero de Cherán

Eine Baumschule in Cherán. Durch die Initiative dieser Gemeinde konnten in vielen Teilen von Michoacán etwa 1.500 Hektar Wald wieder aufgeforstet und Tannen gepflanzt werden. Nach Angaben der Frauen, die an diesen Saatbeeten arbeiten, ist [die Baumschule] zu einer echten wirtschaftlichen Alternative geworden, die Menschen aus vier Gemeinden im Wechsel Arbeit bietet. Foto von @Talladeboina36 für Más de 131. Veröffentlichung mit Genehmigung.

“Für Gerechtigkeit, Sicherheit und die Wiederherstellung unseres Territoriums”, so lautet der Slogan auf der Uniform der Sicherheitsverantwortlichen in Cherán, einer der größten indigenen Gemeinden im Herzen des Bundestaats Michoacán im Westen von Mexiko. Der Kampf gegen die Besetzung des eigenen Territoriums ist in Cherán nicht neu. Schon der Kampf gegen die Besetzung durch die Azteken vor einigen Jahrhunderten zeigte das Bedürfnis nach Unabhängigkeit, das den Menschen in dieser Region die Kraft gab, sich gegen organisiertes Verbrechen zur Wehr zu setzen und im Jahr 2011 politische Selbstbestimmung und das Recht auf Selbstschutz zu erlangen.

Wie viele andere ländliche Gegenden in Mexiko war auch Cherán bis vor Kurzem noch von einer steigenden Zahl von Gewaltverbrechen betroffen – ein unangenehmer Nebeneffekt der zunehmenden illegalen Ausbeutung der natürlichen Rohstoffe der Region. Dies wird auch in der Dokumentation “Resistencia de Cherán (Der Widerstand von Cherán) beschrieben:

Cherán estaba conformado por 27,000 hectáreas de bosque [que fueron] devastadas, quedándonos con un total más o menos 7 mil héctareas. O sea que nos devastaron 20,000 héctareas. No nada más acabaron con el bosque, sino que también fueron acabando con nuestra fauna, con nuestros animales, con todo lo que acontece en un pueblo p’urhépecha.”

Cherán war von 27.000 Hektar Wald bedeckt, [der] zerstört wurde bis nur noch 7.000 Hektar übrig waren. 20.000 Hektar Wald wurden mit anderen Worten dem Erdboden gleich gemacht, bis davon fast nichts mehr übrig war. Damit zerstörten sie nicht nur unseren Wald, sondern auch unsere Fauna, unsere Tiere, einfach alles, was das Volk der Purépecha zum Leben braucht.

Ein anderer Anwohner erinnert sich in der Dokumentation, wie die Parteilichkeit der Regierung eine konzertierte Reaktion auf die Bedrohung und den Missbrauch der indigenen Bewohner der Region verhinderte:

Pasaban por aquí los vehículos por todas las calles principales de la comunidad. Todavía ellos en forma burlona pasaban por las calles y no nada más eso sino que llegaban a las tiendas, saqueaban y se iban. Nadie les podía decir nada. Las mujeres, los hombres, nosotros, con esa impotencia de no poder gritarles o detenerlos. Era urgente lo nuestro, era una desesperación, pero no se podía concretar porque estábamos divididos, cada uno pertenecía a diferentes partidos políticos.

Sie fuhren in ihren Autos und Lastwagen durch alle großen Straßen in unserer Gemeinde. Im Vorbeifahren machten sie sich über uns lustig und nicht nur das. Sie gingen auch in Läden, plünderten sie und gingen dann. Niemand konnte etwas dagegen sagen. Frauen, Männer, wir alle fühlten uns so machtlos, weil wir sie nicht anschreien oder aufhalten konnten. Unsere Lage war kritisch, sie war verzweifelt. Aber es konnte nicht wirklich etwas dagegen getan werden, weil wir uns nicht einigen konnten, weil jeder von uns einer anderen Partei angehörte.

Die Gemeinde wandte sich mehrmals mit Hilferufen an Vertreter der lokalen und regionalen Behörden – ohne Ergebnis. Dann schloßen sich mehrere frustrierte Mitglieder der Gemeinde unter der Führung einer Gruppe mutiger Frauen zusammen und nahmen ihr Schicksal selbst in die Hand. Am frühen Morgen des 15. April 2011 boten sie den Lastwagen mit denen die illegal gefällten Bäume abtransportiert wurden die Stirn. In einer anderen Dokumentation mit dem Titel “Cherán: Tierra para soñar” (Land unserer Träume) beschreibt eine der Frauen, die bei dieser Aktion dabei war, die Ereignisse an diesem Schicksalstag so:

Cuando nosotras fuimos estaba todavía oscurita la mañana, eran como las 6:30 de la mañana. Estaban dando las campanadas porque iba a dar misa […] Yo nunca pensé que esto iba para largo […] Éramos cinco mujeres nomás de aquí de este barrio, puras señoras, señores no había, habían unos cuantos señores pero en su mayoría pura mujer […] Correteamos a los carros a puras pedradas, una señora hasta se tropezó y se raspó toda la rodilla porque el carro le dio de reversa…

Wir machten uns im Morgengrauen auf den Weg, gegen 6 Uhr 30 am Morgen. Es war noch dunkel. Die Kirchenglocken läuteten gerade zur Messe. […] Ich konnte mir nicht vorstellen, dass wir viel erreichen würden. […] Wir waren doch nur fünf Frauen von hier, aus diesem Viertel, eine Gruppe älterer Frauen. Männer waren nicht dabei oder vielleicht nur ein paar Männer. Es waren vor allem Frauen. […] Wir liefen hinter den Autos her und warfen mit Steinen. Eine der Frauen wurde von einem rückwärtsfahrenden Auto angefahren und schürfte sich das ganze Knie auf…

Diese Kraftprobe rüttelte die Gemeinde wach. Barrikaden wurden aufgebaut, um kontrollieren zu können, wer in das Gebiet kam. Eine Nachbarschaftswache, die in der Stadt und in den Wäldern in den Bergen patroullierte, wurde eingesetzt. Sie trafen sich an Lagerfeuern, schmiedeten Pakte und achteten darauf, dass keine Außenstehenden sich in die administrativen Angelegenheiten der Gemeinde einmischten. Zwei Wochen nach diesen Ereignissen veröffentlichte die Gemeinde Cherán eine Pressemitteilung, in der die Anwohner auf die völlige Stille seitens der Regierung hinwiesen.

Camioneta

Die rostigen Überreste eines Lasters einer Gruppe, die am organisierten Verbrechen beteiligt war, sind heute eine Art Monument für die Entschlossenheit der Menschen aus Cherán: “Das erste Kunstwerk aus dem Skelett eines Fahrzeugs, das zum Drogenhandel genutzt wurde. Es wurde gekreuzigt oder besser gesagt aufgehangen und als Kriegstrophäe ausgestellt.”  Foto mit freundlicher Genehmigung von @Talladeboina36 für Más de 131. Veröffentlichung mit Genehmigung.

Im November des selben Jahres sagte die höhere Kammer des mexikanischen Bundeswahlgerichts auf ausdrücklichen Wunsch der Gemeinde die Kommunalwahlen in Cherán ab und schaffte damit die Grundlage für eigenständige Konsultationen in der Gemeinde. Daraufhin wurde der Rat der K'eris (Bezeichnung für einen Ältestenrat in der Sprache der Purépecha) gegründet und ein System der Selbstverwaltung eingeführt, das ohne Wahlen funktioniert und unabhängig von den politschen Parteien im Rest des Landes ist.

2014 konnte die Gemeinde einen weiteren wichtigen Sieg bei der Verteidigung des eigenen Gebiets und der Rechte der indigenen Bevölkerung erringen. Der Oberste Gerichtshof Mexikos erkannte das Recht der Gemeinde Cherán an, bei jeder rechtlichen oder administrativen Entscheidung, die die Gemeinde und deren Leben betrifft, entsprechend internationaler Konventionen mit einbezogen zu werden.

Heute, fast vier Jahre nachdem die Gemeinde sich das Recht auf politische Autonomie erkämpft hat, sind die Einwohner von Cherán noch immer fest von ihrem Weg überzeugt. Sie geben aber auch zu, dass dieser Weg auch Schwierigkeiten mit sich bringt. 2015 stehen in Mexiko Wahlen auf kommunaler Ebene und auf Bundesebene an, der politische Druck nimmt zu und unterschiedliche Interessen zeichnen sich ab. So reichte Ende des letzten Jahres eine Gruppe bei der Wahlbehörde in Michoacán eine Petition ein, in der sie die Wiederherstellung des traditionellen Parteisystems forderte. Die Wahlbehörde entschied am Ende zugunsten der kommunalen Regierung und erkannte das Recht der Menschen in Cherán auf eine selbstbestimmte Zukunft an.

Nach Diskussionen an Lagerfeuern und in allen vier Gemeinden entschieden die Einwohner, ihrer Geschichte und ihren Traditionen treu zu bleiben und am gegenwärtigen Status politischer Autonomie festzuhalten. Dieser gemeinsame Entschluss wird in den Aussagen, die die autonome Nachrichtenagentur Subversiones in dem Video “Partidos ojetes, Cherán no es un juguete” (Partei-Scheißkerle, Cherán ist kein Spielzeug) festhielt, bestätigt:

La misma gente determina qué se hace y qué no se hace en la comunidad. Los partidos políticos no hacen eso, ellos son lo que determinan qué hacer y qué no. Entonces pues, ahora se maneja que la Asamblea es la máxima autoridad y es donde uno puede hablar y puede ser escuchado por los demás y por las mismas autoridades. [Eso] no lo hacíamos antes.”

Die Menschen entscheiden selbst, was in der Gemeinde getan wird und was nicht. Bei politischen Parteien ist das nicht so. Dort bestimmen die Parteien, was getan wird und was nicht. Aber nun ist die Versammlung hier die höchste Autorität und jeder kann dort sprechen und bei anderen [Mitgliedern] und auch bei politischen Entscheidungsträgern Gehör finden. Das war vorher nicht so.

Cheráns Autonomie zeigt sich auch daran, wie die Gemeinde alternative Medien einsetzt und wird dadurch noch gestärkt. Konkrete Beispiele dafür sind der Blog, die Facebookseite und der YouTube-Kanal, mit denen die Gemeinde ihre Traditionen dokumentiert und schützt. Cherán hat auch einen eigenen Gemeinde-Radiosender, Radio Fogata, der 2011 gegründet wurde und von jungen Leuten geführt wird und besitzt seit November letzten Jahres den Fernsehsender TV Cherán. Eine zweite Sendung, in der gezeigt wird, wie die Menschen in Cherán versuchen, sich Gehör zu verschaffen, ist bereits in Arbeit.

Während in den Bergen von Michoacán die Bäume friedlich wachsen, wird in den Dörfern das Lied der legendären Bewohner von Cherán gesungen und voller Stolz die bunte Fahne als Symbol ihrer gemeinsamen Stärke getragen, Juchari Uinapekua.

Hijos de la madre tierra / Nuestros cantos, nuestros rezos

Se van elevando al cielo / Pa que escuchen nuestros sueños

Ya se despertó mi pueblo / Saliendo a encender el fuego

La semilla va creciendo / La esperanza está creciendo

Kinder von Mutter Erde / unsere Lieder, unsere Gebete
Steigen zum Himmel auf / auf dass unsere Träume erhört werden
Mein Volk ist erwacht / sie haben das Feuer entzündet
Die Saat wächst / die Hoffnung wächst.

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