»Nur scheinbar ideologische Konfrontation«

junge welt vom 30.06.2006
Gerold Schmidt (npl)

 

Linke Kräfte und Intellektuelle in Mexiko sehen Präsidentenwahl am Sonntag gelassen entgegen. Ein Gespräch mit Carlos Fazio

Carlos Fazio ist einer der bekanntesten Journalisten und politischen Kommentatoren in Mexiko. Der gebürtige Uruguayer veröffentlicht unter anderem in der Zeitschrift Proceso und den Tageszeitungen El Financiero, el Día und El Universal.

Zwischen welchen Optionen können die Mexikaner am Sonntag wirklich wählen?

Der Wahlkampf hat sich durch eine große und nur scheinbar ideologische Konfrontation zwischen zwei politischen Projekten ausgezeichnet. Auf der einen Seite stand der konservativste Teil des mexikanischen Kapitalismus mit der Partei der Nationalen Aktion (PAN) und ihrem Kandidaten Felipe Calderón. Zum anderen López Obrador mit seiner Partei der Demokratischen Revolution (PRD), eine »Sozialdemokratie light«. Im Grunde sind es zwei Kandidaturen innerhalb der Grenzen des Systems.

Weshalb?

Calderón steht für die Fortführung von fast 25 Jahren neoliberaler Politik. Er würde versuchen, die Privatisierung der staatlichen Energiewirtschaft abzuschließen, die Präsident Fox nicht durchsetzen konnte. Außerdem hat Calderón hartes Durchgreifen gegen die sozialen Bewegungen angekündigt. Das repressive Vorgehen der Regierung gegen einen Streik der Minengewerkschafter sowie gegen die Bevölkerung der Kleinstadt Atenco waren Probeläufe dafür. López Obrador hat eine »ehrlichere Regierung« versprochen, die Bekämpfung von Korruption und Steuerhinterziehung der Vermögenden sowie eine zaghafte Umverteilung. Er will dem Neoliberalismus sozusagen ein menschliches Antlitz geben. Dabei hat er nur wenig Handlungsspielraum, denn die Abkommen mit Weltbank, IWF und Interamerikanischer Entwicklungsbank sind abgeschlossen. In der Wirtschaftspolitik unterscheidet sich López Obrador nur durch sein klares Nein zur Privatisierung des Energiesektors deutlich von Calderón.

Die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) und andere Linke haben angesichts der geringen Unterschiede erklärt, es sei letztendlich egal, wer gewählt werde. Teilen Sie diese Meinung? Aus strategischer Perspektive haben die Zapatisten recht. Innerhalb des Systemrahmens können die Dinge in Mexiko kaum grundlegend geändert werden. Andererseits hat die Kandidatur von López Obrador zweifellos einen großen Rückhalt in der Bevölkerung gefunden. Die Mehrheit derjenigen, die Veränderung wollen, sieht in ihm den Hoffnungsträger. Das hat natürlich auch einiges mit dem López Obrador oft nachgesagten Messianismus zu tun. Der PRD-Anwärter hat bisher nicht das Bestreben gezeigt, die Menschen so zu organisieren, daß sie nicht nur ihren Kandidaten verteidigen, sondern auch willens sind, ihn beim Aufbau einer Regierung für die Transformation des Landes begleiten.

Existieren im Projekt von López Obrador denn gar keine Ansätze einer nachhaltigen linken Politik? Ist er nur das kleinere Übel?

Für viele Menschen ist er das kleinere Übel. Jemand, der weniger raubt, weniger korrupt ist, bedeutet für viele Mexikaner bereits, daß sich etwas bewegt und noch mehr bewegen könnte. Ich bin mit dieser Haltung nicht einverstanden, aber die politische Kultur ist wie sie ist. Es gibt andererseits durchaus Gruppen und Personen in der PRD, die ihren Kandidaten kritisch begleiten. Sollte er gewinnen, werden sie Bedingungen stellen und Bündnisse suchen, die wirkliche Veränderungen möglich machen.

1988 hat die PRD wahrscheinlich schon einmal die Präsidentschaftswahlen gewonnen, es kam aber zu einem Wahlbetrug. Besteht diese Gefahr erneut?

In den vergangenen Tagen wurde die Verbindung zwischen Calderón und seinem Schwager offengelegt, dessen Software-Unternehmen eine Reihe von Regierungs- und Staatsaufträgen bekam. Damit im Zusammenhang sind Befürchtungen über einen »elektronischen Wahlbetrug« laut geworden. Die Wahlbehörde schließt das offiziell aus, technisch ist es aber machbar. Die Varianten sind zahlreich: Eine Manipulation der Wahlenthaltung, die Stimmabgabe von Verstorbenen sind nur zwei Beispiele. Dies brächte für die Regierung Fox, die PAN und Calderón jedoch ein hohes Risiko mit sich. Breite Teile der Bevölkerung sind fest entschlossen, einen Betrug nicht mehr zu dulden.

Interview: , Mexiko-Stadt

 

Quelle: http://www.jungewelt.de/2006/06-30/042.php


 

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