Analisis - Analyse: Der Friedensprozess in Chiapas - zerstörter Optimismus?

News vom 10.08.2001
Sipaz-Informe Vol.6 Nr.3, August 2001

 

Der seit Beginn des Jahres vorherrschende Optimismus ist durch die Verabschiedung der Verfassungsgesetzesreform über indigene Rechte und Kultur, welche von der EZLN und anderen indigenen Organisationen zurückgewiesen wurde, zunichte gemacht worden. Da die Verabschiedung des indigenen Gesetzes, das 1996 von der COCOPA ausgearbeitet worden war, eine der von den Zapatisten gestellten Bedingungen für die Wiederaufnahme des Dialoges darstellte, erfährt der Friedensprozess eine neuerliche Krise: Stagnation, Unsicherheit und das Risiko, dass einige Gruppen sich für eine gewaltsame Lösung entscheiden könnten, stehen wieder auf der Tagesordnung.

Zeit der Hoffnung

Seit der Machtergreifung durch Präsident Fox im vergangenen Dezember konnte eine einschneidende Veränderung im Vergleich zur Vorgängerregierung beobachtet werden (während der Amtszeit Ernesto Zedillos wurde versucht, den Konflikt so weit wie möglich herunterzuschrauben), da Fox das Thema Chiapas als eine der vordringlichsten Angelegenheiten der nationalen Tagesordnung betrachtete.

Auch wenn der Annäherungsprozess mit einigen Dürrestrecken und Flauten vor sich ging, konnte die EZLN doch ihren Marsch zur Hauptstadt im Februar/März 2001 verwirklichen, um das ,COCOPA-Gesetz’ ohne größere Zwischenfälle zu verteidigen. Sie wurden bei ihrem Marsch durch zwölf Bundesstaaten von Tausenden Indigenen und der Zivilgesellschaft unterstützt. Dieser Prozess fand seinen Höhepunkt mit dem Auftritt der ZapatistInnen auf der Rednerbühne des Unionskongresses.

Dieser Auftritt stellte ein historisches Ereignis dar. Die Rede der KomandantInnen, in der sie ihre Wahl für den politischen Weg und den Dialog kundtaten, gab neue Hoffnung. Sie erkannten an, dass der Staat, mit der militärischen Evakuierung von Militärposten, wie es von der EZLN gefordert worden war, und mit der Befreiung fast sämtlicher zapatistischer Gefangenen Friedenszeichen gesetzt hatte. Ein erstes Treffen zwischen dem von den ZapatistInnen gewählten Interessensvertreter und dem Friedenskommissar der Regierung fand statt und markierte dadurch die wiedereinsetzenden Aufnahme des Friedensprozesses. Es war das erste Treffen zwischen EZLN und Staat nach fast fünf Jahren.

Gleichzeitig weckte der Erfolg des zapatistischen Marsches Vertrauen, dass sich eine politische Öffnung geschaffen hatte, die eine Verabschiedung des COCOPA-Gesetzes erleichtern würde. Vielleicht erklärt dieser Optimismus die — von vielen kritisierte — Haltung der EZLN, sich wieder in die Stille des Urwaldes zurückzuziehen, während das Gesetz im Kongress diskutiert wurde.

Enttäuschte Erwartungen

Die Verabschiedung eines Indigenen-Gesetzes durch den Kongress, das sich von der Gesetzesinitiative der COCOPA unterscheidet, bedeutete das Ende der Annäherungsmöglichkeiten. EZLN und CNI wiesen das Gesetz unmittelbar zurück. Weitere Indigenen-Organisationen und NGOs schlossen sich an.

Regierungsnahe Gruppierungen bewerten das verabschiedete Gesetz als einen (wenn auch limitierten) Fortschritt, jedoch den Indigenen-Organisationen nahe Gruppierungen sehen es als einen Schlag an, der tödlich für den Friedensprozess sein könnte. Aus der Sicht der ZapatistInnen verletzt diese Reform die unterschriebenen Vereinbarungen von San Andrés mit der vorherigen Regierung, was jede Möglichkeit auf eine Wiederaufnahme des Dialogs unterbindet.

Eine weitere Tatsache ist, dass das Gesetz paradoxerweise von seinen potentiellen NutznießerInnen auf breiter Basis zurückgewiesen wurde, nämlich von den Indigenen-Gemeinschaften und -Organisationen. Selbst Regierungsinstanzen, die zu diesen Themen arbeiten, kritisieren das erlassene Gesetz.

Auseinandersetzung in 31 Bundesstaaten

Nachdem die Verfassungsreform vom Unionskongress verabschiedet worden war, musste sie noch die Runde durch die jeweiligen Kongresse der Bundesstaaten machen. Normalerweise ist dies ein fast durchautomatisierter Prozess. Im Falle des Indigenen-Gesetzes jedoch löste die Wahl in den bundesstaatlichen Kongressen großes Interesse und Auseinandersetzungen wie noch nie zuvor in Mexiko aus. Zum ersten Mal unternahm die Zivilgesellschaft eine großangelegte Fürsprache und Kampagne gegenüber den Abgeordneten, dergestalt, dass deren Abstimmung sehr differenziert ausfiel und nicht notwendigerweise der vorgegebenen Parteilinie folgte.

Der Protest in den Bundesstaaten mit der größten indigenen Bevölkerung, in denen jeweils die Situation am gespanntesten ist und in denen bewaffnete Guerilla-Gruppen agieren (Oaxaca, Chiapas und Guerrero), ist dabei hervorzuheben. Viele Analysen deuten diesen Protest und die Zurückweisung als eine Delegitimation der Reform, da sie weder die Frage der indigenen Rechte löst noch einen Weg öffnet zur Lösung des Konflikts in Chiapas. Dies wirft die Frage nach der Verschiebung, die zwischen Legalität und Legitimität bestehen kann, auf. Speziell bei einem solchen Thema erscheint es schwierig, dass ein repräsentatives Staatssystem auf Forderungen der indigenen Völker eingeht, die eine wenig repräsentierte Minderheit innerhalb der Machtstrukturen darstellen (genau diese Situation versuchte die COCOPA ja zu verändern).

Welche Perspektiven gibt es für die Zukunft?

Die Gesetzgebung enttäuschte die Erwartungen der indigenen Völker durch die Abstimmung für ein Gesetz, das jene nicht wollten. Die Exekutive verabschiedete dieses Gesetz trotz seiner großen Differenzen zu dem vom Präsidenten vorgelegten Projekt. In dieser letzten Instanz scheint die gesetzgebende Macht einen neuen Akteur darzustellen, der eine Schlüsselrolle spielen könnte, da der Oberste Gerichtshof über die Berufungen entscheiden werden muss, die von RepräsentantInnen der PRD, Gemeindeabgeordneten und bundesstaatlichen Kongressen eingereicht wurden.

Trotz der Dramatik dieser Situation ist die dialektische Dynamik, die sich zum ersten Mal zwischen den drei Gewalten im Staat abspielt und die es immerhin geschafft hat, das Thema Indigene Rechte in den Mittelpunkt der nationalen politischen Tagesordnung zu setzen, interessant.

Es ist auch interessant, herauszufinden und abzuwägen, inwieweit die Zivilgesellschaft mittels einer nationalen und internationalen Mobilisierung fähig ist, die Legitimität des Gesetzes in Frage zu stellen. Hierfür ist das wichtigste Werkzeug die von Mexiko ratifizierte Konvention Nr. 169 über indigene und in Stämmen lebende Völker in unabhängigen Staaten, welcher das verabschiedete Gesetz in grundlegenden, die Selbstbestimmung betreffenden Aspekten widerspricht. Trotzdem ist aber auch der Einfluss, den der mexikanische Staat auf internationale Organismen innehat, bekannt, so dass dies zweifelsohne eine hoch angesetzte Herausforderung ist.

Die Politik des Staates in Bezug auf Chiapas war und ist ambivalent, und eine langfristige Friedensstrategie scheint es nicht zu geben. Kritiken deuten an, dass Vicente Fox sich darauf beschränkt hat, das Gesetz der COCOPA an den Kongress zu schicken, weil es ihm auf den Nägeln brannte, den Konflikt in Chiapas zu lösen, und weil er klare Signale zu Anfang seiner Amtszeit setzen wollte; er habe sich aber nicht wirklich für die Unterstützung der Abgeordneten eingesetzt, wie er es sonst mit Gesetzen, die ihn wirklich interessierten, gemacht hat: der Steuerreform und dem Haushaltsetat.

In Bezug auf sein Agieren in Chiapas hat es, auch wenn es keinen Rückschritt im Eliminieren der Militärcamps gegeben hat, Beschwerden von indigenen Gemeinschaften gegeben, die ein Wiederaufflammen der militärischen Präsenz und Anfeindungen nach der Verabschiedung des Gesetzes anklagen. Auch gibt es keine Fortschritte im Befreiungsprozess der ZapatistInnen, die immer noch Gefangene sind.

Die Erfüllung der Bedingungen der ZapatistInnen wird schon wieder als Geschichte angesehen, nicht als eine noch ausstehende Situation, um den Dialog wiederaufzunehmen. äußerungen von Mitgliedern der Regierung belegen, dass ihrer Meinung nach bereits alles ihnen zur Verfügung stehende für den Friedensprozess in Chiapas getan worden sei. Der Dialog sei jetzt in den Händen der ZapatistInnen. Angesichts der steigenden Spannungen in Chiapas lesen sich einige Kommentare des Präsidenten Fox als besorgniserregend (z.B. "es gibt keinen Konflikt, wir befinden uns in einem heiligen Frieden".)

Auf der anderen Seite könnten die von der Regierung gemachten Vorschläge, die Situation zu beantworten, unzulänglich oder unangemessen sein. Die Idee, mögliche Verbesserungen an der erlassenen Reform auf nachfolgende Gesetze zu verweisen, reicht nicht aus, um das Vertrauen der EZLN wiederzugewinnen. Eine andere Strategie der Exekutive scheint es zu sein, die Ursachen des Konfliktes anzugehen, d.h., Projekte zur ökonomischen und sozialen Entwicklung in den indigenen Gemeinden in Chiapas voranzutreiben. Damit verliert sich aber der Blick dafür, dass die indigene Problematik national und nicht nur auf einen alleinigen Bundesstaat bezogen ist.

Außerdem wurde dieses Strategie schon von der vorhergehenden Regierung ohne positive Resultate durchgeführt: die wirtschaftliche Situation der Gemeinden ist mittlerweile schlimmer als zu Beginn des Konflikts. In den meisten Fällen haben die Regierungshilfen die innergemeindlichen Spaltungen vorangetrieben, besonders dann, wenn sie zu Zielen der Aufstandsbekämpfung oder des Klientelismus eingesetzt wurden. In der aktuellen Situation ist eine Polarisierung zwischen denen, die ökonomische Hilfe erhalten und den ZapatistInnen, die sich als Teil ihrer Widerstandsstrategie weigern, diese anzunehmen, bereits etabliert.

Auf der anderen Seite sieht sich die Regierung Fox mit den wirtschaftspolitischen Folgen, die aus der NAFTA entstehen, konfrontiert, die gravierend die landwirtschaftliche und Viehzucht-Produktion beeinträchtigt haben, die sich heute in einer tiefen Krise befindet. Aufgrund dieser Probleme könnte der Chiapas-Konflikt auf der komplizierten nationalen Bühne eine zweitrangige Rolle einnehmen.

Die EZLN scheint sich für eine Rückkehr zum "Widerstand" entschlossen zu haben. Diese Entscheidung schafft Spannungen auch im Inneren der zapatistischen Gemeinden aufgrund der Erschöpfung und der schwierigen ökonomischen Situation, die in der konfliktiven Zone vorherrscht. Eine andere Möglichkeit, über die gesprochen wurde — und noch besorgniserregender wäre — ist, dass die EZLN versuchen könnte, sich mit anderen Guerilla-Gruppen zu vereinigen, die ihnen bereits ihre Unterstützung für den Fall, dass sie sich aus dem Dialog zurückziehen sollten, angekündigt haben. Einige Analytiker wie z.B. Carlos Montemayor haben das letzte Kommuniqué der EZLN bereits in diesem Sinne interpretiert: "Die Abgeordneten und die Regierung geben den verschiedenen bewaffneten Gruppen in Mexiko die Begründung dafür, einen Dialog- und Verhandlungsweg für ungültig zu erachten." (Kommuniqué der EZLN vom 29.April 01)

Auf alle Fälle könnten, auch wenn dies zur Zeit keine wirkliche Option der zapatistischen Kommandantur ist, in der momentanen Unruhe des Konfliktes Dynamiken entstehen, die der Kontrolle der eigentlichen Akteure entgleiten und Prozesse in Gang setzen, die später schwer wieder rückgängig zu machen sind.

Der Krieg, den man nicht sieht

Währenddessen wiegen die Konsequenzen aus der Verabschiedung des Gesetzes schwer auf dem Zusammenleben in den Gemeinden in Chiapas und sie erschweren die Regierungsfähigkeit für die Amtszeit von Pablo Salazar.

Nach dem zapatistischen Marsch und während der kurzen Zeit, in der man das Gesetz diskutierte, fand in Chiapas eine soziale, militärische und politische Entspannung statt. Angesichts dieser neuen Krise polarisiert sich die Situation jedoch zusehends.

SERAPAZ (Unterstützung für den Frieden) klagte die "Explosivität" einer Situation an, die immer schlimmer wird aufgrund der Agrarkonflikte zwischen sozialen und indigenen Organisationen. Auch die weiterhin ungelöste Situation der Tausenden von Vertriebenen, die Anzeichen einer sozialen Unzufriedenheit, usw., sind verantwortlich für eine Situation, die an sich noch verschärft wird durch die extrem angespannte Stimmung vor den Wahlen (im Oktober finden Gemeindewahlen und Bundeskongresswahlen statt).

Wenn vorher die Konfliktlinie zwischen den Priisten auf der einen und den Gegnern oder Unabhängigen auf der anderen Seite verlief, verläuft sie heute auch zwischen jenen, die die Regierung des unabhängigen Pablo Salazar unterstützen und jenen, die sich jedweder Form des Gesprächs mit der Staatsregierung verweigern.

Die Regierung Salazar war auf ihre Weise klar in der Zurückweisung der indigenen Reform. Salazar verkündete seit Beginn seiner Amtszeit, dass seine Regierung — im Gegensatz zur vorherigen — nicht die Spaltung innerhalb der Gemeinden und die Gewalt unterstützen wird.

Hierauf entgegen einige jedoch, dass Salazar bis heute keine klaren Positionen in Bezug auf sehr sensible Themen, die mit dem Konflikt verknüpft sind, eingenommen hat, so z.B. die paramilitärischen Gruppen und die Straflosigkeit, was direkt die Situation der Vertriebenen beeinträchtigt. Es kann sein, dass seine Haltung, dieses Themen bewusst nicht anzuschneiden, mit seinem Wunsch, den Dialog mit allen Sektoren der Gesellschaft offenzuhalten, zu tun hat und auch mit der Notwendigkeit, eine gewisse Regierungsfähigkeit in extrem schwierigen Bedingungen aufrechtzuerhalten.

Interessenskonflikt

Nach siebeneinhalb Jahren Konflikt in Chiapas hat Mexiko jetzt ein verfassungsmäßiges Gesetz über indigenen Rechte, das nicht mit den indigenen Völkern abgesprochen war und das von der Mehrheit von ihnen zurückgewiesen wurde.

Verschiedene Experten und Organisationen haben zum Ausdruck gebracht, dass es kein Zufall ist, dass die verabschiedete Reform sich in grundlegenden Aspekten von den Vereinbarungen von San Andrés und dem Gesetzesvorschlag der COCOPA unterscheidet, wie in der Anerkennung der indigenen Völker als Subjekte von politischen Rechten, und die Ausübung der Autonomie über materielle Güter zu garantieren wie dem Land, dem Gebiet und den natürlichen Ressourcen, die es darin gibt. Sie bestätigen, dass derartige Rechte im Konflikt stehen mit Investitions- und wirtschaftlichen Ausbeutungsprojekten von Seiten großer transnationaler Kapitalunternehmen in Chiapas und anderen Regionen in Mexiko.

Das Dilemma ist so eindeutig wie schwierig, und überschreitet den Konflikt in Chiapas ebenso wie er ihn mit einschließt: Welches Projekt des Landes steht zur Diskussion, wenn Mexiko zu eine größeren Demokratisierung voranschreiten will?
 

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