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Außer der Reihe: The Making of Leopoldo López

Ein näherer Blick auf die demokratischen Qualitäten des Rockstars der Opposition in Venezuela

Außer der Reihe 28.10.2015
Roberto Lovato [1]
übersetzt von Herwig Meyer

  Wenige Wochen vor den Parlamentswahlen in Venezuela publiziert amerika21 erstmals auf Deutsch einen international viel beachteten Artikel über den venezolanischen Oppositionspolitiker Leopoldo López, der wegen seiner Verantwortung für gewalttätige Proteste in dem südamerikanischen Land inhaftiert ist.

Der ausführliche Beitrag des US-Journalisten Roberto Lovato war zuerst vom US-amerikanischen Onlinemagazin Foreign Policy veröffentlicht worden und hatte in den USA sowie in Venezuela heftige Reaktionen provoziert. Die Veröffentlichung des Textes auf Deutsch erfolgt nur einen Tag vor der Verleihung des Sacharow-Preises des Europäischen Parlaments Ende Oktober 2015, für den López von konservativen Abgeordneten vorgeschlagen worden war [3].

Lovato, der für seine zweijährigen Nachforschungen vom Recherchefonds des US-amerikanischen Nations Institute und von der ebenfalls US-amerikanischen Puffin Foundation unterstützt wurde, beleuchtet unter anderem die Rolle López’ bei einem blutigen Putschversuch gegen den damaligen venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez im April 2002 und bei späteren gewalttätigen Protesten. Lovato kommt zu dem Schluss, dass die internationale Präsentation von López als Oppositionsanführer nur wenig mit seinem Einfluss in Venezuela gemein hat.

Der Beitrag in Foreign Policy hatte für Lovato selbst unangenehme Folgen. Nach Angaben eines Mitarbeiters des Onlinemagazins hat es seitens des US-Außenministeriums Bemühungen gegeben, die Veröffentlichung zu verhindern. Auch habe Lovato Morddrohungen erhalten. Anhänger und Anwälte von López drohten ihm mit juristischen Prozessen, bislang blieb es jedoch bei diesen Ankündigungen. Mehrere von Foreign Policy dokumentierte und von amerika21 übernommene Anmerkungen beziehen sich lediglich auf Details des Textes.

Dieser Artikel wurde im englischsprachigen Original mehrfach aktualisiert. Weiteres dazu finden Sie in den »Klarstellungen und Korrekturen« in den Fußnoten. Siehe dazu auch die Replik [4] zu diesem Text seitens des internationalen Büros von Leopoldo López.

Seit Straßenproteste vor knapp anderthalb Jahren Caracas aufmischten, war die US-Presse äußerst wohlwollend gegenüber Leopoldo López, dem 44-jährigen eingesperrten Anführer von Venezuelas radikaler Opposition. Er wurde aufgebaut als Kombination von Nelson Mandela, Gandhi und seinem entfernten Großonkel Simón Bolívar für seine elektrisierend konfrontative Politik. Das Nachrichtenmagazin Newsweek schrieb von seinen »blitzenden Schokoladenaugen und den hohen Backenknochen« und nannte López einen »Revolutionär, der das alles hat«. Die New York Times veröffentlichte ein Foto von ihm mit Kinnlade raus, Faust in die Luft, vor einer Menge johlender Protestierender und gaben ihm eine Plattform auf ihrer Meinungsseite. Beim Treffen der Vereinten Nationen letzten September in New York marschierten Protestierende zur Unterstützung von López auf und Präsident Barack Obama führte ihn auf einer Liste politischer Gefangener repressiver Länder wie China und Ägypten, die es »verdienen, frei zu sein«. López, der schon Interviews gegeben hatte ohne ein Hemd an, vereinnahmte Freiheit und Demokratie auf Auditorien weltweit mit Weltstars wie Kevin Spacey und Cher zu seiner Unterstützung, und der Hashtag #freeleopoldo schoss währenddessen auf Twitter nach oben.

Aber in Venezuela ist das Bild deutlich komplexer. López ist seit Februar 2014 im Gefängnis, angeklagt wegen öffentlicher Anstachelung und Verschwörung beim ersten großen Antiregierungsprotest am 12. Februar 2014 mit drei toten Protestierenden und wochenlangen Protestzügen, Straßenblockaden, Vandalismus und Gewalt. Die Anklagen gegen ihn, die Amnesty International »politisch motiviert« nennt, könnten zu zehn Jahren Gefängnis führen. (Anm. d. Red.: López wurde am 11. September 2015 wegen Aufhetzung zur Gewalt, Beschädigung von Privateigentum, Brandstiftung und Bildung einer kriminellen Vereinigung zu 13 Jahren und neun Monaten Haft verurteilt [5].) Außerhalb des Gerichts verläuft der Streit zwischen denen, die López für einen Freiheitskämpfer und die Anklage für aufgebläht halten, und denjenigen, die glauben, er sei ein gewalttätiger »Faschist«, wie von der Regierung des Präsidenten Nicolás Maduro behauptet.

Im Vergleich zur Welle der Straßenproteste — mit schließlich 43 toten Antiregierungsprotestlern, Regierungsunterstützern und Nationalgardisten — nahm das López-Gerichtsverfahren ohne großes Aufsehen seinen Fortgang. Der Richter hatte keinerlei Freundlichkeiten für López’ Verteidigung, bis auf einen wurden alle 65 von dessen Anwälten benannte Zeugen zurückgewiesen, während 108 Zeugen der Anklage zugelassen wurden. »Dies hier ist kein Gericht«, schrieb López letzten Sommer aus dem Gefängnis: »Das ist ein Erschießungskommando.« Diesen September klagte er über seinen offiziellen Twitter-Zugang Maduro und dessen Innenminister als die »wahren Verantwortlichen für die Gewalttaten« an. Dennoch, als die Verhandlungen im Februar wiederaufgenommen wurden, nahmen die venezolanischen Medien davon kaum Notiz.

López’ Gerichtstermine in Caracas interessierten außerhalb des Gerichtsgebäudes meist nur kleine Unterstützergruppen, angeführt von Lilian Tintori, seiner Frau. Andere wichtige Oppositionsführer hielten sich fern, sie äußern jedoch regelmäßig Unterstützung für López’ Freilassung. Eine Kampagne seiner Partei, der Voluntad Popular, eine Versammlung zur Neuschreibung der Verfassung und Umorganisierung der Regierung einzuberufen, rief Kritik hervor, der Anführer einer konkurrierenden Oppositionspartei rief zu »Verantwortung und Seriosität« auf, ein Gouverneur der Opposition verlangte das Ende von »Anarchie und guarimbas«, den Straßenbarrikaden, eine bevorzugte Taktik von López’ jugendlichen Unterstützern.

Während der Venezuela-Besuche im vergangenen Jahr wurde deutlich, dass López auch nach seiner Verhaftung bei den jungen Aktivisten der Opposition der Rockstar geblieben war. »Leopoldo ist eine Person mit herausragenden demokratischen und katholischen Werten«, sagte mir Alejandro Aguirre, Mitglied der Javu (Aktive Jugend für ein Vereinigtes Venezuela), einer der wichtigen Studentengruppen hinter den Februarprotesten. »Außerdem ist er ein Athlet«, fügte Aguirre hinzu, den ich am 7. Mai beim Oppositionsforum »Anders Denken ist kein Verbrechen« traf, welches von El Nacional ausgerichtet worden war, einer der größten Tageszeitungen des Landes. »Athleten sind moralisch sauber, unverdorben, (und) mit schärferem Verstand als andere Leute.« Er sprach auch über López’ familiäre Qualitäten. »Leopoldo«, sagte er, »ist ein Vorbild für die Jugend.«

Später am Tag erschien die teleaffine Tintori, Ex-Model, Kite-Surf-Champion und Reality-Showstar, auf einer Kundgebung für politische Gefangene in Chacao, einem Stadtteil von Caracas, wo ihr Ehemann früher Bürgermeister war, ein Zentrum der Antiregierungsopposition und außerdem eine der wohlhabendsten Gegenden von ganz Venezuela.

Sprühend in ihrer leuchtend orangefarbenen Windjacke, mit ihrem makellosen Lächeln und langem blonden Haar, kam Tintoris Fähigkeit als Bannerträgerin für die Botschaft ihres eingesperrten Mannes voll zur Geltung.

»Sie wollen unseren Traum einkerkern«, rief sie, in Positur neben einer der lebensgroßen Pappfiguren ihres Ehemannes, wie sie in den Oppositionshochburgen des wohlhabenden östlichen Caracas allgegenwärtig sind. Sie pries die Bilanz ihres Mannes als Bürgermeister, wies hin auf das Krankenhaus in Chacao, wo »die Ärzte euch mit Liebe behandeln, als wäret ihr jemand Besonderes«. Und sie fuhr fort: »Das ist es, was wir als Venezolaner sein wollen, alle gleich, Rechte für alle Menschen ohne Unterscheidung und ohne Privilegien! Der Kampf eines Einzelnen ist heute der Kampf aller!«

Die Aktionen des heutigen Tages boten einen Blick auf den mediengestützten Populismus, wie er López und seiner politischen Partei half, Fahrt aufzunehmen, der Venezuelas etablierter Opposition, angeführt von der MUD-Koalition (Tisch Demokratischer Einheit), versagt blieb. Die Opposition hatte in 18 der 19 nationalen und regionalen Wahlen und Referenden massiv verloren, die abgehalten wurden, seit Präsident Hugo Chávez 1998 zum ersten Mal gewählt worden war. Obgleich von US-Medien selten registriert, werden die tiefen Risse zwischen MUD und ihrem Anführer, Henrique Capriles, und dem jüngeren, radikaleren Flügel der Opposition Venezuelas, angeführt von López, in Venezuelas Medien mit den Aufgeregtheiten von Seifenopern wiedergegeben. »Bei der Opposition erregt López einen Zorn, wie sonst allenfalls Chávez«, wie Mary Ponte, führendes Mitglied der Mitte-rechts-Oppositionspartei Primero Justicia, laut einer diplomatischen US-Depesche 2009 mal sagte. »Der einzige Unterschied zwischen den beiden ist das erheblich bessere Aussehen von López.« In einem anderen Absatz derselben Depesche der US-Botschaft mit Titel »Das López-Problem« beschrieben Offizielle des US-Außenministeriums López als »spalterische Figur innerhalb der Opposition«, der »oft als arrogant beschrieben wird, rachsüchtig sei und machthungrig — aber Parteioffizielle gestehen ihm anhaltende Popularität zu, Charisma und Begabung als Organisator«. Mit Sicherheit hat kein früherer venezolanischer Oppositionsführer sich selbst in einer Weise auf der internationalen Bühne positioniert, wie López es geschafft hat.

Aber das internationale Wohlwollen für López hing ganz wesentlich ab von seinem Bild als standhafter Verteidiger der Demokratie — also als einer mit hinreichender Distanz zum höchst unpopulären Putschversuch von April 2002, als Militärs und führende Geschäftsleute Präsident Chávez für 47 Stunden aus dem Amt stießen. Ein Weißbuch vom Juli 2014 über sein Verfahren, geschrieben von zwei Anwälten, die ihn und seine Familie vertraten — Jared Genser und José Antonio Maes — stellt fest, dass »López kein Unterstützer des Putsches war, auch unterschrieb er nicht die ›Verordnung zur Konstituierung der Regierung des Demokratischen Wandels und der Nationalen Einheit‹ (Carmona-Dekret), also das Dokument des Versuchs, Chávez zu stürzen und die Nationalversammlung und das Oberste Gericht aufzulösen — und er war auch nicht verbündet mit den führenden Geschäftsleuten, die das betrieben hatten.« López selbst betont häufig seine Loyalität zur Verfassung wie etwa in seinem Gastbeitrag in der New York Times von März 2014, als er schrieb: »Ein Wechsel der Führungsspitze kann ausschließlich im Rahmen der Verfassung und der Gesetze erreicht werden.«

Aber Interviews mit zentralen Figuren des 2002er-Putsches, ein näherer Blick auf López’ enge Mitarbeiter und die Durchsicht von Presse, Bildmaterial der Ereignisse und Dokumenten der US-Regierung zeichnen ein komplexeres Bild dieser Beteuerungen.


Leopoldo López wurde 1971 in eine der elitärsten Familien Venezuelas hineingeboren, er ist direkter Nachkomme sowohl des revolutionären Führers Simón Bolívar aus dem 19. Jahrhundert als auch von Venezuelas erstem Präsidenten Cristóbal Mendoza. Seine Mutter, Antonieta Mendoza de López, ist Topmanagerin bei Cisneros Group, einem globalen Medienunternehmen. Sein Vater, Leopoldo López Gil, ist Gastronom, Geschäftsmann und ist einer der Herausgeber von El Nacional.

»Ich gehöre zu dem einen Prozent der am meisten privilegierten Leute«, sagte López als Teenager, lange bevor die Occupy-Bewegung diesen Ausdruck populär gemacht hatte, in einem Interview mit einer Studentenzeitung an der Hun School of Princeton, einem privaten Eliteinternat in New Jersey. Es war an der Hun School, zu deren Alumni saudische Prinzen, ein Kind eines US-Präsidenten und ein Kind eines der Fortune-500-CEOs gehörte, wo López das »Erwachen der Verantwortung« verspürte, »die ich für die Menschen meines Landes habe«.

Von der Hun School ging López zum Kenyon College, einer liberalen Kunstakademie in Ohio, wo er Beziehungen anknüpfte, die ihm bis heute nützlich sind. Es war ein früherer Klassenkamerad und politischer Berater, Rob Gluck, der die »Freunde für ein Freies Venezuela« in Szene setzte, die medienzentrierte Anwaltsgruppe hinter der hochangesiedelten US-Kampagne für López’ Freilassung. Als ein Beispiel für den »nachhaltigen Eindruck, den (López) auf Menschen gemacht hat«, berichtete mir Gluck, Sprecher der Gruppe, wie »innerhalb von Tagen nach dessen Festnahme, ja binnen Stunden« Freunde von Kenyon in einflussreichen Positionen aus Journalismus, Kommunikation, Anwaltschaft und Regierung »emailten, Verbindung aufnahmen, sich freiwillig anboten (und) fragten, was wir denn tun könnten«.

Einige dieser Klassenkameraden gründeten darüber hinaus die »Free Leopoldo«-Kampagne, eine gut verknüpfte Anwaltsgruppe mit zündender Public Relation und Kampagnen in sozialen Medien für López’ Interessen. Einer der Kenyon-Klassenkameraden, die halfen, »Free Leopoldo« in den USA einflussreich zu machen, ist Leonardo Alcivar, Funktionär der Republikanischen Partei, der die Kommunikationsstrategien der Romney-Kampagne und den 2004er-Nationalkonvent der Republikanischen Partei leitete und der jetzt bei einer Kommunikationsfirma arbeitet, die Unternehmen bei ihrer Online-Strategie berät. Kein anderer Teil von Venezuelas Opposition verfügt über einen vergleichbaren US-Medieneinsatz wie López durch »Free Leopoldo«.

Gluck selbst war früher strategischer Planer bei den Republikanern, der für Lamar Alexanders Präsidentschaftskampagne arbeitete und die erfolgreiche Kampagne zur Wiederberufung von Gouverneur Gray Davis, welche zur Wahl von Arnold Schwarzenegger führte. Er ist derzeit Partner bei der High Lantern Group, einer in Pasadena angesiedelten Kommunikationsfirma. Er sagt, »López war immer progressiv«, und gemessen am politischen Spektrum der USA sei er »links von der Mitte«. Gluck betreibt »Freunde für ein Freies Venezuela« pro bono — »meine freie Zeit, Leidenschaft und meine Verbindungen« treiben die Arbeit an, wie er sagt — aber, fügt er hinzu, seine Kommunikationsfirma wird auch in Dienst genommen von López’ Familie, um »die Botschaft von (López’) Situation nach draußen zu bringen«.

Nach Kenyon ging López nach Harvard, zur John F. Kennedy School of Government, wo er eine weitere einflussreiche Person traf, später einer seiner wichtigsten Unterstützer — den Venezolaner Pedro Burelli, früher ein JP-Morgan Manager und vor der Chávez-Ära einer der Direktoren von PDVSA, Venezuelas nationaler Ölgesellschaft, die die weltweit größten Rohölreserven kontrolliert.

Sie beide, sagt Burelli, trafen sich das erste Mal bei einer Vorstellungsreise in Harvard, als Burelli noch bei JP-Morgan war. »Jemand machte mich auf diesen jungen Venezolaner aufmerksam, der an der Kennedy School war, wo ich Jahre zuvor Examen gemacht hatte«, erklärt Burelli, jetzt Unternehmensberater bei B+V-Advisors, »und ich nahm Verbindung mit ihm auf«1 López begann 1996 bei PDVSA und war dort drei Jahre lang Analyst. Im Jahre 1994 kam auch López’ Mutter zu PDVSA, und 1998, nach einer ausgedehnten Runde durch Tochtergesellschaften, wurde sie Vizepräsidentin für Firmenangelegenheiten.2

Burelli betrachtet sich selbst als »sehr guten Freund« von López, er unterstützte, sagt er, den Oppositionsführer seit dessen Zeit bei der PDVSA bis Anfang 2014 mit informellem Rat bei vielen von dessen umstrittenen politischen Schritten.3 Während er bei der PDVSA war, erläutert Burelli, half López bei der Gründung der Gruppe Primero Justicia (Gerechtigkeit Zuerst) — die 2000 zur Gründung einer Oppositionspartei gleichen Namens führte. Im Jahre 2005 ergab eine Untersuchung des Rechnungshofes, dass die Mutter von López 1998, als sie und López noch im Unternehmen waren und unter Verletzung von Antikorruptionsgesetzen, 120.000 US-Dollar Firmenspenden von der PDVSA zu Primero Justicia umgeleitet hatte. López’ Anwälte weisen darauf hin, dass Primero Justicia zu jener Zeit eine Non-Profit-Organisation war und noch keine Partei und dass López wegen dieser Anschuldigungen niemals vor Gericht gestanden hatte. Der Rechnungshof untersagte López dennoch von 2005 bis 2008 seine Bürotätigkeit. Eine weitere Untersuchung in einer anderen Angelegenheit verbot López seine Tätigkeit bis 2014.4

Die Interamerikanische Kommission und der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte, angerufen von López, erklärten seine Verurteilung und das Verbot seiner Kandidatur für öffentliche Ämter für ungesetzlich und als Verstoß gegen sein Recht auf freie politische Betätigung und auf ein ordentliches Gerichtsverfahren. Aber das Oberste Gericht Venezuelas weigerte sich, dieser Anweisung zu folgen.5

López verließ Primero Justicia 2007 im Streit mit anderen Parteimitgliedern, er wechselte von einer politischen Partei zur nächsten, was schließlich zu seiner Don-Quijote-Präsidentschaftskandidatur 2012 für seine aktuelle Partei, Voluntad Popular, führte. Während dieser Jahre spielte er auch eine zentrale Rolle für die anwachsende studentische Opposition. In einer geleakten Depesche des US-Außenministeriums von 2007 ist zu lesen: »Der junge, dynamische oppositionelle Bürgermeister des Chacao-Distrikts in Caracas, Leopoldo López, redete zu den Studenten bei deren ersten Demonstrationen in seinem Bezirk, und er gibt ihnen Ratschläge abseits der Öffentlichkeit«; woanders wird López beschrieben als »die beste Verbindung zur studentischen Bewegung«. Einige Javu-Anführer, unter anderen einer aus den Depeschen, entwickelten sich zu Aktivisten der Voluntad Popular, der Partei, die López’ Aufstieg zur nationalen Bekanntheit anschob.

In der Zeit, als López an seinen politischen Fähigkeiten feilte und sich seine Basis aufbaute, stand er im Schatten seines früheren Mitstreiters aus der venezolanischen Opposition, Henrique Capriles, der der Anführer von Primero Justicia blieb und der zweimal für die Präsidentschaft kandidierte. Aber Capriles verlor 2012 eklatant gegen Chávez, abgeschlagen mit über einer Million Stimmen Unterschied, was zu den katastrophalen Verlusten der Opposition später im Jahr bei den Gouverneurswahlen beitrug. 2013 verlor Capriles wieder, gegen Maduro, wenn auch knapper. Diese Niederlagen führten zu Spaltungen bei der Opposition und — kombiniert mit Venezuelas wirtschaftlichem Niedergang und dem langen Warten auf Maduros Abschied 2019 — trieben López und seine studentischen Unterstützer letzten Februar auf die Straßen mit Parolen wie »Freiheit!« und »Demokratie!«. Sie fingen auch an mit Rufen nach »Salida«, also Rücktritt von Maduro, ein Ausruf, wie er 2002 vielfach auch gegen Chávez benutzt wurde.

»Demokratie« ist der innere Kern beim Anspruch auf Legitimität für die neue, radikalere Bewegung. Zentral für diesen Anspruch ist die Fähigkeit des charismatischen Anführers, sich von Venezuelas kurzem Putschversuch 2002 zu distanzieren, der immer noch eine offene politische Wunde ist.

Mitte April 2002, mitten in einem oppositionsgeführten Generalstreik gegen die PDVSA und Massenprotesten gegen (und für) Präsident Hugo Chávez, nahm eine Gruppe Militärs und führender Geschäftsleute Chávez in Haft und ernannte einen vorläufigen Präsidenten, Pedro Carmona, der damals Präsident der venezolanischen Industrie- und Handelskammer war. Das zentrale Dokument, in dem die Putschisten ihre neue Regierung ankündigten, wurde in Miraflores, dem Präsidentenpalast, am 12. April 2002 unterzeichnet, dem Tag, an dem Chávez festgenommen wurde und Carmona die Macht übernahm. In diesem Dokument, bekannt als Carmona-Dekret, wurden Nationalversammlung und Oberstes Gericht aufgelöst, also die 1999er-Verfassung des Landes effektiv abgeschafft. Das Schicksal des Putschversuchs hing entscheidend von den Ereignissen der folgenden Tage ab, die Opposition lancierte Generalstreik, Massenproteste und Medienkampagnen zur Unterstützung der Rechtmäßigkeit der Carmona-Regierung im Lande und außerhalb. Der Putschversuch wurde von Regierungen weltweit verurteilt, die Regierung des früheren US-Präsidenten George W. Bush jedoch verweigerte sich dem und gab Carmona damit Rückenwind. Tagelang wurde von Militärs Druck auf Chávez ausgeübt, freiwillig zurückzutreten, Putschistenführer behaupteten fälschlicherweise, er habe das getan. Pro-Chávez-Kräfte hatten währenddessen eigene Massenproteste organisiert; getragen von dieser Welle, drohten Pro-Chávez-Militärs, Carmona aus dem Amt zu holen, worauf der schließlich zurücktrat, und Chávez wurde zum Präsidentenpalast zurückgeflogen.

Der Putschversuch ist in Venezuela immer noch äußerst unpopulär, nicht zuletzt wegen Carmonas Entscheidung, die Verfassung aufzuheben, ein Dokument, dem nur drei Jahre vorher eine überwältigende Mehrheit der Venezolaner zugestimmt hatte, dabei auch viele Sympathisanten der Opposition. Eine Umfrage von September 2003 von Datanalisis, einem der bekannten Meinungsforschungsinstitute Venezuelas, kam zum Ergebnis, dass 90 Prozent der Befragten sich eine legale, demokratische und friedliche Lösung der politischen Krise des Landes wünschten. Die fehlende Popularität des Putsches wurde noch einmal bestätigt bei Chávez’ überwältigendem Sieg beim Abwahlversuch 2004. Jene zwei Putschtage 2002 bleiben laut Luis Vincente Leon, Präsident von Datanalisis, eine »delikate« Angelegenheit für die Opposition. »Sie haben etwas angestellt, das sie zu verdrängen suchten«, sagte er, »und das wollen sie immer noch.«

López und seine Helfer vom radikalen Oppositionsflügel versuchen seit Langem, diese Erinnerung loszuwerden. López hat all die Jahre stets betont, er habe das Carmona-Dekret nicht unterschrieben — und es gibt keinen Hinweis, dass er das doch tat. Auch habe er keinerlei Rolle bei den Putschvorbereitungen gespielt. »In keinerlei Weise war López Unterstützer des Coups, er war auch nicht verbündet mit den Unternehmern, die ihn anführten«, ist im Weißbuch seiner Anwälte zu lesen. Dieses Papier wurde am 21. Juli 2014 bei einer Pressekonferenz des Nationalen Presseklubs veröffentlicht, die von einem emotionalen Appel Tintoris für »Solidarität« und zur Freilassung ihres Mannes aus dem Gefängnis geprägt war. »Mir bricht es das Herz«, sagte sie den versammelten Journalisten und Unterstützern, »meiner Tochter nach jedem Besuch erklären zu müssen, warum ihr Papa nicht nach Hause kommen kann.«

Aber Nachrichtentexte, Parlamentsprotokolle, Dokumente der US-Regierung, Videoaufzeichnungen und Interviews zeigen, dass López vom Putschversuch und dessen Rädelsführern keineswegs dermaßen weit entfernt war, wie er und seine Vertreter es glauben machen. Zu den Putsch-Anstiftern und den Unterzeichnern des Carmona-Dekrets gehören Figuren, die zur fraglichen Zeit und auch jetzt zu López’ innerem Kreis gehören. Der in Harvard ausgebildete Leopoldo Martinez, mehrere Jahre lang Oppositionsführer im Parlament, leitete Primero Justicia zusammen mit López; er war vorgesehen als Finanzminister der kurzlebigen Carmona-Regierung. Maria Corina Machado, López’ engste Mitarbeiterin, die zusammen mit ihm zu den Protesten im letzten Februar aufgerufen hatte, war Unterzeichnerin; ebenso Manuel Rosales, früherer Anführer von Un Nuevo Tiempo, einer Partei, der López beigetreten war und die er 2007 aufbauen half (und aus der er 2009 ausgeschlossen wurde). Einer der etwa 400 Geschäftsleute, Militärs, Medienleute und politischen Figuren, die das Dekret in einer lärmigen Zeremonie im April 2002 in Miraflores unterzeichneten — während Chávez nicht weit weg in einer Militäranlage festgehalten wurde — war Leopoldo López Gil, López’ Vater.

Letzten Mai, bei einer Kundgebung für politische Gefangene in Caracas, näherte ich mich López Senior, um ihn zu seiner Entscheidung, zu unterzeichnen, zu befragen. »Habe ich nicht, keiner von uns, die da waren, hat irgendein ›Dekret‹ unterschrieben«, sagte er. »Was sie herumgereicht haben, war eine Anwesenheitsliste, die später missinterpretiert wurde. Wie hätten wir etwas unterzeichnen sollen, das wir nicht einmal gesehen hatten?« Aber Bildmaterial der Carmona-Unterschriftenaktion vom 12. April, das erst vor einigen Jahren ans Licht kam, zeigt eine andere Wahrheit: Ein überfüllter Raum mit Männern in Anzügen jubelt, als Teile des Dekrets zur Auflösung aller Bereiche der Regierung von Daniel Romero, Carmonas designiertem Generalstaatsanwalt, bei donnerndem Applaus vorgelesen werden. Das Video zeigt auch die Vereidigung Carmonas als Präsident und Romero, wie er die Anwesenden einlädt, »das Dekret, das soeben vorgelesen wurde, zur Unterstützung des Prozesses zu unterzeichnen«.

Der jüngere López, damals 30, war zur Zeit des Putschversuchs Bürgermeister von Chacao, einem Stadtteil von Caracas. Er unterstützte sowohl den Generalstreik des 9./10. April als auch den großen Marsch der Opposition vom 11. April unmittelbar vor Chávez’ Absetzung. Beides waren Schlüsselereignisse für den kurzen Erfolg des Coups, und López und Primero Justicia verschafften dessen Anführern sowohl Legitimität als auch notwendigen Rückhalt an öffentlicher Unterstützung.

Bei einer parlamentarischen Anhörung zum Coup im Juni des Jahres wurden Videobilder einer Übertragung von »24 Horas« (24 Stunden) wiedergegeben, einer Nachrichtensendung von Venevision, bei der der jüngere López, wie es scheint, Chávez’ Absetzung feiert. (Venevisión sagt, es könne kein Filmmaterial von 2002 mehr auffinden.) »Dieser Tag war für mich von Beginn an ein Tag ohne Umkehr«, sagt er gemäß offiziellem Parlamentsprotokoll. »Dies war ein Tag, als wir sagten, hier fiel die Maske der Diktatur, und darauf hatten wir alle gesetzt.« (Ein Mitglied von López’ Anwaltsteam, um einen Kommentar zu diesen Zeilen gebeten, erklärte per Mail: »Nichts in dem, was Leopoldo sagte, ist ein Hinweis auf seine Unterstützung des Coups: Er rief niemals zur Absetzung von Präsident Chávez auf oder zum Umsturz«, fügte er hinzu. »Und Sie können definitiv kein Vertrauen zu dem haben, was die Regierung Venezuelas gesagt hat«, sagte er.) Andere Videoquellen aus der fraglichen Zeit deuten hingegen auf großen Enthusiasmus von López für Chávez’ Absetzung. In einer Nachrichtensendung vom zentralen PDVSA-Protestmarsch in Caracas am 9. April 2002 erscheint López mit Baseballcap auf der Bühne und dirigiert eine Menge Zehntausender zum Chor »Kein Schritt zurück!«. Mit gellender Stimme schreit er: »Wir sind hier die ganze Nacht und morgen den ganzen Tag, bis der Präsident verschwindet!« (»Die Proteste und der Marsch«, sagt López’ Anwalt, »waren kein Putschversuch — sie wurden später dazu gemacht, aber nicht von ihm«.)

In einem Videokommuniqué, veröffentlicht von Primero Justicia am 11. April, als der Coup im Gange war, stehen López und andere Parteiführer neben ihrem Sprecher, dem oppositionellen Parlamentsmitglied Julio Borges, der erklärt, er und andere Parlamentarier seien bereit, von ihren Positionen zurückzutreten, und, in der Taktik, die Auflösung der Chávez-Regierung zu legitimieren, verlangten sie vom Obersten Gericht, vom Präsidenten und von dessen Kabinett, ebenfalls von ihren Posten »zurückzutreten«. López benutzte wiederholt den Begriff »renuncia«, Rücktritt, ebenso wie »salida«, also den von den Coup-Anführen favorisierten Begriff während eines Interviews am 11. April bei Venevisions beliebter »Napoleon Bravo«-Morgentalkshow. Gemäß noch verfügbarer Auszüge aus diesem Interview beschreibt López kurz, wie eine »Übergangsregierung« aussehen könne, und er sieht nur zwei mögliche Auswege aus der politischen Krise: den Coup oder die Auflösung der Regierung. »Was für Möglichkeiten haben wir in Venezuela?«, fragt er rhetorisch. »Entweder gibt es einen Coup, kurz, nüchtern oder sonst wie, oder eben unseren Vorschlag (das heißt Rücktritt der Chávez-Regierung). Es gibt keinen anderen Weg, hier in Venezuela über den toten Punkt zu kommen.« Chávez trat natürlich niemals zurück, stattdessen wurde er verhaftet.

In seinem Buch mit einer Beschreibung der Vorgänge von April 2002, »Mein Zeugnis vor der Geschichte«, weist Carmona darauf hin, dass der Marsch am 11. April ursprünglich zur PDVSA gehen sollte, dann aber zum Präsidentenpalast umgeleitet wurde, wo Pro-Chávez-Protestierer sich schon versammelt hatten. Als die beiden Seiten nahe beim Palast zusammenstießen, eskalierte der Konflikt und 19 Protestierende — beider Seiten — wurden von Kugeln getroffen und getötet. Carmona schreibt, dass er López »konsultierte« und dass die fatale Routenänderung des Protestzuges von »Bürgermeister Leopoldo López autorisiert« wurde.

Doch eineinhalb Monate nach dieser gewalttätigen Konfrontation und bei einer Zeugenaussage vor einer parlamentarischen Kommission, die zum Umsturzversuch ermittelte, bestand López darauf: »Zu keinem Zeitpunkt hatten wir Kontakt mit Sprechern der Übergangsregierung ... Alle unsere Entscheidungen waren vollständig und absolut autonom.«

Die am meisten kontroverse Episode von López bleibt die vom 12. April, die Festnahme und Einkerkerung des damaligen Innenministers Ramon Rodriguez Chacin. López, damaliger Bürgermeister von Chacao, und Capriles, Bürgermeister von Baruta (anderer Stadtteil von Caracas), erschienen nach Hinweisen aus der Nachbarschaft, wie sie sagen, bei dem Haus, wo Chacin sich aufhielt, unbewacht, und machten ihn persönlich verantwortlich für die 19 Erschossenen des Vortags. Als Oppositionelle und Medienleute sich außerhalb des Hauses in Baruta sammelten, setzten die beiden Bürgermeister ihn gefangen. (Die Todesfälle blieben bislang ungeklärt; beide Seiten beharren darauf, dass die andere verantwortlich sei.) López erklärte den Reportern damals, dass er und Capriles einen Durchsuchungsbefehl für das Haus bekommen hätten, und sie hätten Chacins Festnahme mit der Polizei von Baruta koordiniert. Kurz nachdem Chacin weggebracht war, zeigen weitere Videobilder López, wie er Reportern erzählt, dass »Präsident Carmona über die Festnahme Bescheid weiß«, ein weiterer Hinweis der Zusammenarbeit mit dem Anführer des Coups, also etwas, das López in allgemeinen Worten seitdem viele Male bestritten hat. (Nachdem Chávez wieder an der Macht war, wurden Capriles und López wegen illegaler Festnahme in diesem Vorfall angezeigt, aber sie wurden später im Zuge einer weitreichenden und kontroversen Amnestie begnadigt. Danach bei einer Pro-Regierungs-Talkshow 2012 gefragt, gestand López ein, dass diese Festnahme ein Fehler war.)

Im März 2014 saß ich mit Chacin zusammen, derzeitiger Gouverneur im Staat Guarico, um über die Ereignisse jenes Tages zu reden. »Ich hatte Carmona damals in dessen Haus getroffen, um herauszufinden, wie man zu einer Übereinkunft kommen könne, dem Land Frieden zu bringen«, sagte er. Die Festnahme, nur eine Woche später, kam für ihn überraschend.

»Leopoldo López fing an, mit einem Megafon in der Nachbarschaft herumzuziehen, ich sei ein Mörder und sei verantwortlich für die Toten«, sagte Chacin. »Er rief sie zusammen und erzählte ihnen, ich würde vor Gericht gebracht für die Mordaktionen der vergangenen Tage.« Ein Nachrichtenclip des Vorfalls zeigt, wie Chacin von der Menge geschlagen wird. Aber ein anderes Video jenes Tages zitiert, gemäß Protokoll der Parlamentsanhörung von Juni 2002 über den Coup, López mit der Behauptung, die Chávez-Regierung habe »sich versteckt, aber hier wird es Gerechtigkeit geben, denn was Venezuela hier und jetzt braucht, ist Gerechtigkeit«.

Chacin fuhr fort: »Sie sagten, sie würden mich festhalten und sie würden das sowieso tun, denn ›das hier ist ein Staatsstreich, und Chávez ist zurückgetreten.‹ Ich entgegnete ihnen: ›Nein, Chávez ist nicht zurückgetreten‹.«


López wurde nie gerichtlich beschuldigt, einen Putsch geplant zu haben. Aber die Tatsache, dass er in den strittigen Ereignissen 2002 eine Rolle spielte, ist in seinem Heimatland weithin bekannt, und dies hat den Blick vieler Venezolaner auf seine Rolle bei den letzten Februar in Caracas aufgeflammten Protesten sicherlich geprägt. Letzten März, als die »guarimbas«, die Straßenbarrikaden, in den Hochburgen der oppositionellen Elite, immer noch standen, sprach ich mit Hermann Escarra, einem Verfassungsanwalt und früherem oppositionellen Aktivisten, der einer der hauptsächlichen Architekten der 1999er-Verfassung Venezuelas war. Obgleich Escarra von Chavistas geschmäht wird wegen seiner Opposition gegen Präsident Chávez und dessen Unterstützer (beziehungsweise gegen deren Plan, die Präsidentschaft unbeschränkt auszudehnen), bezeichnet Escarra die Vorgänge 2002 als »Bruch der verfassungsmäßigen Ordnung«. Escarra äußert persönlichen Respekt für López, er sei aber nicht einverstanden mit dem, was er López’ Missachtung der Verfassung nennt. Bei einem mit Video aufgenommenen Oppositionstreffen im Februar 2004 saß er neben López, als der junge Politiker erklärte: »Wir sollten stolz sein auf den 11. April, als wir Chávez stürzten mit einem Marsch! ... Der Mann trat am 11. April zurück, er zog seinen Schwanz ein und verschwand« — was eine verblüffende Aussage fast zwei Jahre nach dem Coup ist, als die Behauptung, Chávez sei jemals zurückgetreten, keinesfalls mehr plausibel war.

Ich bat ihn, über die Proteste zu reflektieren, die immer noch Unruhe in die Stadt bringen, und über die Behauptung der Regierung, López sei mitverantwortlich für die Gewalt. Die aktuellen Vorwürfe gegen López wollte Escarra nicht kommentieren, er sei mit den Details nicht hinreichend vertraut, und er verteidigte die Rechte der Opposition auf friedliche Proteste. Aber er äußerte große Sorge über die kürzlich durchgeführten oppositionellen Proteste, die gesetzlos und gewalttätig geworden waren. »Was jetzt in Venezuela passiert, würde in den USA nie passieren und wird dort nicht passieren. Keiner würde daran denken, Autos oder Reifen anzustecken, Straßen Richtung Weißes Haus in Brand zu setzen, weil es härteste Strafen dafür geben würde«, sagte Escarra. »Hier gibt es die ›guarimbas‹ genannten Barrikaden, wo sie Kriegsmaterial gefunden haben und wo sie Molotowcocktails gefunden haben.«

Im Verlauf des vergangenen Jahres gab es neue Anschuldigungen seitens der Regierung, die den Focus von der 2014er-Protestwelle wegnahmen. Es fing an mit einem Regierungsreport mit dünner Quellenlage, herausgegeben im Mai letzten Jahres. Unter dem Titel »Putsch- und Mordplan in Venezuela enthüllt«, verknüpft dieser Report den US-Botschafter in Kolumbien, Kevin Whitaker, und zwei enge López-Verbündete — Maria Corina Machado, jetzt an der Spitze der Vente-Venezuela-Partei, und López’ alten Freund und Mentor von Harvard, Pedro Burelli — mit einer Verschwörung, Maduro zu »vernichten« und die Regierung zu stürzen. Gemäß dem damaligem Justizminister Miguel Rodriguez Torres gehörten Politiker, Geschäftsleute und Militärs zu dem Plot, die, wie er behauptete, die wirklichen Kräfte hinter den Straßenprotesten von Februar 2014 waren. 6

Um ihre Anschuldigungen zu stützen, veröffentlichte die Regierung E-Mails der angeblichen Verschwörer, dazu Aufnahmen von Gesprächen mit Burelli, der derzeit in McLean, Virginia, lebt. Burelli bestreitet alle Anschuldigungen, er engagierte forensische Ermittler, die sagten, die E-Mails seien gefälscht und bei Google gebe es keine Spuren zu deren Übermittlung. Ein Sprecher des US-Außenministeriums qualifizierte die Vorwürfe gegen Whitaker als »falsche Anschuldigungen in einer langen Linie unbegründeter Vorwürfe gegen US-Diplomaten seitens der venezolanischen Regierung«. Machado wies die Anklagen als »Fantasie« zurück.

Aber Burelli bestritt die Echtheit seiner Stimmenaufnahmen nicht, wie sie von zwei örtlichen Offiziellen bekannt gemacht wurden, denen zufolge die Aufnahmen zwischen dem 20. Februar und 14. März letzten Jahres gemacht wurden, beim Höhepunkt der Protestwelle, die López auf die internationale Bühne trug.

»Was ist passiert? Ich sehe Proteste über Proteste, Massen von Leuten auf den Straßen. Was geht vor in eurem ›colectivo‹?«, fragt Burelli in einem Gespräch mit einem nicht identifizierten Militäroffizier und benutzt dabei einen Begriff, der sich oft auf eine politische Zelle bezieht. 7

(Im Interview 2014 weigerte sich Burelli, den Offizier beim Namen zu nennen, er sagt nur, er sei verabschiedet. Später aber identifizierte er den verabschiedeten Offizier als Lt. Col. José Gustavo Arocha Perez. Burelli erklärte zudem, er habe den Begriff »colectivo« in Bezug auf die Streitkräfte benutzt.) »Ich denke, die Welt ist außerordentlich aufgewühlt«, erklärt Burelli dem Offizier in einer Sprach-Mail. »Alles was fehlt, ist, dass das Militär hier die Entscheidungen trifft, die getroffen werden müssen.«

»Mir scheint, dass das ein anderer Leopoldo López bei den Streitkräften ist, einer, der versteht, dass die Zeit gekommen ist, mit dem Abschaum des Chavismus aufzuräumen, dem Dreck von Komplizenschaft und Korruption«, fährt Burelli fort. »Jede Gruppe die sich jetzt erhebt und das sagt, wird eine Krise hervorrufen, das garantiere ich. Aber es muss in Verbindung mit dem Kampf der Menschen sein, zu Leos Kampf und in Solidarität mit Leo ... Dies ist der Moment. Da ist kein Risiko dabei, wenn es richtig gemacht wird.«

Als ich Burelli nach den Aufnahmen fragte, sagte er: »Das sind Aufnahmen von mir, aber diese Aufnahmen beweisen überhaupt nichts ... Leute, die das alles komplett gelesen haben, sagen, das ist eine Unterhaltung, wie man sie mit jedem haben kann.«

Im September 2014 zielten Anschuldigungen auf Lorent Saleh, einen der JAVU-Gründer, einer Studentengruppe, der engste Beziehungen zu den letztjährigen Protesten nachgesagt werden. Venezuelas Justizminister ließ ihn festnehmen, klagte ihn des Terrorismus an und veröffentlichte Videos, in denen man Saleh im Gespräch über Anschläge auf Diskos und Schnapsläden, Inbrandsetzung von Gebäuden und Rekrutierung von Scharfschützen zum Töten von Basisaktivisten sieht. Obgleich in den US-Medien kaum erwähnt, waren die Proteste des letzten Jahres geprägt von mehreren derartigen Vorfällen, Bombenanschlägen auf Regierungsministerien, Kinderläden, Stadtbusse und Fernsehstationen und von tödlichen Schüssen auf Sicherheitskräfte und Chávez-Sympathisanten.

Schließlich wurde im Februar dieses Jahres Caracas’ Bürgermeister Antonio Ledezma festgenommen, eine der drei führenden Figuren zusammen mit López und Machado hinter den vorherigen Februarunruhen, angeschuldigt wegen Aufruhr und Verschwörung als Teil eines weiteren angeblichen Putschversuchs. Beide, Saleh und Ledezma, bestreiten alle Anklagen; der Anwalt des Letzteren gibt an, die Anklagen gegen Ledezma basierten auf Fälschungen und Beweismanipulationen. (Saleh benennt die Verbindung beider, indem er in einem Video sagt: »Ledezma ist der Schlüssel ... Der Politiker, der den Widerstand am meisten unterstützt hat, war immer Ledezma.«)

Die Vorwürfe gegen Saleh und Ledezma scheuchten die Opposition auf. Sowohl ihr moderater wie auch ihr radikaler Flügel schlossen sich zur Verteidigung Ledezmas zusammen, dessen Festnahme für internationale Aufmerksamkeit gesorgt hatte, und erneuerten Aufrufe, López freizulassen. Aber der Fall von Saleh schied die Geister, einige von Salehs engsten Gefährten in der Voluntad Popular äußerten Sorge über die »Verletzung von (Salehs) Menschenrechten«, andere gingen bald auf Distanz und sagten, »Saleh schuldet dem Land eine Erklärung.« (Auf die Frage nach López’ Verbindungen zu Burelli, Saleh und Ledezma erklärte der Anwalt von López: »Es gibt jeden Grund für ernsthafte Zweifel an der Authentizität solcher Behauptungen.«)

Die Festnahme von Ledezma geschah nur eine Woche nachdem er, López und Machado — am Jahrestag der Unruhen des letzten Jahres — einen gemeinsam »Aufruf an die Venezolaner für ein Nationales Abkommen für den Wechsel« lanciert hatten. Darin wird zu einem »friedlichen Übergang« der Maduro-Regierung aufgerufen, die, wie das Dokument erklärt, in ihrer »Endphase« sei. Präsident Maduro reagierte am 4. März mit der Veröffentlichung eines weiteren angeblichen oppositionellen Dokuments; dieses Mal mit einem detaillierten 100-Tage-Übergangsplan, dessen Entwurf Echos von 2002 enthält. Er ließ durchblicken, das Dokument sei »verfasst worden von den eingesperrten Gewaltanwendern.«

»Verschwörung und Gegenverschwörung« scheinen eine Konstante im heutigen Venezuela zu sein; aber diese links- und rechtspolitischen Dramen werden überschattet von Venezuelas wachsender wirtschaftlicher Krise, und deren Druck hat Wirkung auf die venezolanische Politik. Am 9. März legte die Obama-Regierung noch nach und erklärte die Situation in Venezuela zu einer »außerordentlichen Bedrohung für die nationale Sicherheit und die Außenpolitik der Vereinigten Staaten«. (Die Regierung rückte später von dieser Erklärung wieder ab.)

All diese Unruhen scheinen der venezolanischen Opposition zu nutzen. Luis Vincente Leon, Meinungsforscher bei Datanalisis, erzählte mir, die jüngsten Umfragen deuteten darauf, dass Maduro es sei, der den größten politischen Preis für die Krise zahle, seine Popularität fiel im Januar auf 23 Prozent, den bisher niedrigsten Wert, hingegen sei die Zustimmung für López und Capriles im März auf jeweils 40 Prozent gestiegen. (Maduros Zustimmung schnellte im März auf 28 Prozent wieder hoch.) Die regierende Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas ist nach wie vor die am besten organisierte Partei, und ihre Unterstützung bleibt stark in Venezuelas ärmeren Bezirken, und dieses Segment wird der Schlüssel sein für die kommenden Parlamentswahlen, die für später im Jahr geplant sind. Aber Maduros persönlicher Mangel an Popularität hat die Basis der Partei erodiert, die jetzt nur noch 17 Prozent Wählerunterstützung für sich reklamiert (von 42 Prozent bei Chávez), ebenso viel zusammengenommen wie die, die sich zu einer der vielen venezolanischen Oppositionsparteien bekennen.

Wer am meisten durch die Unruhen des letzten Jahres gewann, sagt Leon, ist ohne Zweifel Leopoldo López. Die Haft hat López’ Bild in der Öffentlichkeit gestärkt, und einige sehen in ihm einen »standhaften Märtyrer, der zu Unrecht eingesperrt wurde, kein Zweifel zu Unrecht — und ohne jeden Zweifel politischer Gefangener, dem einhellige Solidarität zukommt«. Sein aufsteigender Stern könnte jedoch zu einer weiteren »Spaltung« der Opposition beitragen, da López nun auf den Podien und in öffentlicher Zustimmung mit Capriles gleichauf liegt. Capriles, Bannerträger der Opposition, muss sich bemühen, seine eher moderate Koalition, die MUD, vor weiteren Rissen zu bewahren angesichts des wachsenden Einflusses von López und dessen radikalem Flügel.

Im vergangenen Mai, nach einem Hungerstreik von López und seinem Aufruf zu massenhaftem Protest, erschienen diese Brüche in voller Klarheit. »Ein Jahr und drei Monate nach unseren (Protest-)Aufruf ist die Situation schlimmer als letztes Jahr«, sagt López am 23. Mai in einer Videoaufnahme aus dem Ramo-Verde-Gefängnis. »Brüder und Schwestern Venezolaner, wir fordern euch zu Protesten an diesen Samstag auf Venezuelas Straßen auf, machtvollen Protesten, massiv, friedfertig ohne jede Gewalt.« Der Hungerstreik mit der Teilnahme einiger studentischer Unterstützer »repräsentiert das Leid aller Venezolaner«, erklärt López’ Frau Lilian. Ihr zur Seite stand Ledezmas Frau beim Caracas-Protest am 30. Mai, bei dem etwa 3.000 Anhänger präsent waren, nur ein Schatten der Massenaktionen vom vergangenen Jahr.

Die MUD-Koalition gab eine Erklärung heraus, nicht teilzunehmen (obgleich Capriles laut Tweet persönlich dabei sein wollte), und mit einem Seitenhieb auf López’ »einseitigen« Akt, wie sie es nannte: »Die besten Entscheidungen sind die, zu denen man gemeinsam kommt, denn für Einheit gibt es keinen Ersatz«, stand in der Erklärung.

Was aus der venezolanischen Opposition letztlich wird, wird nicht entscheidend vom Ergebnis des López-Gerichtsverfahren abhängen. Viel hängt ab von López’ Glaubwürdigkeit: ob die öffentliche Meinung in der Figur López’ und dessen Teil der Opposition weiterhin eine seriöse neue Stimme für demokratischen Wandel sieht oder eine Bewegung geprägt von unbeliebter Radikalität.

Dieser Artikel entstand mit Unterstützung des Recherchefonds des Nations Institute und der Puffin Foundation. Alle Rechte am Original liegen bei foreignpolicy.com, die der Übersetzung, auch in Teilen, bei amerika21.

1. Klarstellung, 12. August 2015: Pedro Burelli war mit der Anstellung von Leopoldo López bei PDVSA nicht befasst

2. Klarstellung, 3. September 2015: Leopoldo López’ Mutter wurde 1980 ursprünglich bei einer Tochtergesellschaft der PDVSA eingestellt und 1994 zur Zentrale transferiert.

3. Klarstellung, 12. August 2015: Burelli gab López keine speziellen Anweisungen zu den Auseinandersetzungen von 2014 mit der venezolanischen Regierung.

4. Klarstellung, 26. August 2015: Wegen eines Editierfehlers in der vorherigen Version dieses Artikels war es unklar, in welchem Jahr es López verboten wurde, für ein öffentliches Amt zu kandidieren.

5. Aktualisierung, 12. August 2015: Dieser Artikel wurde aktualisiert, um Notiz zu nehmen vom Urteil der Interamerikanischen Kommission und des Interamerikanischen Gerichts für Menschenrechte in der López-Angelegenheit.

6. Korrektur/Klarstellung, 12. August 2015: In der vorherigen Version dieses Artikels war unkorrekt notiert, Burelli werde „von venezolanischen Behörden als flüchtig vor der Justiz betrachtet«. Im Juni 2014 berichtete BBC, die venezolanische Regierung bemühe sich um eine Rote Ausschreibung von Interpol zu seiner Festnahme. Diese wurde nicht gegeben.

7. Aktualisierung, 17. August 2015: Dieser Artikel wurde aktualisiert, um einzugehen auf Burellis Erklärung zur Bedeutung des Wortes "colectivo" und um den Namen des pensionierten Offiziers zu nennen, zu dem er gesprochen hatte.

Quelle: Foreign Policy [6]

Links:
[1] https://amerika21.de/autor/roberto-lovato
[2] http://impresa.prensa.com/panorama/Leopoldo-Lopez-teme-atentado_0_4303069740.html
[3] https://amerika21.de/2015/10/133783/mud-sacharow-preis
[4] http://foreignpolicy.com/2015/09/07/the-other-side-of-leopoldo-lopez-venezuela-opposition/
[5] https://amerika21.de/2015/09/129354/urteil-leopoldo-lopez
[6] http://foreignpolicy.com/2015/07/27/the-making-of-leopoldo-lopez-democratic-venezuela-opposition/

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