Marcos: "Wir bleiben in Atenco bis alle Gefangenen frei sind!"

La Jornada vom 05.05.2006
H. Bellinghausen und G. Castillo
übersetzt von: Dana

 

San Salvador Atenco, Bundesstaat Mexiko, 5. Mai. Subcomandante Marcos kehrte heute nach San Salvador Atenco zurück, und auch wenn der dortige Empfang nicht so gewaltig ausfiel wie am 26. April, war die Zahl der Menschen, die er mit sich brachte, fast so groß wie jene derer, die ihn bei dieser Gelegenheit erwartet hatten. Die Botschaft der Demonstranten lautete "Ihr seid nicht allein". Er gab bekannt, dass er in Mexiko Stadt bleiben und an den Aktionen teilnehmen wird, bis alle Gefangenen befreit worden sind.

"Gestern und heute waren wir Zeugen einer wahren Lügen- und Lynchcampagne gegen die Frente de Pueblos en Defensa de la Tierra (Volksfront zur Verteidigung des Landes) und der Bevölkerung von San Salvador Atenco. Mit manipulierten Bilder, Fotos und Worten stellen sich die Massenmedien in den Dienst der Lüge. Ein Pressesprecher sagte, er glaube nicht an Zufälle. Er glaubt genauso wenig an die Wahrheit. Natürlich ist es offensichtlich, dass jene, die für diese Lügenkampagne der Massenmedien zahlen, das Geld haben, und wir nicht. Die von Oben, die diese Kampagne finanzieren, stehen nicht auf der Strasse, sie arbeiten nicht in den Fabriken und auf den Feldern, sie leben nicht in den Bergen; wir sind es, jene von unten, die das alles tun. Die Massenmedien führen eine Verleumdungskampagne gegen gute und edle Menschen aus.

"Die Compañeros der FPDT sind Anhänger der Anderen Kampagne, und halten sich an das Versprechen, dass wir uns gegenseitig helfen müssen. Die Compañeros von Texcoco baten sie um Hilfe, weil sie vertrieben werden sollten. Diese Compañeros und Compañeras ersuchten um ein Dialog mit den Bezirkspräsidenten von Texcoco, der zur PRD gehört, und dieses Recht wurde ihnen verweigert, man drohte ihnen mit Vertreibung. Ignacio del Valle, machte sich mit einer Gruppe Männer und Frauen auf, um ihnen durch ihre Anwesenheit beizustehen, so wie das oft getan wird, in allen kleinen und großen Kämpfen von Unten. Wie sollen wir dieser Diskreditierungskampagne gegen diese Menschen glauben, die wir gut kennen, und die sie als Kriminelle hinstellen wollen, wenn wir sie in den schwierigsten Augenblicken an unserer Seite gesehen haben, und die uns stets ihre Kraft und ihre Unterstützung gegeben haben ohne irgendetwas im Gegenzug zu fordern."

An die versammelten Reporter und Kameraleute gewandt, die im Augenblick aufnahmen, fragte Marcos "Welches Pressemedium kann stolz darauf sein, Peña Nieto Stimme zu verleihen, ein Idiot und nun auch ein Mörder?" Die Massenmedien "leiten eine Schmierenkampagne, und Sie führen sie aus; das einzige, das Sie erreichen, ist der wachsende Hass und Unmut, der Ihnen entgegenschlägt. Es werden nicht ihre Bosse sein, die von den Beleidigungen und der Empörung getroffen werden, sondern Sie, die Kameraleute, Reporter, Fotografen, weil Sie die Firmen repräsentieren, die diese Falschdarstellung verkaufen - hier unten glaubt keiner denen von Oben.

"Wieso meinen die Fernsehsender, die Radiostationen, die Zeitungen, dass wir ihnen glauben würden, wenn sie die Lüge nur oft genug wiederholen, wenn sie früher schon über alles gelogen haben, was unten vorgeht? Das einzige was sie erreichen, ist dass der Unmut wächst, und was gestern hier passiert ist, ist ein kleines Beispiel davon. Und es werden mehr folgen. Auf den ersten Bildern von den Festnahmen konnte man eindeutig sehen, wie die Polizei Gefangene verprügelte, die bereits bewegungsunfähig waren; am Abend war bereits alles umeditiert; die prügelnden Polizisten waren nirgends mehr zu sehen. Wo sind diese Bilder abgeblieben? Wo sind die Verschwundenen abgeblieben? Wir vermissen zwei Compañeros. Einer ist der Sohn von Ignacio del Valle, sein Name ist César, und der andere ist Ulises Ríos. Sie sollen sie zeigen. Die Angehörige der Festgenommenen haben uns gewarnt, dass die Frauen vergewaltigt werden. Wo ist hier denn ihr Rechtsstaat? Was hat die Polizei hier in San Salvador Atenco zu suchen, wenn es ein lokales Problem in Texcoco gewesen ist? Sie tun das, was wir schon letztes Mal gesagt haben, als wir hier ankamen, sie wollen dieses Land zurück, und sie wollen den Flughafen. Dafür haben sich die PRD, die PAN und die PRI eingebracht, und jetzt wollen sie ihre Debatten und Wahlkampagnen darum aufbauen, und um das Privileg wetteifern, wer vor dieser Ungerechtigkeit den Kopf in den Sand steckt, und wer ihr applaudiert und sich damit brüstet, ein hartes Eingreifen zu fordern."

Mit energischer Stimme fuhr er fort: "Hier unten glauben wir nichts davon, und das nicht nur, weil wir diese Menschen kennen, sondern auch, weil wir das Vorgehen der Medien kennen. Wir bitten Sie, sich das hier anzusehen". In diesem Augenblick zeigte er fünf Gewehrkartuschen. "Das hier wird von der ’unbewaffneten’ Polizei verschossen. Man hat uns fünf dieser Kartuschen überreicht. Hier ist der Beweis dafür, wie unbewaffnet die Polizei gekommen ist; der Beweis dafür, was diesen jungen Compañero getötet hat; der Beweis dafür, dass es nicht darum ging, die Ordnung aufrechtzuerhalten, sondern Zerstörung und Tod zu verursachen. Das hier lässt die Polizei des Bundesstaates México zurück." Dann bot er eine der Patronen der Televisa an.

"Das ist die Wahrheit, die Unfähigkeit der PRD im Rathaus von Texcoco, vereint mit der von Peña Nieto und Vicente Fox. Aus drei Idioten wird ein Verbrecher, und der ist dann nach Atenco gekommen". Im Gegenzug, so fuhr er fort, "sind wir gekommen, Compañeros der Anderen Kampagne, denn Sie gehören zu uns, Ihre Gefangenen sind auch die unseren, und darüber hinaus, wurden auch Compañeros und Compañeras von anderen Organisationen verhaftet, die zu uns gehören. Wir kommen um Ihnen zu sagen, dass Sie nicht allein sind, dass wir im ganzen Land weiterhin Mobilisierungen durchführen werden, bis alle Gefangenen freigelassen, und alle Verschwundenen wieder aufgetaucht sind, bis alle Haftbefehle wiederrufen worden sind, und Atenco den Frieden zurückerhält, der an diesem Morgen und an diesem Tag geraubt wurde, als die es von der Staatspolizei und der Bundespräventivpolizei angegriffen wurde."

Ironisch meinte er: "3000 Polizeikräfte gegen 50 Personen, die sich auf diesem Platz befinden. Was für Helden, was für ein Rechtsstaat, was für ein Dreck! Was für ein Privileg, was für eine Ehre für die Regierung, einen Jungen zu töten. Welche Ehre, Frauen zu schlagen und zu vergewaltigen, was für eine Ehre alte Menschen zu verhaften und zu verprügeln! Was für eine Ehre hat dieser Rechtsstaat? Wo war der Rechtsstaat zu der Stunde, als der Gouverneur (von Puebla, Mario) Marin ihn sich mit zwei Cognacflaschen erkaufte, zu der Stunde als Señora Sahagun ein Stück des Landes für ihre Söhne kaufte, zu der Stunde als diese Räuberbande, die oben ist, beim stehlen gefilmt und auf Video gezeigt werden?

Er warnte: "Wir werden weiterhin demonstrieren, weiterhin die Leute aufrufen ihnen nicht zu glauben. Gestern haben wir daran gearbeitet, damit in unsere Organisation, die EZLN, alles geregelt ist, falls hier irgendetwas passiert. Ich möchte sie davon in Kenntnis setzen, dass wir auf unbestimmte Zeit hier in D.F. bleiben werden, um an den Aktionen teilzunehmen.

"Mitarbeiter der Presse und Massenmedien: seit Beginn der Anderen Kampagne haben wir uns entschieden, es den Oberen zu überlassen, sich um den ersten Preis für Mittelmäßigkeit schlagen. Wir haben niemandem Interviews gewährt, sondern den alternativen Medien den Vorzug gegeben. Ab sofort werden wir dazu übergehen, allen Kommunikationsmedien Interviews zu geben, die garantieren, unser Wort ohne Kürzungen und Schnitte zu präsentieren. Um ein erstes Interview zu erhalten, müssen sie eine dieser Patronen veröffentlichen.

Minuten vorher, entrichtete die junge América del Valle, die von der Staats- und Bundespolizei gesucht wird, eine telefonische Botschaft, die auf dem Platz von Atenco wie aus den Tiefen einer Flasche klang: "Unsere Würde ist stärker als die Polizeihunde, die Schläge und das Gefängnis, und wir sagen ihnen: wir stehen hier weiterhin aufrecht. Sie haben uns nicht geschlagen, trotz ihrer Vergeltung! Wenn das organisierte Volk gestern ihr Megaprojekt verhindert hat, wird sich heute zeigen, dass es in Mexiko nicht nur ein Atenco gibt, sondern viele. Und wir sind alle empört und wütend, aber vor allem entschlossen, uns weiterhin gegen dieses repressive politische System zu organisieren. Heute mehr den je, haben wir Grund zu kämpfen, gegen die Mörder von Javier Cortés Santiago, gegen die Vergewaltiger und die Gefängniswärter dieses Landes, und gegen alle Lügner und Heuchler, die dieser Repression Beifall spenden ".

Die Strecke, die Subcomandante Marcos aus der Calle Zapotecos im Obreras Viertel der Hauptstadt, bis zur Universität von Chapingo zurücklegte, war eine Zurschaustellung polizeilicher Mobilmachung, und infolgedessen die angespannteste und gefährlichste Reise, die bisher im Rahmen der Anderen Kampagne geführt wurde. Gefolgt von mindestens 20 Fahrzeugen der jeweiligen Körperschaften, setzte er den Weg durch verschiedene Routen der Hauptstadt fort, und bog dann auf die Strasse Los Reyes - Texcoco. Gegen 16:00 Uhr durchbrach Delegado Zero den Polizeigürtel und erreichte das Haus, in dem er die letzten zwei Nächte verbrachte. Offiziellen Quellen zufolge, waren an dem polizeilichen und militärischen Aufmarsch 120 Kräfte der PFP, PGR, SEDENA, CISEN und Regierung beteiligt, ohne die Gerichtspolizei von D.F. und dem Bundesstaat México zu zählen.

In Chapingo wurde er von ca. 1500 Personen erwartet. Innerhalb einer Stunde, setzte Delegado Zero den Marsch Richtung Texcoco in Bewegung. Es war gegen 18:00 Uhr. Um diese Zeit war die Zahl der Demonstranten bereits auf 2000 Personen angewachsen. Bei der Durchquerung der Stadt Texcoco hatten sich ca. 4000 Menschen dem Zug angeschlossen. Mehrere Gruppen warteten bereits. Die Hauptslogans lauteten "Atenco, escucha, el pueblo está en tu lucha" (Höre Atenco, das Volk ist in Deinem Kampf) und "Todos somos Atenco" (Wir alle sind Atenco).

Die Demonstranten riefen Sprüche gegen die Banken, die PRD-Regierung von Texcoco, die politischen Kandidaten, die von ihren Wahlplakaten heruntergrinsten und insbesondere gegen den Gouverneur vom México, Enrique Peña Nieto. Der Aufruf "Freiheit für die politischen Gefangenen" erhielt neue Resonanz. Viele Menschen, schlossen sich dem Zug an. "Wir wollen, dass alle freigelassen werden", riefen einige Frauen am Rand der Strasse Texcoco-Lecheria und baten die Kameraleute: "Zeigen Sie alles, nicht nur das, was denen von Oben gefällt".

 

Quelle: https://www.jornada.com.mx/


 

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