Interview mit Subcomandante Marcos, Teil III

"Die herrschende Klasse und das System haben keine Lösung"

La Jornada vom 11.05.2006
Hermann Bellinghausen
übersetzt von: Dana

 

Im letzten Teil dieses Interviews, analysiert Subcomandante Marcos die Linke aus der Sicht der Anderen Kampagne, und versichert, dass die herrschende Klasse und das politische System "keine Lösung haben." Er blickt zurück auf die Umstände innerhalb derer sich der Vorschlag dieser alternativen Bewegung zum ersten Mal entwickelte, und schätzt die gegenwärtige Lage der indigenen Bewegung ein. Zuletzt spricht über die Mobilisierungen für Migrantenrechte in den Vereinigten Staaten und den Linksruck in Südamerika, ganz besonders in Bolivien.

Bellinghausen: Was passierte nach der neuen Phase des zivilen Zapatismus in Chiapas?

Marcos: Die politisch-militärische Struktur trat in eine Schweigeperiode, was nicht bedeutet, dass wir eine militärische Offensive vorbereiteten, sondern etwas völlig anderes, das weder Verhandlung noch Aufstand war. Wir führten eine theoretische und praktische Analyse durch. Der theoretische Teil bezog sich darauf, dass im derzeitigen Kontext des Neoliberalismus, Nationalstaaten zerstört werden. Während sie Grenzen einreißen, damit Waren passieren könne, errichten sie neue Grenzen, um die Menschen davon abzuhalten. Das ist das Paradox, auf der ganzen Welt, dass das Kapital gleichzeitig überall ist. Tipp ein paar Tasten, und dein Geld ist da wo du es haben willst; ein paar Handbewegungen, und ein leeres Warenhaus wird zur Maquiladora, verschwindet dann und taucht wieder in irgendeine andere Ecke der Welt auf.

Aber nicht die Menschen. Sie bleiben völlig abgeschottet, und auf eine viel grausamere Art als vorher. Wenn ein Nationalstaat zerstört wird, wird die herrschende Klasse, die dies ermöglicht hat, ebenfalls vernichtet. In diesem Vernichtungsprozess fing Carlos Salinas de Gortari an zu töten und zu korrumpieren. Ich erwähne das, weil sich niemand da oben an die vielen Menschen zu erinnern scheint, die in der PRD gestorben sind, die, wie wir sagten, weniger der PRD angehörten, als dem echten sozialen Kampf um eine bessere Lebensqualität. Wer seine eigenen Tote vergisst, ist selber tot.

Also sagten wir, na gut, die herrschende Klasse hat keine Lösung. Die Compañeros vom Nationalen Indigenen Kongress haben die neuen Gesetze denunziert, die vom Kongress bewilligt wurden. Sie wurden einstimmig bewilligt, da oben gibt es keine Rechte oder Linke. Und diese Gesetze erteilen den transnationalen Konzerne die gesetzliche Vorlage, um herzukommen und von den Indigenas Land zu stehlen und sich da einzunisten, wo sie nichts zu suchen haben, weil sie die Umwelt zerstören. Das haben wir nicht aus Büchern gelernt. Die Leute selbst haben uns davon erzählt. Wenn sie jetzt von der Gewalt an einigen Orten erschreckt sind, das was hinterher kommen wird ist noch viel schlimmer. Man stelle sich vor, was passieren würde, wenn im gesamten "Elendsgürtel" rund um Mexiko-Stadt die Menschen die Nase voll hätten und wie in den Filmen auf die Stadt niedersteigen, um in Straßen und Häuser einzudringen. Aber wie es sich herausstellt, wird es nicht so sein, der Wachstum des Kapitals in der S tadt wird auch diese marginalisierten Gegenden verdrängen und sie immer weiter weg drücken.

Bellinghausen: Es heißt, die Andere Kampagne würde die Schiffbrüchigen auflesen, die "Neandertaler-Linke" und dass die "zivilisierte und demokratische" Linke mit der Anderen Kampagne nichts am Hut hätte. Ist es nicht exklusiv zu sagen, dass die Andere Kampagne die einzige landesweite linke Bewegung ist?

Marcos: Die Linke ist sehr grundsätzlich definiert. Eine Definition bezieht sich auf das wirtschaftliche System. Dann gibt es die kulturelle Linke, gegen Chauvinismus, Frauenfeindlichkeit, Homophobie. Die politische Linke muss im Zusammenhang mit dem wirtschaftlichen System definiert werden, und sie muss anti-kapitalistisch sein. Sie muss sich grundsätzlich durch die Responsabilisierung eines Systems definieren, nicht einer Administration. Die Andere Kampagne betrachtet sich als Teil der anti-kapitalistischen Linke, weiter geht sie nicht. Deshalb spricht die Andere Kampagne auch von Rebellion, nicht von einer Revolution.

Sie ist eine Schule, nicht nur für die Menschen selbst, sondern auch für die linke Politik. Die Linke, die aus der Anderen Kampagne hervorgehen wird, wird viele überraschen, ganz besonders jene, die sagen, es seien nur "die gleichen Leute wie früher". Es sind vielleicht die "gleichen Leute wie früher," aber ihr gemeinsames Charaktermerkmal ist, dass sie sich nicht verkauft oder aufgegeben haben. Sicher, sie sind nicht vollkommen, aber es sind ehrliche Menschen. Und diese Ehrlichkeit hat es ihnen ermöglicht, sich nicht zu verkaufen oder aufzugeben, und jetzt hilft sie ihnen dabei, von anderen zu lernen."

Bellinghausen: Welche Rolle spielt darin die Indigene Bewegung. In welcher Lage befindet sie sich?

Marcos: Mit der Indigenen Bewegung sind wir da einer Meinung, ganz besonders mit dem (Nationalen Indigenen Kongress) CNI in der zentral-pazifischen Region. Auch ohne die Sechste Erklärung aus dem Lakandonischen Urwald zu kennen, kamen sie zu den selben Schlüssen. Der aktive Kern des CNI konnte sehen, dass die "herrschende Klasse keine Lösung hat, und dass wir hier ein Problem mit dem wirtschaftlichen System und dem Parteiensystem haben". Also sagten sie uns, "Wir stimmen zu, dass wir im Grunde über die gleiche Sache, auf unsere eigene Art reden."

Jetzt geht es uns darum zu versuchen, mit ihnen gemeinsam den CNI wieder aufzubauen. Wir machen uns Sorgen darüber, dass die Andere Kampagne, wenn sie da ankommt wo sie soll, die Indigenas wieder vergessen könnte, dass es wieder nur um Wohnungen und Arbeiter und Campesinos geht und für den Staat ... die Indigenas wieder nicht existieren. Sie sind vielleicht Arbeiter und Campesinos und arm, aber sie haben nicht die gleiche Identität. Deshalb haben wir darauf bestanden, dass es innerhalb der Anderen Kampagne, den indigenen Sektor oder den Raum der indigenen Völker geben muss, und zuerst ein Bildungsprozess betreiben muss, um Verständnis für sich zu schaffen. Wir dachten, das würde viel Arbeit erfordern, aber es geschieht bereits. Die indigene Bewegung wird in dieser Schule zum wichtigsten Lehrer werden. Die klarsten und tiefsten Lehren sind bisher immer von den indigenen Völker gekommen.

Bellinghausen: Wird es mit dieser großen Fragmentierung, diesen vielen Unterschieden und verschiedenen Haltungen der Anderen Kampagne möglich sein, all diese Positionen zu vereinen?

Marcos: Wir sind gerade dabei uns gegenseitig kennenzulernen. Wenn sie einem von uns schaden, schaden sie uns allen. Ohne die Andere Kampagne würde die Geschichte von Atenco anders aussehen. Sie wäre auf die Organisationen beschränkt, die dorthin bereits Verbindungen hatten, aber jetzt ist es eine nationale und internationale Kampagne. Es platziert sie in eine Bewegung, weil die Parole lautet: schade einem von uns und sie schaden uns allen. Wir müssen aufeinander aufpassen. Das ist der Unterschied.

Entwicklung und Fortschritt haben ein Oben und ein Unten. Und was wir gesehen haben, ist dass die Entwicklung und der Fortschritt von Oben, in Wirklichkeit Unterentwicklung und Rückschritt für Unten bedeutet. So wie die Reform von Artikel 27, mit ihren Propheten, die jetzt am Verschwinden sind, die schworen, sie würden die mexikanische Landwirtschaft retten, weil die Privatisierung des Landes den Fortschritt fordern würde. Dabei wollten die Campesinos nur ein eigenes Stück Land haben. Von hier geht die ganze Zerstörung des ländlichen Mexikos aus. Von der Entwicklung der Agrarindustrie, von den Großgrundbesitzern, von den Enteignungen. Diese Entwicklung und dieser Fortschritt hat mehr Menschen gezwungen, Arbeit jenseits der Grenze zu suchen, den Drogenhandel und Anbau beflügelt, und die Vernichtung ganzer Gemeinden vorangetrieben.

Wir sind alle in die Ecke getrieben, zum Schweigen gebracht, vergessen. Sie sehen uns nicht. Sie nehmen uns nicht wahr. Wir sind in der Defensive. Wir befinden uns hier und sehen, dass wir stärker sind als gedacht. Es spielt keine Rolle, ob wir in den Geschichtsbüchern auftauchen; was uns interessiert, ist unser Platz als Indigenas, und ich spreche nicht nur von den Zapatisten. Bei den Diskussionen Tuxpan (Jalisco), und dann in der Nahua Region von Manantlan, konnten wir sehen, wie das System die Umwelt vernichtet. Es war grauenhaft. Und wir konnten die gleiche Überzeugung hören, dass wir etwas tun müssten. Die gleiche Überzeugung, die wir von unseren Compañeros Huichol gehört haben. Dieses Gefühl lässt sich nicht anhand von Hochrechnungen ermessen, oder anhand der Sympathie oder deren Mangel, von jemanden, der von der anderen Seite zusieht. Wir denken, die Richtige Wahl damit getroffen zu haben, nach unten zu blicken, und dass ja, vielleicht sagen sie, es sei nicht der richt ige oder günstigste Moment dafür gewesen. Aber die Lage war wirklich verzweifelt.

Es gibt zwei Optionen. Wir bevorzugen die zivile und friedliche Option. Sie bezieht stärker ein, sie ist reicher, bringt weniger Zerstörung, weniger Tote, und das trotz der ganzen Probleme und Repression, weil wir nicht sagen, dass es ein Zuckerschlecken sein wird. Aber es wird leichter sein als mit einem Krieg, und wenn wir die Andere Kampagne nicht aufbauen, könnte es stattdessen durchaus zum Bürgerkrieg kommen. Die Andere Kampagne ist die einzige Alternative für das Überleben dieses Landes. Wie das geschehen wird und mit welchem System und all das, das ist etwas, das wir alle gemeinsam aufbauen müssen.

Der Augenblick wird kommen, wenn diese Bewegung ihre Stärke einschätzen wird. Der Augenblick, in dem eine Bewegung einschätzt, was sie tun kann und wann, das Datum, die Stunde und den Ort entscheidet, um die Regierung zu kippen und die Reichen hinauszuschmeißen. Wenn die Menschen anfangen einem zu sagen, "bis zum Tod, wenn es sein muss" , oder vielleicht sagen sie es nicht laut, aber man kann sehen, dass es so weit gekommen ist; wenn man sagt, diese Menschen haben keine andere Option mehr, dann wird es passieren. Der Fehler ist, das nicht sichtbar zu machen. Die Andere Kampagne ist gegen diese zwei Optionen: völlige Zerstörung oder Zusammenbruch durch Fragmentierung und Uneinigkeit.

Bellinghausen: So, als ob sich das Land den Rücken gebrochen hätte?

Marcos: Wie der Balkan, Libanon. Länder, die ihre Identität verlieren, wo man von ein Bandengebiet in ein anderes gerät, wenn man die Straße überquert. Genauso wird Beirut beschrieben: so viele Gruppen, ohne Richtung, ohne irgendwas. Wie die ganze herrschende Klasse, die PAN, die PRI und die PRD, und all die kleinen Politiker, sie haben ihre Legitimität und Fähigkeit zum Dialog bereits verloren. Es ist nicht die Frage, mit wem sie ein Dialog führen, sondern, dass sie überhaupt nichts haben, worüber man ein Dialog führen könnte. Im Fall Atenco, können sie lediglich die Gefangenen frei lassen und das Warnlicht, das ’Foco Rojo’ (rote Feuer) deaktivieren, wie sie es nennen, und die Andere Kampagne weiterziehen lassen. Wenn nicht, werden sie die Krise nur verschärfen. Sie denken, dass sie von selbst abflauen wird, aber das wird nicht passieren. Sie ist gewachsen, und alle wissen es.

Bellinghausen: Weshalb sind viele Intellektuelle, die früher sympathisiert haben, jetzt auf Distanz gegangen? Sind sie weniger interessiert oder wirklich verärgert?

Marcos: Weil wir einen anderen Weg gewählt haben. Das haben wir uns ganz am Anfang überlegt. Wenn die Sympathie einer Gruppe von Intellektuellen, Teil der Deckung war, die uns vor einem militärischen Angriff schützte, dann würden diese Intellektuellen, oder ein großer Teil von ihnen, in dem Augenblick wenn sie mit den Oberen sympathisieren, und wir gleichzeitig die Oberen ablehnen, ihre Verbindungen zu uns abbrechen. Wir wussten, dass dies passieren würde. Aber wir werden nicht vergessen, was sie für uns getan haben. Wir sind ihnen dankbar, auch wenn sie jetzt auf uns scheißen, weil wir uns erinnern.

Bellinghausen: Was verbindet die Migrantenbewegung in den Vereinigten Staaten mit der Anderen Kampagne?

Marcos: Wir erreichen die Migranten auf zwei Ebenen. Erstens, und am stärksten, von unten, das heißt, über die Familien. Überall wo die Andere Kampagne hinkommt, erzählen sie uns, dass es dort praktisch keine Familie gibt, die nicht jemanden verloren hätten, entweder weil sie gestorben sind, oder weil sie über die Grenze gegangen und nicht wieder zurückgekommen sind, und sie haben das Bedürfnis nicht nur ihre Familien, sondern auch ihre Gemeinden wiederaufzubauen. Sie erzählten uns, wie ihre Eltern, Männer und Frauen, Jugendliche auswandern mussten, weil unser Land ihnen keine würdige Arbeit geben kann. Und sie erzählen von den Opfern, die sie bringen müssen, um Geld hinüberzuschicken, ohne zu wissen, ob es überhaupt ankommt. Auf dieser Ebene, herrscht unten eine Lage der wirtschaftlichen Verzweiflung.

So weit zu "von unten". Aber wir haben uns auch das "oben" angesehen, als die Compañeros dort drüben uns erzählten, das ist das Problem und das hat uns dazu gebraucht, von hier aus unsere Stimme abzugeben, weit weg von unseren Familien. Und hier gibt es auch keine politische Option. Wir müssen uns an etwas anderem beteiligen, dass uns anerkennt, denn der Migrantensektor in den Vereinigten Staaten ist wie ein Jagdrevier, besonders jetzt, da man auch das Recht hat auch aus dem Ausland zu wählen. Und diese Gruppen haben es geschafft, mit dieser Stärke und Rebellion, etwas innerhalb des Imperiums zu errichten, und sie werden sich nicht so leicht von irgendwelchen Politikern zuhause einfangen lassen, egal wie links er zu sein behauptet. Im Augenblick, da sie sehen, dass die Andere Kampagne ein Raum ist, in dem sie sich ihre Autonomie, ihre Unabhängigkeit und Identität bewahren können, nun, dann schließen sie sich uns an.

Wir können sehen, dass die Auswanderung weiter zunehmen wird. Mit dem Zynismus von Fox, der sagt, die nationale Wirtschaft blühe, weil die Migranten regelmäßig Geld nach Hause schicken. Aber die Vereinigten Staaten werden die Grenze auf viele verschiedenen Weisen schließen. Sie werden Leute deportieren und die stille Einwilligung der mexikanischen Regierung erhalten, die Grenze dichtzumachen.

Das wird dann alles hier zum Dampfkessel. Wohin sollen die ganzen Menschen gehen, ohne Arbeit, ohne Land, ohne alles? Es entsteht ein sehr starker sozialer Druck, für den weder der Arbeitsmarkt, noch die Sozialpolitik, noch irgendwas eine Lösung bietet, weil sie nichts zu produzieren oder zu verkaufen haben. Die Leute erzählen uns manchmal, dass sie tonnenweise Mais haben, aber ihn nicht ernten können, weil die Preise so niedrig sind. Es wäre für sie teurer es abzuernten, als es stehen zu lassen, weil es sich nicht verkauft, weil es keine guten Preise gibt.

Wozu will man Mais anbauen oder irgendwas anderes, wenn es einem nichts bringt? Also wir alles vernichtet, und stattdessen importieren wir Nahrungsmittel. Wie in einem Krieg, in dem die Armee alles zerstört und die Ernte verloren geht, und die Menschen flüchten müssen. Und die Vertriebenen, von denen es in diesem Fall Millionen gibt, sind es, die die Wirtschaft aufrechterhalten, aber das geht nicht lange. In diesem Sinn, befasst sich die Andere Kampagne auf beiden Seiten der Grenze, mit dem was unten passiert, also da wo wir sein sollten, unter den Auswanderern und ihren Familien.

Das ist das Andere Mexiko, das wir vereinen werden. Diese ganze Mobilisierung findet außerhalb der politischen Parteien statt, weil es für sie weder die Demokraten noch die Republikaner gibt. Es gibt für sie keine Parteien, das ist ebenfalls Teil der Krise der politischen Klasse überall auf der Welt. Und damit diese Bewegungen dort überleben können, so wie sie sind, mit ihrer eigenen Latino-Identität, und nicht nur als Mexikaner, kommen sie ebenfalls an einem Punkt, an dem sie sagen, wir müssen irgendwas tun. Und keiner der Organisatoren, keiner derer, die zu dieser Bewegung aufgerufen haben, hat mit soviel Beteiligung gerechnet. Es geschehen Sachen, die nicht in den Handbüchern der politischen Kolumnisten stehen, die nichts mit dem Gleichgewicht der Kräfte zu tun haben. Das heißt, niemand passte auf, was unten geschieht, niemand hat bemerkt, dass da unten ein organisatorischer Prozess vor sich geht, der nicht davon abhängt was oben mit den politischen Parteien oder der herrs chenden Klasse passiert.

In dem Augenblick, in dem sie beginnen Aktionen auf vereinigter Front vorzuschlagen, werden sie sagen, das ist wie das, was am 1. Januar 1994 passiert ist, aber auf ziviler, friedlichen Weise. Aber in beiden Fällen, fließt das mexikanische Blut mit viel Würde.

Bellinghausen: Wir die Andere Kampagne gut empfangen werden, wenn sie sich der Grenze nähert?

Marcos: Es gibt bereits Aktionen von Compañeros der Anderen Kampagne von der Anderen Seite. Wir haben gesagt, dass wir ein anderes Land aufbauen müssen, damit unsere Leute nicht weggehen müssen, und jene, die bereits weg sind, die Option haben zurückzukommen. Was sie dort drüben aufgebaut haben, ist ein Teil von uns, als ob wir ein Teil von Mexiko nördlich vom Rio Grande exportiert hätten. In unsere eigenen Geschichte ist es Teil unseres Schmerzes, aber auch Teil der gleichen organisatorischen Erfahrung. Sie kommen zusammen als Zapoteken, Mixteken, Chiapaneken, weil es viele Bundesstaaten gibt, die Indigenas exportieren. Wir wollen ein anderes Mexiko, in dem alle Ursachen, die Menschen zwingen auszuwandern berücksichtigt werden; wo wir sagen können, dass es hier Platz gibt, dass die Menschen zurückkommen können, dass sie nicht weggehen müssen.

Bellinghausen: Welchem Szenario steht die Andere Kampagne heute in Lateinamerika gegenüber?

Marcos: Im Fall von Bolivien, wurde das so dargestellt, als ob wir die Bewegung verachtet und abgewiesen hätten, weil wir nicht zur Amtseinführung von Evo Morales erschienen sind. Wir sagten, dass im Gegensatz zu Mexiko und anderer Orte, es hier einer Volksbewegung tatsächlich gelungen ist, die Struktur aufzubrechen und sie mit ihrer eigenen zu ersetzen. Daher stellt sie das vor einer Menge Probleme, darüber welche Art von Beziehung zwischen der Regierung und der Bewegung existieren sollte und all das. Was sie dort tun sollten, ist nach unten zu blicken, zur Bewegung, die das alles möglich gemacht hat, und ihre Entscheidungen respektieren. Nicht die Entscheidungen auf Regierungsebene, auf institutioneller Ebene, sondern die Entscheidungen, die unten gemacht werden.

Bellinghausen: Was für ein Problem gibt es mit der Regierung in Bolivien?

Marcos: Sie blickt nach oben. Evo ist an der Macht, er ist Präsident, aber in diesem Sinn sollte die Regierung nach unten blicken.

Bellinghausen: Du siehst sie also nicht als eine Volksgewalt?

Marcos: Noch nicht. Sie könnte dazu werden. Wir hören noch darauf, was die Bewegung von unten sagt, die Indigene Volksbewegung, die das alles geleitet hat. Wir haben ihnen ganz klar gesagt: wir blicken nach oben, wenn die Menschen von unten uns sagen nach oben zu blicken. Wir fühlen uns der Bolivianischen Indigenen Bewegung sehr stark verbunden, aber sie achten selber noch darauf, wie sich alles entwickelt, und es wäre ein Fehler von uns gewesen, nicht nur seitens der Anderen Kampagne in Mexiko, sondern auf kontinentaler Ebene, nach oben zu blicken und nicht nach unten.

So wie die Zapatisten der kubanischen Bevölkerung Mais geschickt hat, nicht der Kubanischen Regierung. Ob die Regierung miteinbezogen wird, haben nur sie zu entscheiden, nicht wir. Und besonders in diesem Fall, ist eine klare linke Botschaft, weil es heutzutage in der demokratischen oder progressiven Linken, oder wie man sie sonst nennt, sehr angesagt ist, Kuba zu kritisieren, die Blockade zu vergessen und zwischen Castro und Kuba zu unterscheiden. Eine wirklich linke Position wäre es zu sagen, hier findet ein Machtmissbrauch gegen ein Volk statt und das wichtigste ist Solidarität. Das Volk kann seine eigenen Entscheidungen treffen. Die kubanische Bevölkerung hat Batista gestürzt - keiner hat ihnen zu sagen, was ein Diktator ist.

Bellinghausen: Glaubst Du, dass mit den jüngsten Regierungswechseln in Lateinamerika ein wirklicher Wandel stattfindet?

Marcos: Noch nicht. Es gibt zwei Beispiele. Da gibt es Lula in Brasil, den wir als die nordamerikanische Machtoption in Lateinamerika und der restlichen Welt ansehen, die sowohl die administrativen Staaten für die Rechte wiederherstellt, als auch mit der Linken redet. Das andere Beispiel ist Bolivien, mit der Implikation einer aufständischen Bewegung, die Evo Morales an die Macht brachte.

Bellinghausen: Argentinien? Uruguay?

Marcos: Da ist es sogar noch schwächer. Was passiert ist, dass überall Staaten zusammenbrechen, und dann gibt es nur zwei Optionen: die Rechte und die Linke. Aber so lange sie nur Verwalter sind, unterscheiden sie sich nur in der Rhetorik voneinander, und manchmal nicht einmal darin, wie es in Chile, Uruguay und in Mexiko der Fall ist. Der interessanteste Fall ist Bolivien, für was es bedeuten könnte. Und dann gibt es die ständige Reibereien zwischen Lula und der (Movimiento de los Sin Tierra) MST, wegen der ganzen Forderungen, die Lula nicht erfüllt hat, während er ein neoliberales Modell durchsetzt.

Bellinghausen: Hat die MST die Andere Kampagne angesprochen?

Marcos: Ja, und sie sind an dem Vorschlag eines neuen Wegs interessiert, eine Linke, die nicht nur in der Rhetorik besteht, sondern die sich gegen den Kapitalismus stellt. Aber Bolivien ist der Fall, dem wir die größte Aufmerksamkeit zuwenden, und wo wir nach unten blicken möchten. Wir wollen niemanden sagen, was sie tun sollen; wir möchten, dass sie es uns sagen, aber das muss von unten kommen. Wir möchten nicht hören, was Evo Morales über Bolivien zu sagen hat, sondern was die aufständischen Indigenas zu sagen haben, die Menschen, die in Brasilien, Argentinien, überall kämpfen . . . was die Menschen von unten zu sagen haben. Und genauso ist es mit Venezuela, es muss von unten kommen.

 

Quelle: https://www.jornada.com.mx/


 

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