Die Andere Kampagne und die Wahlen - der 2. Juli

Ungekürzte Fassung des La Jornada Interviews mit Subcomandante Marcos

La Jornada vom 07.07.2006
von Hermann Bellinghausen
übersetzt von: Dana

 

La Jornada, 7. Juli 2006. In der Nacht vom 5. Juli gab Subcomandante Marcos im El Rincón Zapatista, in Mexiko Stadt, ein Interview mit der Tageszeitung La Jornada. Darin analysiert er den Ausgang der Wahlen vom 2. Juli aus der Sicht der Anderen Kampagne, die dem politischen Parteien- und Wahlsystem kritisch stets gegenüberstand und die politische Klasse als nicht länger tragbar, und als Ursache der gegenwärtigen politische Krise erachtet. Delegado Zero sprach ebenfalls seine Überzeugung darüber aus, dass ein massiver Wahlbetrug betrieben worden sei, ausgeführt von [Präsident Fox in] Los Pinos, der Führungsspitze der Nationalen Aktionspartei (PAN) und der mexikanischen Bundeswahlbehörde (IFE), um dem PRD-Kandidaten Andrés Manuel López Obrador den Wahlsieg zugunsten des unterlegenen PAN Kandidaten Felipe Calderón Hinojosa zu entreißen.

Delegado Zero hatte über diesen Wahlbetrug bereits in der Nacht von Montag, dem 3. Juli gewarnt, in der Radiosendung Política de Banqueta von Radio 620, unlängst zu Radio Insurgente, "Die Stimme der Stimmlosen" umkonvertiert. Tatsächlich war er damit der erste, der ihn denunzierte, weniger als 24 Stunden vor Abschluss der Wahlkommissionen. Und nun, am Rande eines kybernetischen Staatsstreiches um einen Kandidaten gegen einen anderen durchzusetzen, der zum gleichen politischen System gehört, formuliert Delegado Zero erneut die Perspektive der Anderen Kampagne, und die Notwendigkeit andere Formen zu entwickeln um sich zu organisieren und Politik "von unten und links" zu betreiben, mit einer antikapitalistischen Haltung, die nicht nach oben blickt, aber trotzdem sieht was oben vorgeht. Und nicht nur oben, denn auch unten hatten viele ihre Hoffnungen auf die Wahlen und einen bestimmten Kandidaten gesetzt, was ebenfalls berücksichtigt und analysiert werden sollte.

Gleich zu Anfang des Interviews blickte Subcomandante Marcos anderthalb Monate zurück, "als gekaufte Hochrechnungen den angeblichen Stimmenrückgang von Andrés Manuel López Obrador anzeigten, während Calderón aufstieg. Dann machte López Obrador wieder verstärkt in den elektronischen Medien und den Tageszeitungen Druck - obwohl er gesagt hatte, er würde das nicht mehr tun, weil er ’kein Geld habe’, aber am Ende ging es dann wohl doch - und holte vor den Wahlen wieder auf. Unseren Informationen zufolge, fing die IFE an einen kleinen Vorrat von anderthalb Millionen Wahlstimmen beiseite zu legen, die den Nachteil von Felipe Calderón ausgleichen sollten.

"Wir wissen nicht wo die Stimmen herkommen, aber im Wahlregister sind fünf Millionen Menschen verzeichnet, die nicht wählen konnten. Mindestens zwei Millionen Tote und drei oder mehr Millionen Wähler, die sich außer Landes befinden, aber dennoch in der Wählerliste eingetragen sind.

Da waren die Stimmen. Wir nehmen an, dass die PRD diese Information ebenfalls besaß, weil wir sie aus der IFE erhalten haben. Die PRD hätte darauf aufpassen müssen, aber das haben sie nicht, weil sie sich ausgerechnet hatten, dass sie gewinnen würden. Und diese anderthalb Millionen Stimmen kamen zum Einsatz sobald das PREP (Programa de Resultados Electorales preliminares - Programm für Vorläufige Wahlergebnisse) erschienen ist, und Calderon anscheinend immer mehr zulegte.

Am Nachmittag des 2. Juli, wussten sie in Los Pinos bereits, dass sie [die PAN] die Wahl mit einer Million oder anderthalb Millionen Stimmen verlieren würden. Fox rief daraufhin Ugalde an und sagte ihm, dass die Stimmeneingabe des PREP manövriert werden müsste, um die aufbewahrten Stimmen einzuschleusen. Die IFE fing daraufhin an nur die Wahlkästen zu zählen, die Calderón gewonnen hatte.

Es handelt sich um einen Betrug, gesteuert aus Los Pinos und aus dem Hauptquartier der Nationalen Aktionspartei (PAN), der die Demokratie, die Legalität und vor allem die vermeintliche Neutralität der IFE in eine Krise bringt. Auch wenn wir nicht dorthin blicken, ist uns klar was geschehen ist, und befinden uns in der gleichen Situation wie damals, als man beabsichtigte den Desafuero gegen AMLO durchzusetzen. Unabhängig davon, dass wir seine politischen Vorschläge nicht nur nicht teilen, sondern auch ablehnen, handelt sich hier um ein weiteres Täuschungsmanöver, in diesem Fall ein viel komplexeres, viel komplizierteres, weil es kybernetische Fragen sind, die es gestatten von einem Betrug zu sprechen."

Marcos zufolge ist es klar "dass AMLO die Wahl gewonnen hat, und dieser Stimmenvorrat, der IFE wurde dazu benutzt Caldéron gleichziehen zu lassen, und für ihn die halbe Million Stimmen herauszuholen, mit denen er beim Abschluss des PREP vorne lag. Bei der Auszählung der Wahlkästen geschah dann das Gegenteil. AMLO war immer in der Führung. Wahrscheinlich haben sie es abgekürzt, weil er einen Vorsprung von mehr als zweieinhalb Prozent überschritten hatte. Als nur noch ein Fünftel der Wahlkästen fehlte, hatte sich sein Vorsprung auf weniger als zwei Prozent verringert, und am Ende unterlag er.

"Der Unterschied zwischen dem PREP und der Auszählung der Wahlkästen sagt uns, dass da etwas sehr schmutziges vor sich geht. Ein anderer Hinweis sind die Erklärungen von Ugalde und Fox, die ganz eindeutig gleichzeitig und einmütig abgegeben worden sind. Damit endet jede Vorstellung von irgendeiner Neutralität, die zwischen der IFE und der Bundesregierung bestehen könnte.

"Es bleibt abzuwarten was der Siegerkandidat, seine Partei und die Bürgernetzwerke sagen werden. Es wird große Entmutigung herrschen bei den Leuten, die ihre Hoffnung auf die Wahlen gesetzt hatten, eine Hoffnung, die wir nicht teilen. Diese Leute wissen nicht, was sie tun sollen, es herrscht Ungewissheit. Die Andere Kampagne weiß schon was sie tun wird, weil ihr Weg nicht der obere ist."

Der Wahlprozess nähert sich einem Punkt, so Delegado Zero, "an dem es nicht mehr wichtig ist, wer wählt und für wenn; letztendlich wird das alles das da oben geregelt werden, und alles was für Wahlpropaganda und für den Erhalt der IFE aufgebraucht wurde, war umsonst. Nach diesem ganzen Prozess, der für die Mehrheit des mexikanischen Volkes so lang, aufreibend und frustrierend gewesen ist, wird das Ergebnis von einigen wenigen entschieden werden, von den Führungen der politischen Parteien, oder schlimmstenfalls wird das Wahltribunal oder der Oberste Gerichtshof entscheiden, wer gewonnen hat."

BELLINGHAUSEN: Über die Komponente des Betruges hinaus, reflektiert die hohe Wahlbeteiligung eine Polarisierung des Landes, insofern das, obwohl die Andere Kampagne und viele andere darauf bestehen, dass alle Kandidaten gleich sind, die Menschen, die gewählt haben, das anders sehen. Die PAN zu wählen impliziert, dass man eine Reihe von philosophischen und politischen Prinzipien akzeptiert, die nicht exakt mit den Prinzipien der Wähler übereinstimmen, die für die PRD stimmen. Ich spreche nicht von den Parteien sondern von den Menschen. Müssen wir davon ausgehen, dass es eine fast symmetrische Polarisierung des Landes gibt, zumindest innerhalb des Wahlgebietes?

SCI MARCOS: "Nein. Das Land ist in mehrere, sehr ähnliche Teile gespalten, weil man die Prozentzahl der Wahlenthaltungen und der annullierten Stimmabgaben berücksichtigen muss, die zusammengenommen eine ziemlich hohe Zahl ergeben. Wir müssen auch an die Leute denken, die durch Korporativismus gezwungen waren, für irgendeine der drei Hauptparteien zu stimmen. Diese Methode wurde vor allem von Elba Esther Gordillo eingesetzt, um dafür zu sorgen, dass in ihrem Wahlbereich für Calderón und für ihre Kandidaten im PANAL gestimmt wird, um Ressourcen zu erhalten. All diese Manöver haben sehr wenig mit einer elektoralen Demokratie zu tun".

Er zählt weiter auf, "die Abnutzung der Medien für den Austausch von Beleidigungen und Disqualifizierungen zwischen den Kandidaten; der kleine, oder nicht vorhandene Unterschied zwischen den politischen Programmen, und die völlige Fixierung auf einer Persönlichkeit, anstatt eines Programms.

Subcomandante Marcos erklärt weiter: "Calderón versucht der Bürde auszuweichen, die dem Land durch die Fox Regierung zugefügt wurde. Und AMLO versucht der ganzen Geschichte der Korruption der PRD auszuweichen. Bei der PRI war man sich einig auf ihren den harten Kurs zu bleiben und was damit zu erreichen ist; den Gouverneuren und den verschiedenen Sektoren kam nicht einmal in den Sinn, dass Madrazo nichts garantieren konnte. Und in allen drei Fällen ging es darum, den Wahlprozess auf Personen zu konzentrieren, nicht auf Programmen. Aber so weit wir wissen, geht es bei dem, was alle sechs Jahren auf dem Spiel steht nicht um eine Persönlichkeit und deren Medienpräsenz (und schau mal wer das sagt). Es geht um die unterschiedlichen Programme, die umgesetzt werden sollen: die wirtschaftliche Programm, das Programm der politischen Freiheiten, der demokratischen Freiheiten. Diese haben oftmals überhaupt nichts mit der Persönlichkeit zu tun, und stehen manchmal sogar in völligem Gegensatz zu ihr."

"Es gibt keinen wesentlichen Unterschied zwischen den Vorschlägen der PRI, der PAN und der PRD, also versucht man die Unterschiede auf die Persönlichkeiten zu fokussieren, und wenn es bei einem Wahlprozess nur darum geht, wieso gibt man den Menschen dann nicht die Gelegenheit auch andere Kandidaten zu wählen? Uns wird gesagt, es gibt nur die fünf. Wenn mir keiner davon gefällt, was mache ich dann?

"Die Krise des mexikanischen politischen Systems hat bereits die IFE eingeholt. Wenn es bei den Wahlen außer der PRI noch einen Verlierer gibt, dann ist es die IFE, nach der Rolle, die sie gespielt hat. Sie musste die restlichen 20 Prozent der Wahlkästen manipulieren, um Calderón mit López Obrador gleichziehen zu lassen, und ihn dann um die besagten 200.000 Stimmen zu überholen, um mit dem PREP zu übereinstimmen..

"Es handelt sich um eine politische Krise, die sich seit langem angekündigt hat und jetzt klarer ausbrechen und sich weiter vertiefen wird, und das wird ein politisches, wirtschaftliches und soziales Chaos nach sich ziehen. Die Andere Kampagne hat dies vorausgeahnt, seitdem die EZLN die Sexte Erklärung aus dem Lakandonischen Urwald veröffentlicht hat, und beschloss eine organisatorische Alternative zu errichten. Früher mussten jene, die das mexikanische politische System mit Abneigung, Misstrauen oder Kritik betrachteten, mit ihrer Meinung alleine dastehen; die Andere Kampagne gab ihnen eine organisierte Option. Ich wiederhole, die andere Kampagne promoviert weder die Wahl noch die Wahlenthaltung; sie promoviert eine organisatorische Form.

"Es gibt Stimmen auf AMLOs Seite, die diese Niederlage schnell akzeptiert haben, obwohl sie gar nicht verloren haben. Sie haben nicht nur nicht verloren, sie haben sogar gewonnen, aber sie fingen schnell an nach Schuldigen zu suchen. Wir haben 21 Bundesstaaten bereist, die wir direkt hätten beeinflussen können, im Süden, Südosten und im Zentrum der Republik. In sieben davon hat Calderón gewonnen, und in 14 AMLO. Wenn wir alle Stimmen in dem Gebiet zusammenzählen, durch den die Andere Kampagne gezogen ist, hat AMLO 11 Millionen 330 Tausend Stimmen, und Felipe Calderón neun Millionen 800 Tausend Stimmen, Das heißt, da wo die Andere Kampagne vorbeigekommen ist hat AMLO gewonnen, in Bundesstaaten, in denen die PRD traditionsgemäß bisher immer verloren hat. Dort wo die Andere Kampagne die meiste Zeit verbrachte, und die meisten Veranstaltungen abgehalten hat, in D.F. und im Bundesstaat México, haben AMLO und die PRD mit einer sehr breiten Mehrheit gewonnen.

Die Andere Kampagne hat sich nie für die Wahlenthaltung ausgesprochen. Unsere Losung am Ende des Protestmarsches am Sonntag war, "Ob du wählst oder nicht, organisier dich", in Voraussicht dessen, was jetzt passiert. Egal wer gewinnt, die Legitimität ist in eine Krise, dank der Arbeit der IFE, die sie keinem mehr garantieren kann. Auch wenn der eine oder andere durch eine zusätzliche Stimme mehr gewinnt, wird er keine Legitimität besitzen, weil der ganze Prozess fragwürdig geworden ist, seitdem sie angefangen haben, das PREP zu manipulieren, und sich den Schwindlern aus Los Pinos hergegeben haben. Ein Wahlbetrug ist im Gange um Felipe Calderón zum Sieger zu erklären, und die IFE hat das ermöglicht. Dies wird am Ende die Institution in eine Krise stürzen, die angeblich die Schiedsrichterfunktion hätte ausüben sollen. Sie werden ihre ganze Glaubwürdigkeit verlieren.

In Bezug auf die Kritiken, die sich sowohl gegen ihn als auch gegen die Andere Kampagne als "Schuldige" des Wahlergebnisses richten, sagt der Repräsentant der Sechsten Kommission: Weder die Andere Kampagne noch die EZLN müssen uns das vorwerfen lassen. In der La Jornada wurde der Blödsinn gedruckt, wir seien für alles verantwortlich, weil die zapatistischen Unterstützungsbasen AMLO nicht gewählt hätten. Die zapatistischen Unterstützungsbasen haben überhaupt noch nie gewählt, weder bei diesen Wahlen, noch in den Wahlen davor, noch in irgendeiner Wahl seit 500 Jahren; zumindest nicht als Gemeinden. Abgesehen davon, bringen sie einige völlig phantastische Zahlen, von 70% und ich weiß nicht wie viele Hunderttausende wir wären, die den Wahlausgang hätten umdrehen können.

Das Problem ist nicht, wie sich die 15.000 Stimmen auf den Wahlausgang ausgewirkt haben, oder welchen Einfluss die Andere Kampagne hatte, sondern die Unfähigkeit der Parteien und der politischen Klasse die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass sie ihnen eine Weg anzubieten hätten; die PRD nicht um ein Übel zu vermeiden sondern um sich direkt am politischen Leben des Landes zu beteiligen. Im Fall der PAN, war es ihre Unfähigkeit, die wählende Bevölkerung davon zu überzeugen, sie als Alternative zu betrachten. Das gleiche mit der PRI. Keiner von ihnen konnte die Mehrheit der politisch beteiligten Bevölkerung davon überzeugen, dass sie das Land führen könnten, und dieser ist ein Problem der politischen Krise. Das heißt, wenn dieser Übergang nicht mit einer Interimsregierung stattfindet, wie einige vorschlagen. Wie soll jemand mit weniger als 40 Prozent der Wahlstimmen das Land regiert? Wie soll jemand mit einer Rückendeckung von 14 Millionen Menschen, ein Land von mehr als 100 Millionen regieren, von denen mehr als 70 Millionen im wahlfähigen Alter sind?

Deshalb sagen wir, es gibt keinen Grund nach Oben zu blicken, das ist dabei sich aufzulösen. Wir müssen nach unten blicken und uns organisieren, um angesichts der Krise, die in den kommen Tagen folgen wird, eine Alternative von unten und links zu präsentieren.

BELLINGHAUSEN: Jetzt da die Wahlen vorbei sind, obwohl die Turbulenzen noch immer andauern, welchen Weg wird die Andere Kampagne einschlagen?

SCI MARCOS: Wir haben nicht das Problem der Leute, die alle Hoffnungen auf den Wahlprozess gesetzt haben. Es gab einige, die auf zwei Wege gefahren sind, die sagten, "ich bin in der Anderen Kampagne, aber ich denke dass die Wahlfrage auch eine Möglichkeit ist". In der Anderen Kampagne haben wir diesen Standpunkt immer verteidigt, obwohl wir ihn nicht teilten. Oben ist nichts mehr zu machen, aber einige sagen, es geht doch, und sie sind auch von unten und wir respektieren sie. Diese Überzeugung zu teilen ist keine Bedingung um zur Anderen Kampagne zu gehören.

Wir wissen schon, was wir machen werden. Wir müssen die organisatorische Form unserer Bewegung weiter voranbringen, wobei wir weiterhin die Freiheit unserer Compañeros und Compañeras Gefangene von Atenco als Angelpunkt nehmen; in den nächsten Tagen werden die Richter entscheiden, was geschehen soll. Wir müssen herausfinden, wie wir eine Entscheidung treffen können, die wirklich das Wort aller berücksichtigt, da die Versammlungen geographischen Beschränkungen von Zeit und Ort unterliegen, und die Diskussionen durch Dauer und physische Ermüdung begrenzt sind.

"Es gibt Leute, die sich schon damit überschlagen nach Schuldigen zu suchen, zu denen sie uns zählen, zusammen mit Cuauhtémoc Cárdenas und Patricia Mercado. Sie sollten mal ein Entspannungsmittel nehmen oder ein Tee trinken um sich zu beruhigen, den Stift zücken und sehen, dass sie gewonnen haben. Was sie jedenfalls tun müssen, ist sich zu mobilisieren um ihren Wahlsieg zu verteidigen. Aber auch so beweist das, was geschehen ist, dass die politische Klasse nicht in der Lage ist, der Mehrheit der mexikanischen Bevölkerung eine Alternative zu bieten. Wir sagen noch nicht einmal, dass wir diese Alternative sind, wir sind ja gerade erst dabei sie zu errichten".

BELLINGHAUSEN: - Wenn er erst einmal die Turbulenz passiert hat und Präsident geworden ist, wie wird es weitergehen für die sozialen Bewegungen, für die Bevölkerung von Mexiko, und vor allem, für die politische Klasse? Die Krise der politischen Klasse wird sich verschärfen, seine Beziehung zur Bevölkerung wird sich ebenfalls verschlechtern, die Widersprüche werden klarer sein. Welches Szenario kann sich daraus für das Land ergeben, und wie wird die Andere Kampagne dazu stehen?

SCI MARCOS: Wir sehen oben zwei große Tendenzen. Die Krise des mexikanischen politischen Systems erfasst alles was zu ihm gehört. Sie erfasst die politischen Parteien, die Massenmedien, die alles auf die politische Klasse gesetzt haben, die Institutionen, die vermeintlich das Gleichgewicht zwischen den Parteien aufrechterhalten sollten - wie die IFE-, und sie erfasst auch den wirtschaftlichen Prozess. Dafür gibt es ein sehr klares Zeichen: als es hieß, dass Calderón die vorläufige PREP Auszählung gewonnen habe, ging die Wertpapierbörse um vier Prozent nach oben, und, später, als López Obrador bei der Auszählung der Wahlkästen vorne lag, fiel die Börse um vier Prozent. Dass auch das wirtschaftliche System von der Krise der politischen Klasse erfasst wird, wird zu einer immer tieferen Krise im Land führen. Die Möglichkeit, die dann noch übrig bleibt, also die andere Tendenz, ist rette sich wer kann, jeder für sich selbst. Die Option ist dann, der Verschlechterung der Lebensbedingungen so gut es geht entgegenzutreten, auszuwandern um Arbeit zu suchen, oder sich zu organisieren.

Welche Option für einen organisatorischen Prozess können einem die politischen Parteien anbieten, wenn keins von ihnen es schafft eine Mehrheit in der Bevölkerung zu erzielen? Wir sagen dass es möglich ist eine andere Sache aufzubauen, und uns in einem bestimmten Moment der Mehrheit der Bevölkerung vorzustellen und zu sagen, hier ist eine andere Sache, anders als das mexikanische politische System".


BELLINGHAUSEN: Nach dem was Du sagst, signalisieren die Märkte und die Börse irgendwie, dass sie einen Kandidaten einem anderen vorziehen. Der eine schreckt sie ab und geht unter, der andere sagt ihnen zu und steigt auf. Das ist unterschiedlich. Passiert das schnell oder bedeutet es, dass er zumindest kurzfristig, eine Wirkung auf die Wirtschaft haben kann?

SCI MARCOS: "Für Calderón stimmten die Bundesregierung, die IFE und die Börse, das heißt, die Geldmenschen. Für Los Pinos und die IFE bedeutet dies ihre letztendliche Straflosigkeit, und die Investoren oder das Kapital, nun, sie waren besorgt, dass AMLO ihnen nicht genügend Garantien bieten könnte, auch wenn er ihnen immer wieder versichert hat, dass er ihnen Garantien gewährt, dass sie von seiner Seite aus auf keine Schwierigkeiten stoßen würden. Was er beabsichtigte sei ein strengerer Regierungsprogramm, aus dem er das Geld schöpfen würde um die sozialen Bedürfnisse zu lindern. Das ist eine schlechte Rechnung, aber das ist ein anderes Problem. Jetzt geht es nicht darum ob irgendwer die Schuld trägt, sondern um die reale Frage wer die Wahlen gewonnen hat, und was die Menschen, die hiervon betroffen sind entscheiden müssen, ist ob sie um das Wahlergebnis kämpfen wollen, und wie sie das tun werden. Und da muss man diese komplexe Verästelung rund um AMLO betrachten, zwischen der PRD und den Bürgernetzwerken, wer die Netzwerke steuert und wer die PRD anführt. Und da ist auch noch die Unsicherheit, die in den meisten Menschen und Militanten hervorgerufen wurde. Wie schnell sich die Intellektuellen dabei überstürzen Schuldige zu finden. Als ob es von oben keine klaren Signale darüber gegeben hätte was sie vorhatten. Diese ist die Sackgasse, die auch andere benutzt wurde um Betrüge auszuführen. Es gibt wachsende Gerüchte darüber, dass die PAN und Los Pinos bereits mit der PRD in Verhandlungen getreten sind, um die Ämter im kommenden Kabinett auszuhandeln, in Austausch dafür, dass Calderóns Wahlsieg anerkannt wird".

BELLINGHAUSEN: Und dies ist das Gebiet, von dem wir nicht wissen wohin es führt...

MARCOS: "Was das mexikanische politische System demonstriert, ist die Lüge, dass die Menschen durch die Abgabe ihrer Stimme ’entscheiden’. Das tun sie nie. Wenn es früher noch hieß, dass sechs Jahre lang jemand anderes die Entscheidungen für einen trifft, und deine Stimme nur einen einzigen Tag lang Bedeutung hat, hat sich heute gezeigt, dass deine Stimme nicht einmal an diesem einen Tag irgendeine Bedeutung hat, denn letztendlich wird eine kleine Gruppe darüber entscheiden wer Präsident der Republik sein wird, die niemand sieht, und die niemand gewählt hat. Weder der Oberste Gerichtshof, noch das Wahltribunal, noch die IFE. Sie ist nie durch irgendeinen elektoralen Prozess gewählt worden; nicht einmal von Ugaldes fünf geisterhafte Wissenschaftler, die das rechtfertigen. Ich weiß nicht, wie man das alles überhaupt rechtfertigen werden".

BELLINGHAUSEN: Für die Menschen, die an diese Art der Demokratie glauben, welche Demokratie bleibt ihnen übrig?

SCI MARCOS: Wir haben immer wieder gesagt, dass man über den Wahlprozess nachdenken und entscheiden muss wie man sich ihm gegenüber positioniert. Wenn jemand meint, dass ein Kandidat ihn überzeugt, dann nur zu, wir werden das nicht in Frage stellen. Aber wir denken, dass je mehr diese Krise fortschreitet, die Leute sich davon überzeugen werden, dass mit von oben her nichts erreichen kann, und dass es notwendig ist, unten eine Alternative zu errichten. Ein bestimmter Teil der Bevölkerung wird immer noch von der Vorstellung beherrscht, dass es einem Einzelnen nicht möglich ist seinen eigenen Raum, sein eigenes Schicksal aufzubauen. Die Andere Kampagne hat im ganzen Land viele Beispiele dafür gesammelt, dass es nicht so ist, und es wird ein Moment kommen, an dem die Menschen bemerken werden, dass es doch geht, dass wir die Dinge errichten werden, wir brauchen diese politischen Klasse nicht, und es ist möglich ehrliche, edle und uneigennützige Menschen zu finden, so wie wir ihnen in den zapatistischen Gemeinden begegnet sind, die es gemacht haben.

"Luis Linares Zapata (La Jornada, 5. Juli) sagte, dass zwei Anliegen das Mexiko von unten dazu gebracht hätten herauszugehen und sich zu organisieren. Eins sei die Rundreise der Anderen Kampagne, das andere AMLOs Kampagne. Er war der einzige Kommentator, der sie nicht als feindliche Bewegungen bezeichnete", erkennt Delegado Zero, um gleich darauf hinsichtlich beider Projekte zu präzisieren : "Obwohl wir uns selbst schon als Feinde betrachten. Einige sagen, AMLO sei unter dem Feuer freundlicher Geschütze geraten, womit sie uns meinen. Aber wir sind keine Freunde von AMLO, wir sind seine Feinde; wir sind Feinde der ganzen politischen Klasse, einschließlich der PRD. Und sie können kaum von freundlichen oder feindlichen Geschützen sprechen, weil sie diese Bezeichnung immer vermieden haben; sie sagen sie hätten keine Feinde, nur Rivalen oder Gegner. Es ist keineswegs so, dass wir auf der gleichen Seite gestanden und uns dann abgewendet hätten; wir standen nie auf der gleichen Seite, und dieser Bruch wurde 2001 sehr deutlich markiert, als sie die indigene Gegenreform unterstützt haben. Ich finde das was Señor (Emiliano) Thibaut (La Jornada, 5 Juli,) sagt lächerlich, weil die PRD in Chiapas Juan Sabines als Kandidat vorschlägt, jemand, der zur Zeit als die Andere Kampagne vorbeikam, der PRI-Bezirkspräsident von Tuxtla Gutiérrez war, und einige Wochen später zur PRD wechselte, und der erste gewesen ist, der ein Abkommen mit (Roberto) Albores Guillén, "El Croquetas" unterzeichnet hat. Was die PRD der Bevölkerung von Chiapas und den zapatistischen Gemeinden damit vorschlägt ist: ’wir werden den lebenden Leichnam von Croquetas wieder zum Leben erwecken, von dem Sie schon wissen, was er uns angetan hat’. Mit welcher Frechheit kann uns jemand als "freundliche Geschütze" bezeichnen, wenn wir die PRD attackieren. Das ist eine Lüge, wir sind keine Freunde dieser Leute. Und diejenigen, die in April 2004 die Compañeros in Zinacantán angegriffen haben, sind PRD-Behörden".

Marcos schließt mit einer Anspielung an seine Kritiker der Stunde: "Beruhigen Sie sich, und anstatt nach Schuldigen zu suchen, fangen Sie an nach Menschen zu suchen, die sie unterstützen, für den Fall, dass Sie sich mobilisieren wollen."

In der Unterhaltung, die nach dem eigentlichen Interview folgte, kommentierte Delegado Zero weiter über die IFE und die monumentalen Ausgaben aller Beteiligten für die Wahlkampagne und die Wahlen selbst. "Sie sollten das ganze Geld zurückzahlen müssen, das verbraucht wurde um die IFE zu bezahlen, die politischen Parteien, die Kommunikationsmedien (vor allem die elektronischen) und die Unternehmen für Meinungsforschung". Außerdem "gehören die dafür eingesperrt diese Meinungsforscher bezahlt zu haben um die Menschen zu täuschen."

 

Quelle: http://enlacezapatista.ezln.org.mx/la-otra-campana/375/


 

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