Mexiko

Traurige Suche nach Gewissheit

Hinter einer gelben Absperrung mit der schwarzen Aufschrift "Criminalistica" sieht man eine Müllkippe mit einem in weiße Schutzkleidung gehüllten Forensiker, im Hintergrund ein bewaldeter Hügel.
Auf dieser Müllkippe in Iguala wurden die Knochen eines der vermissten Studenten gefunden. © picture alliance / dpa / Rebecca Blackwell/Pool
Von Kristin Gebhardt und Wolf-Dieter Vogel · 20.09.2015
In der südmexikanischen Stadt Iguala sind in den vergangenen Jahren Hunderte Menschen verschwunden. Lange Zeit sprach in Iguala niemand über die Verbrechen. Nun haben Angehörige Mut gefasst und suchen selbst mit der Hilfe des örtlichen Pfarrers nach ihren Kindern oder Partnern.
Ast für Ast kämpft sich Mario Vergara durch das dornige Gestrüpp. Hier in den Bergen rund um die Stadt Iguala müssen die Kriminellen seinen Bruder Tomás verscharrt haben. Vor drei Jahren wurde er entführt, seither fehlt jede Spur. Nun hat sich Vergara selbst auf die Suche gemacht.
Gemeinsam mit anderen, die ihre Angehörigen vermissen, durchkämmt der 40-jährige Mexikaner das Gelände. Doch zwischen all dem Unkraut und den vertrockneten Büschen fällt es schwer, die Erdlöcher zu finden, in denen die Mörder ihre Opfer verschwinden ließen.
"Wir suchen nach Anzeichen dafür, dass die Erde bewegt wurde. Man erkennt das zum Beispiel, wenn die Steine etwas tiefer liegen."
Vergara entdeckt eine leichte Absenkung, auf der die Erde locker aufliegt. Hier müsse etwas sein, sagt er. Dann nimmt er eine Eisenstange, treibt sie mit kräftigen Hammerschlägen in den Boden und zieht sie wieder heraus. Riecht es nach verfaultem Fleisch, liegt hier ein Toter.
Polizisten begleiten inzwischen die Angehörigen
Seit Oktober suchen Vergara und seine Mitstreiter nach ihren vermissten Söhnen, Brüdern oder Partnern. Nachdem der Fall der 43 verschwundenen Studenten international für großes Aufsehen gesorgt hatte, fassten auch sie Mut und gingen an die Öffentlichkeit.
"Anfangs zogen wir mit 40, 50, ja sogar 70 Familien los. Völlig ohne Schutz. Wir haben zwar immer Sicherheitsmaßnahmen gefordert, aber man hat sie uns nicht zugestanden."
Mittlerweile hat sich das geändert. Drei bewaffnete Bundespolizisten begleiten die Angehörigen. Sie sollen den Suchtrupp vor Banden schützen, die in den Bergen Drogen transportieren und Menschen entführen.
Schon mehrmals waren sie auf dieser Brache, am Ende eines Feldweges. Allein an diesem Ort hat die Gruppe 20 Leichen entdeckt. Meist sind nur Skelette geblieben, denn viele der Opfer wurden schon vor Jahren ermordet.
"Personen, die anonym bleiben wollen, haben uns hierher geführt. Anders findet man diese Plätze nicht."
Nur zwei Kilometer entfernt befindet sich die nächste Siedlung. Immer wieder hörten die Bewohner nachts die verzweifelten Schreie. Jeder wusste Bescheid. Doch niemand traute sich, darüber zu sprechen. Auch nicht darüber, dass regelmäßig Fahrzeuge der lokalen Polizei und der Mafia-Organisation Guerreros Unidos auf die Brachfläche in den Bergen fuhren. Erst recht erwähnte keiner, dass auch der damalige Bürgermeister José Luis Abarca dabei war. Heute sitzt Abarca im Gefängnis, weil er den Angriff auf die Studenten angeordnet hat.
Auch Kirchenvertreter leben gefährlich
Das Anwesen der Kirchengemeinde San Gerardo im Zentrum von Iguala. Von hier aus ist der Suchtrupp am Morgen losgezogen. Im Laufe des Tages treffen weitere Menschen ein. Zwei Frauen fegen Laub, andere stehen in einer Schlange und warten auf Betreuung. Hier bekommen Angehörige von Verschwundenen juristische und psychologische Beratung.
Auf dem Gelände seien die Menschen sicher, erklärt Pfarrer Oscar Prudenciano. Ohne den Geistlichen wäre die Suchaktion nie zustande gekommen.
"Als die Familien kamen, haben wir mit der Dokumentation der Verschwundenen begonnen. Erst im Laufe der Zeit ist mir klar geworden, wie groß die Angst der Leute ist. Vorher trauten sie sich nicht, sich zu organisieren und ihre Verwandten zu suchen. Warum? Weil lokale und bundesstaatliche Polizisten sowie Soldaten leider mit der organisierten Kriminalität zusammenarbeiten. Gemeinsam sind sie für die Entführungen verantwortlich."
Die meisten Menschen seien verschleppt worden, seit vor drei Jahren Abarca die Führung im Rathaus übernahm, erklärt Prudenciano. Guerrero ist der gefährlichste Bundesstaat Mexikos, allein im Januar wurden hier 138 Menschen ermordet. Auch Kirchenvertreter leben gefährlich. Letztes Jahr tötete die Mafia drei Pfarrer. Geistliche werden bedroht, um Geld von ihnen zu erpressen oder weil sie die Schwachen der Gesellschaft verteidigen.
"Auf dem Weg zu einer Feier in einer Gemeinde stoppte mich 2013 eine bewaffnete Gruppe. Die Kriminellen raubten mich aus, nahmen mir meinen Wagen ab und setzten ihn in Brand. Plötzlich begann ein Schusswechsel zwischen zwei verfeindeten Banden. Ich stand mitten im Kreuzfeuer und musste um mein Leben rennen. Aber zum Glück ging alles gut."
"Die Familien sind stark traumatisiert"
Damals war Prudenciano noch in einer anderen Diözese tätig, in der bereits zwei Pfarrer entführt worden waren. Nach dem Überfall versetzte ihn der Bischof nach Iguala. Er sollte sich von der Gewalt erholen. Doch die holte ihn ein. Jetzt spricht er täglich mit Angehörigen, die in seiner Gemeinde Hilfe suchen.
"Die Familien sind stark traumatisiert. Ich bewundere die Leute, weil sie trotz ihrer Schmerzen hierher kommen und mitmachen."
Auch Maria del Carmen Naena kommt jeden Tag zum Kirchengelände. Sie kümmert sich um die Verpflegung. Morgens kocht sie den ersten Kaffee, bevor der Suchtrupp loszieht. Abends, wenn die meisten schon weg sind, macht sie die Küche dicht. Zuhause hält sie es nicht mehr aus, seit ihr Mann vor einem Jahr einfach nicht mehr heim kam.
"Dort können wir nicht sein, denn alles erinnert an ihn. Hier kann ich mich ein wenig ablenken. Durch die Hilfe der Psychologen und des Pfarrers sind wir etwas ruhiger."
Sie hat Anzeige erstattet und ist von Behörde zu Behörde zu gezogen. Doch die Strafverfolger haben sich nicht um ihren Mann gekümmert.
"Die gehören doch selbst dazu. Die Polizisten sind in die Verbrechen verstrickt. Es gibt auch ehrliche Beamte, aber die anderen lassen sie nicht richtig arbeiten."
Zurück in den Berge. Mario Vergara und seine Mitstreiter sind vorangekommen. Unter einem Busch finden sie ein Grab, in dem zwei Leichen verscharrt sind. Vorsichtig befreien die Forensiker die Knochen vom Dreck. Vergara glaubt nicht, dass die sterblichen Reste seines Bruders Tomás dabei sind. Und wenn doch?
Das seien doch nur Knochen, sagt er. Er erinnere sich an den lebenden Bruder, an dessen Lächeln, dessen Haut. Dennoch muss er ihn finden. Denn dann, so Vergara, werde er ihn beerdigen, damit Tomás endlich in Frieden ruhen könne.
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