Es gibt keine effektiven Antworten auf die Straflosigkeit
(Interview mit Luis Daniel Vázquez Valencia von der UNAM, 15.03.2022)
Mexiko-Koordination vom 15.03.2022 | |
Interview: Carola Hausotter und Tobias Lambert |
Luis Daniel Vázquez Valencia (Foto: privat)
Interview mit Luis Daniel Vázquez Valencia von der Autonomen Nationalen Universität Mexikos (UNAM) über die ersten drei Jahre der Regierung López Obrador in Mexiko.
Seit 2006 eskaliert in Mexiko im Rahmen des so genannten Drogenkrieges die Gewalt. Präsident Andrés Manuel López Obrador versprach 2018, das Land zu befrieden. Was hat die Regierung in der ersten Hälfte ihrer Amtszeit erreicht?
Wir erleben vor allem Kontinuität. Drei Jahre nach dem Amtsantritt hat sich bei den maßgeblichen Indikatoren wie Mordrate oder Verschwindenlassen nichts grundlegend geändert. Neue Politikansätze, um das Land zu befrieden, gibt es in Mexiko nicht. Die Regierung wollte die Ursachen des Konfliktes bekämpfen, also Ungleichheit und Armut. Sie stellt dafür mehr Geld bereit, knüpft dies aber nicht an Bedingungen. Die Folge ist ein Klientelismus, der direkt dem Präsidenten nutzt. Die kriminellen Netzwerke, die es teilweise seit Jahrzehnten gibt, tangiert das nicht.
Ein weiteres Versprechen der Regierung war es, gegen Korruption vorzugehen. Sind dabei Fortschritte zu verzeichnen?
Es gibt eine Reihe von Organismen wie das ‚Nationale Anti-Korruptions-System’ (SNA) oder das ‚Nationale Institut für Transparenz, Zugang zu Information und Schutz persönlicher Daten’ (INAI). Deren Aufgabe ist es, Korruption zu bekämpfen sowie die Rechenschaftspflicht zu verbessern. Im Diskurs des Präsidenten gelten diese Organismen aber als neoliberale Erfindung, mit der eine Anti-Korruptions-Politik simuliert werde. Daher stärkt die Regierung sie nicht, sondern sie erhalten im Gegenteil weniger Haushaltsmittel. Tiefer gehende Ermittlungen auf den oberen Ebenen der Korruptionsnetzwerke finden nicht statt. Bei seiner Amtsübernahme am 1.Dezember 2018 sagte der Präsident: ‚Vergessen nein, Vergeben ja’. Das heißt, bei Menschenrechtsverletzungen oder Korruptionsfällen wollte er eine Art Schlussstrich ziehen. Es herrscht weiterhin der alte Pakt der Straflosigkeit, wonach hohe politische Funktionäre keine Ermittlungen zu befürchten haben.
Die Rechtsstaatlichkeit konnte die neue Regierung also nicht stärken?
Es gibt keine effektiven Antworten auf die Straflosigkeit. Jährlich werden in Mexiko etwa 30 Millionen Straftaten begangen, zwischen 97 und 99 Prozent davon bleiben straffrei. Das heißt, weder Staatsanwaltschaften noch Polizei funktionieren. Im schlimmsten Fall sind die Institutionen, genau wie Wirtschaftsunternehmen oder Politiker, selbst in kriminelle Netzwerke und Kartellstrukturen involviert. Zwar hat die Regierung die Bundespolizeit (‚Policía Federal’), die stark vom Organisierten Verbrechen unterwandert war, durch die Nationalgarde (‚Guardía Nacional’) ersetzt. Diese ist allerdings eine offen militarisierte Polizei und damit Teil des Problems. Militärische Strukturen verhindern weder Korruption noch Menschenrechtsverletzungen. Dies sieht man beispielsweise an der Mordrate.
Wie hat sich diese unter der Regierung López Obrador entwickelt?
In Folge des Krieges gegen die Drogen stieg die Mordrate ab 2007 stark. Von 2013 bis 2015 ging sie etwas zurück, um anschließend wieder anzusteigen. 2018 verzeichnete Mexiko etwa 36.000 Tötungsdelikte. Seitdem ist diese Zahl jedes Jahr konstant geblieben, das heißt alle 14 Minuten stirbt ein Mensch eines gewaltsamen Todes. Zudem verschwinden jeden Monat 1.000 Personen und es kommt zu Vertreibungen in Gebieten, die durch das Organisierte Verbrechen kontrolliert werden. Die Menschenrechtspolitik hat also nicht wie erhofft funktioniert.
Wie ist das Verhältnis sozialer Bewegungen und zivilgesellschaftlicher Organisationen zur Regierung?
Mit der ersten linken Regierung im Jahr 2018 schien sich ein Gelegenheitsfenster zu öffnen, um einen neuen Rahmen für Demokratie und Menschenrechte zu schaffen. Viele soziale Bewegungen galten anfangs als potenzielle oder fast schon natürliche Verbündete der Regierung. Dazu zählen die Menschenrechtsbewegung, die Bewegung für Geschlechtergerechtigkeit, die Umweltbewegung oder auch indigene Bewegungen. Deren Forderungen spielten jedoch bald schon keine große Rolle mehr. Stattdessen kam es zu einer tiefen politischen Polarisierung, die sowohl auf den Präsidenten als auch die Opposition zurückgeht. Grautöne haben in der politischen Debatte kaum einen Raum, es geht nur darum, für oder gegen den Präsidenten zu sein. Auch wer fundierte Kritik übt, die auf Zahlen und Fakten beruht, wird umgehend als Gegner behandelt. Es gibt momentan kaum Möglichkeiten für einen Dialog.
Dr. Luis Daniel Vázquez Valencia forscht am Rechtswissenschaftlichen Forschungsinstitut der Autonomen Nationalen Universität Mexikos (IIJ-UNAM) und arbeitet mit dem lateinamerikaweiten Forschungsinstitut für Sozialwissenschaften (FLACSO-Mexiko) zusammen. Seine Schwerpunkte sind die Zusammenhänge zwischen Gewalt, Korruption, Straflosigkeit und Menschenrechten sowie die öffentliche Politik unter dem Aspekt der Menschenrechte.
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