Cherán wird langsam wieder grün

Mexiko: Salvador Campos Gembe über den Kampf gegen den Holzschlag und für die indigene Selbstbestimmung

ILA vom 15.05.2019
ila 425, Mai 2019

 

ila 425, Mai 2019 Der mexikanische Bundesstaat Michoacán hat in den vergangenen 30 Jahren über 65 Prozent seines Waldbestandes verloren. Illegaler Holzschlag ist ein wichtiger Grund dafür. Doch im Landkreis Cherán mit seinen gut 20000 Bewohner*innen hat es die indigene Purépecha-Bevölkerung nicht nur geschafft, die Kontrolle über ihre Waldgebiete zurückzuerlangen, sondern sich auch politisch selbst zu verwalten. Über die Erfahrung der ländlich geprägten Kleinstadt Cherán sprach Gerold Schmidt im vergangenen Oktober während einer kleinen Deutschland-Rundreise mit Salvador Campos Gembe, der von 2015 bis 2018 dem Obersten Rat von Cherán angehörte.

Wann begann der Widerstand gegen die illegalen Waldrodungen?

Der Kampf von Cherán geschah vor dem Hintergrund von zunehmender Gewalt im ganzen Land. Unsere Gemeinde versuchte, ihre Wald- und Wasserreserven zu schützen und zu verteidigen. Ausgangspunkt war der 15. April 2011. Auf Initiative der Frauen entschieden wir uns, der Verwüstung unseres Waldes ein Ende zu setzen. Damals waren bereits etwa 18000 Hektar Waldfläche betroffen. Seit 2008 hatte der Holzschlag durch das organisierte Verbrechen immer größere Ausmaße angenommen. Das Verhalten der Behörden auf allen Ebenen zeichnete sich durch Gleichgültigkeit oder Komplizenschaft aus. Konkreter Anlass für unseren Aufstand war die mit dem Holzschlag einhergehende Zerstörung einer Wasserquelle, welche die Gemeinde mit Trinkwasser versorgte. Die Frauen waren die ersten, die aus Protest die Zugänge zu Cherán versperrten. Wir entzogen der Lokalregierung ihre Legitimität und vertrieben die korrupte örtliche Polizei.

Damals hatte Cherán auch schon Tote und Verschwundene zu beklagen.

Die meisten Opfer gab es vor April 2011 und noch bis 2012. Acht Gemeindemitglieder wurden ermordet, vier weitere Personen sind bis heute verschwunden. Diese Verbrechen sind nicht aufgeklärt und immer noch straffrei. Die Aufklärung und das Ende der Straffreiheit sind Forderungen, die wir auch gegenüber der neuen Regierung erheben werden. Sie ist der Gemeinde und den Familienangehörigen der Opfer die Wahrheit schuldig.

Was änderte sich ab 2011?

Wir beschlossen, auf die politischen Parteien zu verzichten und uns auf unsere indigenen Wurzeln zu besinnen. Die Parteien haben Cherán immer nur gespalten. Wir haben nichts Neues erfunden, sondern ein altes bestehendes Modell wiederaufgenommen. In der Gemeinde gibt es heute drei »Institutionen«: Die erste ist die Fogata, die Feuerstelle. Diese Tradition nahmen wir wieder auf, als wir die Gemeinde absperrten und nächtliche Wachen hielten. Die Fogatas sind ein Treffpunkt, wo sich die Nachbarn über aktuelle Themen und Probleme austauschen. Dort wird ein Konsens getroffen, was auf der nächsten Ebene, der Stadtteilversammlung, diskutiert werden soll. Die oberste Ebene ist die Gemeindevollversammlung, auf der die vier Barrios (Stadtteile) Cheráns gemeinsame Entscheidungen treffen und den Obersten Rat zusammenstellen. Um es etwas plastischer zu machen: Innerhalb jedes Viertels existieren 49 beziehungsweise 50 Fogatas. Von dort kommen die Personalvorschläge, wer uns die nächsten drei Jahre regieren soll. Jedes Viertel nennt seine Kandidat*innen für die Vollversammlung. Auf der wird seit 2012 der Oberste Rat von Cherán bestimmt. Jedes Viertel ist dort mit drei Personen vertreten. Ich würde da nicht von einer Wahl sprechen, sondern die Personen, die drei Jahre lang der Bevölkerung dienen und für alle regieren sollen, werden dort bestimmt. Die Entscheidung fällt, indem sich die Leute hinter »ihre« Kandidat*innen stellen. Pro Viertel werden die drei Personen, hinter denen sich die längsten Reihen bilden, in den Obersten Rat entsandt. Es gibt außerdem acht Fachräte für die verschiedenen Aufgabenbereiche der Gemeinde. Dort haben die Frauen die Mehrheit. Im Obersten Rat sind sie noch in der Minderheit. Im September 2018 hat der dritte Oberste Rat sein Amt angetreten. Die Veränderungen in Cherán kommen aber nicht durch den Obersten Rat. Sie hängen davon ab, wie jeder einzelne mitzieht. Die Mitglieder des Obersten Rates müssen regelmäßig vor ihren Vierteln Rechenschaft ablegen. Wir wissen nicht, wie lange wir bei den bestehenden Rahmenbedingungen unser Modell weiterverfolgen können. Cherán ist kein abgeschlossener Prozess. Wir müssen uns Tag für Tag neu beweisen.

Cherán hat vor Gericht sein Recht auf indigene Selbstverwaltung mit eigenen Institutionen durchgesetzt. Wie habt ihr das geschafft?

Wir haben uns auf den Artikel 2 der mexikanischen Verfassung berufen, der uns dieses Recht theoretisch zugesteht. Wir beschlossen, unser in der Verfassung festgeschriebenes Recht beim Wort zu nehmen. Als wir dieses Recht vor dem Bundesstaat Michoacán und seiner Regierung geltend machen wollten, war die Antwort: Auf Bundesstaatsebene ist ein Gesetz notwendig, um das Verfassungsgebot umzusetzen. Da Michoacán ein solches Gesetz noch nicht verabschiedet hat, ist die Umsetzung nicht möglich. Wir verklagten Regierung und Parlament Michoacáns wegen Unterlassung. Der Fall ging bis zum Verfassungsgericht. Wir gewannen das Verfahren im Jahr 2012 — ein Präzedenzfall in Mexiko! Wir werden aber immer von den politischen Parteien bedroht sein. Für sie ist unsere Regierungsform schlichtweg schlecht, denn sie werden außen vor vorgelassen. Dagegen steht unsere Einheit als Gemeinde.

Wie habt ihr es erreicht, dass Cherán inzwischen sicher geworden ist?

Mit unseren eigenen Instrumenten. Das organisierte Verbrechen innerhalb unserer Gemeinde ist ausgebremst. Schwere Kriminalität geht heute in Cherán gegen Null. Ausgangspunkt waren auch hier die Diskussionen der Fogatas. Cherán sorgt durch die gemeindebasierte Wachpatrouille (Ronda Comunitaria) selbst für seine Sicherheit. Die Wache besteht aus insgesamt 80 Personen. Sie sind für den Waldschutz sowie die Überwachung der Zugänge zum Landkreis und die Sicherheit innerhalb Cheráns zuständig.

Wie steht es inzwischen um den Wald?

Er regeneriert sich. Wir führen mehrere Aufforstungsprogramme durch. Cherán wird wieder grün. Wir sammeln die Samenkerne der Nadelhölzer, die zu unserer Region gehören, und ziehen Bäume in der gemeindeeigenen Baumschule auf. In unserem erfolgreichsten Jahr hatten wir 2 Millionen Setzlinge. Wenn die Setzlinge eine Höhe von 15 Zentimetern erreicht haben, pflanzen wir sie aus. Wir versuchen, die Jugendlichen einzubeziehen. Vom Kindergarten bis zur Abiturschule verfügt Cherán über 42 Bildungseinrichtungen. Wir versuchen, den Kindern und Jugendlichen die Kenntnis unseres Territoriums, die Wertschätzung unserer Wälder nahezubringen, etwa durch ausgedehnte Wanderungen. Wir müssen unser Konsumverhalten ändern. Wir haben ein Recyclingprojekt in der Gemeinde angestoßen, das wir aufgrund fehlender Mittel aber noch nicht zu 100 Prozent durchsetzen können. Wir sortieren nach sechs verschiedenen Müllsorten in Jutesäcken. Und wir haben den Krater eines erloschenen Vulkans in ein riesiges Regenwassersammelbecken umfunktioniert. Bei voller Kapazität können dort 20 Millionen Liter Wasser aufgefangen werden. Das Wasser wird in einer Aufbereitungsanlage zu Trinkwasser für die Bevölkerung umgewandelt.

Was können andere Gemeinden von Cherán lernen?

Wir selber wollten kein fremdes Modell kopieren und kein Beispiel sein, das einfach übernommen werden kann. Aber wir haben gezeigt, dass wir ohne politische Parteien zurechtkommen. Nur die Einigkeit, nur der Schutz der eigenen Ressourcen als Teil der eigenen Kultur, des eigenen Erbes führt zum Erfolg.

Das Interview führte Gerold Schmid

Ausführliche Darstellung des Falls Cherán:
http://ceccam.org/sites/default/files/cheran.pdf.

Deutsche Version in Kürze unter:
http://ceccam.org/de

Sehr gutes aktuelles Video (Audio auf Spanisch): Cherán, El gobierno del pueblo,



 

Quelle: https://www.ila-web.de/ausgaben/425


 

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