Die Heimat verlassen, um das Wort zu behalten

Poonal vom 29.06.2022
Daniela Pastrana

 

(Mexiko-Stadt, 22. Juni 2022, Pie de Página).- Die Angst benennen, sie anerkennen und ihr begegnen. Sie politisieren, sozialisieren, kollektivieren. Und vor allem: Sie ausgehend von der ihr zugrunde liegenden Absicht lesen, also von der Strategie, Terror auszuüben, um Schweigen zu erzwingen. Uns als verletzlich akzeptieren. Die Schuld loslassen. Den erzwungenen Ortswechsel als letztes Mittel verstehen, um am Leben festzuhalten. Das alles sind Worte und Ideen, die an einem Nachmittag im Juni auf einer Veranstaltung im Auditorium des Goethe-Instituts in Mexiko-Stadt wachsen und sich ausbreiten. Auf der Bühne berichten betroffene Journalist*innen von der Zwickmühle, die ein alter Machthaber bereits vor einem halben Jahrhundert im mexikanischen Bundesstaat Guerrero gegen seine Gegner*innen geschaffen hat: die Wahl zwischen Beerdigung oder Verbannung.

»Das Verlassen der Heimat ist (für Journalist*innen) ein Kampf, um sich das Wort zu erhalten und weiterzuleben«, sagt die Anthropologin Jessica Arrellano López. Sie ist die Forscherin und Redakteurin des Berichts »Die Angst geht dort weiter − Kritischer Journalismus in der Vertreibung und im Widerstand«, der die Erfahrungen von fünf Journalist*innen festhält, die wegen der sozialpolitischen Gewalt in Mexiko ihr Zuhause verlassen mussten.

Angst als Werkzeug der sozialen Kontrolle



Der Bericht wurde unterstützt von der deutschen Hilfsorganisation Brot für die Welt und herausgegeben von der mexikanischen zivilgesellschaftlichen Organisation Aluna, die Menschenrechtsverteidiger*innen und Journalist*innen psychosoziale Begleitung bietet. Er betont die Notwendigkeit, den politischen Hintergrund herauszuarbeiten, der hinter der Angst steckt und die Angst selbst als Werkzeug der sozialen Kontrolle zu verstehen. Der Text zeigt auf, wie sich die fünf Medienschaffenden »Stück für Stück« ihre Stimme wieder aneignen, mit dem Schreiben beginnen und ihre politischen Vorhaben und Lebensprojekte wieder aufnehmen.

Aber das ist kein einfacher und auch kein schneller Weg. Und er ist schmerzhaft. Aus dem Publikum erklärt die Journalistin Griselda Triana, die nach der Ermordung ihres Mannes, des Reporters Javier Valdez, ihr Zuhause im Bundesstaat Sinaloa verlassen musste: »Es freut mich sehr, dass die Journalist*innen beginnen, über die Angst und den Terror zu sprechen, den die Arbeit in den von Gewalt geprägten Regionen und Kontexten mit sich bringt. Das anzuerkennen ist ein großer Schritt, um »gesund zu werden«. Ich bin davon überzeugt, dass das Weggehen die beste Option ist, um sein Leben zu retten. Dass Sie die Möglichkeit hatten, das zu tun, hat einen unschätzbaren Wert. Manche haben sich entschieden, das nicht zu machen, so wie Javier (…). Es vermittelt Hoffnung, dass Sie hier sprechen und neue Lebensprojekte planen können.«

Angst und Bewältigung



Angst. Vertreibung. Kritischer Journalismus. »Das sind die Schlüsselwörter, die uns auf diesem Podium zusammenkommen lassen,« sagt Arrellano mit Blick auf den Titel des Berichts. Das »Herz« der Analyse finde sich in dem Teil, der ausgehend von den Erlebnissen der interviewten Journalist*innen deren Veränderungsprozess beschreibt: von der Nostalgie über die Entwurzelung zum Wiederaufbau.

»Die Gewalt, die Angst, die Auswirkungen und ihre Bewältigungen stellen sich in verschiedenen Körpern und Leben unterschiedlich dar«, heißt es in dem Bericht. Arrellano erklärt das so: »Ob es sich um eine Frau handelt, ob man behindert ist oder sich in einer Risikosituation befindet, (…), das alles spielt eine Rolle dabei, wie Journalist*innen mit den Gefahren umgehen und die Angst und die Bedrohungen bewältigen. Jede*r einzelne ist auch das Ergebnis der Zuneigung, Affekte, Sorgsamkeit, aber auch der eigenen persönlichen und politischen Netzwerke.«

Arrellano sagt, dass die Journalist*innen in der ersten Phase der Interviews vor drei Jahren erklärt hätten, die Angst habe sie gerettet. Doch im Laufe der Untersuchung hätten sie weitere Faktoren entdeckt: die Netzwerke, die Familie, ihre eigene Stärke und ihre Fähigkeit, die Vertreibung zu bewältigen. Die Angst geht weiter, sie wird immer da sein. Aber die Betroffenen haben sich verändert.

Permanente Aushandlungsprozesse



Die Journalist*innen befinden sich in einem permanenten Aushandlungsprozess, um arbeiten zu können, so Arrellano. Sie sieht darin eine Art »Schlachtfeld«, auf dem sie lernen müssen, mit ihrer Familie, ihrem Privatleben − »Wo liegt die Grenze zwischen Privatem und Professionellem?« − , mit ihren Kolleg*innen und den Medien, für die sie arbeiten, zu verhandeln. »Sie versuchen, ein perfektes Kalkül zu finden: Was kann ich wann und über wen schreiben, was nicht mehr«, erklärt Arrellano.

Das hebt auch der Bericht hervor: »Die Aussagen bestätigen eine konstante Suche zwischen den Bemühungen um soziale Gerechtigkeit, Berufsausübung und Überleben.« Der spanische Anwalt Jesús Peña, stellvertretender Repräsentant des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte in Mexiko, blickt auf die staatliche Politik und bezeichnet das Kapitel über die Aushandlungsprozesse als »Schlüsselthema in den Risikoanalysen«.

Die Liebe und das Leben



In allen in dem Bericht bearbeiteten Fällen war das Weggehen nicht die erste, sondern die letzte Option. »Zu Gehen ist immer mit dem Gefühl der Schuld, der Erniedrigung und dem »ich muss das tun« verbunden. Aber in Wirklichkeit ist es ein Kampf für das Weiterleben, die Familie und Lebensprojekte sowie dafür, sich das Wort zu erhalten«, erklärt Arrellano.

Das bestätigt auch Patricia Mayorga, die für mehrere Jahre ins Exil gehen musste, nachdem ihre Kollegin Miroslava Breach im nördlichen Bundesstaat Chihuahua ermordet wurde. »Viele von uns sind mit großen Schmerzen gegangen, weil wir nahe Freundinnen und Freunde verloren und weil man uns zwang, zu gehen, um zu leben. Wir erkennen nicht sofort die Angst, weil wir weiterkämpfen wollen«, sagt die Reporterin. »Es ist die große Liebe am Leben, die wir zulassen müssen.«

Die Gefühle politisieren



Der Journalist Julio César Caballero kommt aus der Kleinstadt Chilapa im Bundesstaat Guerrero und hat ebenfalls an dem Bericht von Aluna mitgearbeitet. In seinen Aussagen versteckt er die niederschmetternden Erlebnisse, von denen wir während der Vorstellung des Berichts hören, hinter schwarzem Humor: »Ich habe über alles geschrieben, aber niemals hat jemand über mich geschrieben«, erzählt er mit Bezug auf ein Interview, das die Tageszeitung El Sur mit ihm geführt hat.

»Ich habe etwas über mich durch die Augen des Interviewers gelesen und es hat mich sehr traurig gemacht. Ich hatte vorher nicht gemerkt, wie am Arsch ich bin«, sagt er. »Ich bin ein Mensch, der voll des Todes ist: ermordete Freunde; Orte, an die ich nicht mehr gehen kann; eine Familie, die ich nicht mehr umarmen kann; eine Arbeit, die ich nicht mehr ausüben kann. (…) Ich möchte mich mit anderen Augen sehen, weil ich leben will.«

Die Politisierung der Zuneigungen und Gefühle ist einer der wichtigsten Beiträge des Berichts. Darüber reflektiert María Teresa Juárez, Radiojournalistin und Mitglied des Beirats des Netzwerks Periodistas de a Pie. »Wenn wir etwas kennen, das die Angst bewegt, sind es die Neigungen und Gefühle. In dem wir sie benennen und politisieren, stellen wir sie in die richtige Kategorie«, sagt Juárez.

Dem Journalismus eine neue Bedeutung geben



Sie spricht zugleich einen Punkt an, der besonders wichtig für die Stärkung des mexikanischen Journalismus war: Die Bemühungen, dem Metier eine neue Bedeutung zu geben, und die Dezentralisierung des Blicks auf die Medien. »Es gibt einen deutlichen Unterschied zwischen dem Journalismus der Elite, der nicht mit diesen Risiken konfrontiert ist, und dem lokalen Journalismus«, erklärt Juárez.

Nicht alle Kolleg*innen befänden sich in den Zirkeln der Macht. Im Gegenteil: Heutzutage berichten viele aus der Sierra, aus einem sehr feindseligen Umfeld mit einem hohen Grad an Gewalt. »Sie erhalten dafür sehr große Anerkennung und arbeiten nicht im Einklang mit Regierungen oder Unternehmen«, sagt die Radiojournalistin und setzt damit ihre unabhängigen Kolleg*innen in den Gegensatz zu den Medien und Journalist*innen in Mexiko, die von Regierungen oder Firmen finanziert werden und in deren Interesse berichten.

Der Wiederaufbau



Am Ende gibt es eine Art Wiederaufbau des Lebens. Niemand bleibt derselbe. Und die persönlichen Netzwerke (Familien, Partner*innen, Freundschaften, Kollektive) bekommen eine fundamentale Bedeutung. »Mir haben sie das Leben gerettet«, sagt Yaneli Fuentes, Reporterin aus der Region Costa Chica im Bundesstaat Guerrero. Sie bringt ein weiteres Thema auf den Tisch, über das kaum gesprochen wird: die Notwendigkeit, einen Plan für die Rückkehr zu haben.

Auch Clemencia Correa, Direktorin von Aluna und Koordinatorin des Berichts, lässt diesen Punkt nicht links liegen. Zugleich hebt sie die Bedeutung der Veränderung hervor. »Auch wenn ihnen (den vertriebenen Journalist*innen) der Terror sehr zusetzt, haben sie ihrem Leben einen neuen Sinn geben können und konfrontieren sich damit in den verschiedensten Formen«, erklärt Correa. Man dürfe die Bedeutung der journalistischen Netzwerke nicht klein reden. Und ebensowenig die Möglichkeiten, zu erzählen: »Diese Kämpfe von Journalist*innen aufzuzeigen, ist eine weitere Art und Weise, den hegemonialen Diskurs zu brechen.«

Journalismus ist ein menschlicher Akt



Der folgende Satz steht im Epilog des Berichts und fällt ins Bewusstsein wie eine schwere Steinplatte: »Es ist ein schlechtes Omen, wenn der Journalist selbst die Meldung ist, weil dort selten von den Freuden des Journalisten geschrieben wird«, hebt der Text hervor. Im Gegenteil: Mit einer entmutigenden Schlagkraft gehe es dann mit großer Wahrscheinlichkeit darum, dass jemand versucht, den Medienschaffenden zum Schweigen zu bringen.

»Journalistisch zu informieren ist ein tiefgreifend menschlicher Akt«, resümiert der Epilog, der von Víctor Correa verfasst wurde. »Es bedeutet, die verfügbare Information zusammenzutragen, diese wie wie ein Puzzle zusammenzufügen, obwohl man weiß, dass Teilchen fehlen, und sie dann in Wörter und Bilder umzusetzen, die einen Menschen berühren, der außerhalb steht.«

Nein, nicht alle sind Loret



An diesem Montag scheint das gelungen zu sein. Zumindest bei dem Schauspieler Tenoch Huerta, der zu der Präsentation des Berichts in Mexiko-Stadt gekommen ist, um seinen Eindruck aus den Augen eines Lesers mitzuteilen. »Als ich die Aussagen las, konnte ich die Isolation sehen, die das Schweigen hervorruft. In jedem Schweigen war etwas zerbrochen. Etwas ist zurückgeblieben, so wie ein Spielzeug, das man bei einem Umzug vergessen hat und nie mehr wiedersehen wird. Es waren Stücke des Lebens, Stücke der Familie, Stücke der Kindheit, die einem das Herz brechen, da du nicht gehst, weil du es willst.« Stücke des Körpers, sagte der Schauspieler, »die viele Journalist*innen in ihren Pressemeldungen zurücklassen, die morgen bereits Geschichte sind, die dann schon nicht mehr die Relevanz haben wie noch im Morgengrauen, und die der Wind mitnimmt.«

Huertas Worte hinterlassen bei den Zuhörer*innen eine tiefen Eindruck, da sie die Zeugnisse der Journalist*innen spiegeln. Die Tränen sind unvermeidlich. Ebenso wie die Hoffnung, die der Schauspieler vermittelt. »Mit diesem Buch konnte ich den Journalisten Gesichter geben. Ich bin ein Konsument von Meldungen und mich interessiert immer, um wen es geht, wer beschrieben oder kritisiert wird, aber nur sehr selten sehen wir Bürger*innen, wer hinter dem Text steckt«, so Huerta. »Und plötzlich sah ich ganz normale Menschen, zerbrechlich, verletzlich, erschrocken, gebrochen, mit Schmerzen und prekarisiert. (…) Du siehst sie und denkst: Nein, Alter, nicht alle sind Loret«, sagte er mit Blick auf Carlos Loret de Mola, der zu den bestverdienenden und unternehmerfreundlichen Journalisten des Landes zählt.

Hier gehts zum Download des Berichts "Die Angst geht dort weiter" (auf Spanisch).

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