»Soziale Probleme sollen mit Gewalt gelöst werden«

Ein Gespräch mit Inaki Garcia

junge welt vom 10.06.2006
Interview: Rainer Schultz

 

Menschenrechtskommission legt Bericht über massive Polizeiübergriffe im mexikanischen Atenco vor.

* Inaki Garcia ist Sprecher der Internationalen Zivilen Menschrechtskommission CCIODH und war vom 29. Mai bis 4. Juni 2006 in Mexiko. Die Kommission, gegründet 1997 als Reaktion auf Massaker in Chiapas, untersuchte dort die Vorfälle vom 3. und 4. Mai in dem Dorf Atenco, wo die Polizei eine Demonstration von Bauern angegriffen hatte

F: Die Internationale Zivile Menschrechtskommission, deren Sprecher Sie sind, ist in der vergangenen Woche aus Mexiko zurückgekehrt. Was war der Anlaß für die Reise?

Wir waren sehr besorgt, als wir von den Ereignissen Anfang Mai in dem mexikanischen Dorf San Salvador Atenco unweit der Hauptstadt hörten. Eine Demonstration der linken Bauernorganisation FPDT (Volksbündnis zur Verteidigung des Landes) gegen zunehmende Repression ist am 3. Mai von rund 3000 Polizisten brutal angegriffen worden, über 200 Demonstranten wurden festgenommen. Ein Jugendlicher wurde erschossen, eine Person liegt im Koma. Es gab 30 Schwerverletzte und ungezählte Vorwürfe wegen Vergewaltigungen. Über zwei Tage hinweg kam es zu Polizeiübergriffen auf die Gemeinde. Fünf Ausländerinnen, darunter zwei Frauen aus Barcelona, wurden anschließend ausgewiesen. Auch sie berichteten uns von Mißhandlungen, sexuellem Mißbrauch und der Situation der Gefangenen. Auslöser der Übergriffe waren Proteste von Blumenhändlern, die samt ihrer Verkaufsstände aus dem Dorf vertrieben werden sollten. An diesem Wochenende legen wir unseren 70seitigen Bericht vor.

F: Ihre Kommission hatte zunächst die Aufgabe, die Aussagen aller Beteiligten zu sammeln. Wie war die Zusammenarbeit mit den Behörden?

Insgesamt waren die Reaktionen auf unsere Untersuchung positiv. Wir haben mehr als 150 Interviews geführt. Organisationen, die die Vorfälle aufarbeiten, Gefangene, Rechtsanwälte sowie Familienangehörige gaben uns ihre Aussagen. Die staatlichen Behörden zögerten hingegen die Gespräche hinaus, haben dann aber auch mit uns geredet. Schließlich konnten wir als erste Organisation das Gefängnis, in dem die Festgenommenen gelandet sind, besuchen und haben dort mit 27 Inhaftierten gesprochen. Einen Monat nach ihrer Verhaftung haben sie noch immer keinen Zugang zu medizinischer Hilfe, obwohl es mehrere Frauen gibt, die vergewaltig wurden und dringend medizinische und psychologische Hilfe benötigen. Ein behinderter Mensch im Rollstuhl wurde bei seiner Verhaftung schwer mißhandelt. Ihm wird vorgeworfen, neun Polizisten entführt zu haben.

Wir konnten auch mit den Eltern des 20jährigen Studenten, der seit dem Polizeieinsatz im Koma liegt und für gehirntot erklärt wurde, sprechen. Uns wurde ein Bild des Grauens präsentiert.

F: Wie hat die Regierung auf die Vorwürfe reagiert?

Sie rechtfertigt das Vorgehen der Polizei damit, daß die FPDT Menschen entführt und gewalttätig protestiert habe. Regierung und Polizeiführung beharren darauf, daß bei dem Polizeieinsatz am 3. Mai keine Waffen eingesetzt worden seien. Dabei wurde an dem Tag ein 14jähriger Junge erschossen. Uns wurde aber zugesagt, daß administrative Untersuchungen gegen einige Polizisten eingeleitet würden.

F: In einem Monat wählt Mexiko eine neue Regierung. Nach dem Regierungswechsel im Jahr 2000 als Vincente Fox Präsident wurde, gab es große Hoffnungen auf eine demokratische Entwicklung. Wie beurteilen Sie die Lage fünf Jahre danach?

Die Hoffnungen, die mit dem Regierungswechsel verbunden waren, wurden enttäuscht. Die sozialen Konflikte haben an Schärfe zugenommen und die Antwort heißt Repression. Es ist eine sehr komplizierte Situation entstanden. Der Fall Atenco symbolisiert die Gefahr, daß soziale Probleme mit Gewalt gelöst werden. Aus unserer Sicht ist es eine moralische Pflicht, für das Recht einzutreten, sich zu organisieren und soziale Probleme zu lösen. Wir dürfen deshalb nicht zulassen, daß eine ganze Gemeinde bestraft wird und zerstört werden soll, um Widerstand im Keim zu ersticken.

- Aktuelle Informationen und die vorläufige Bilanz der Untersuchung unter http://cciodh.pangea.org

 

Quelle: http://www.jungewelt.de/2006/06-10/050.php


 

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