Newsletter September 06: Oaxaca, Chiapas, Mexiko

Direkte Solidarität Chiapas vom 02.09.2006

 

Oaxaca: Der lange Sommer der Anarchie

Wie Ihr den täglichen Tickermeldungen auf unserer Page entnehmen könnt, hat sich die Situation in Oaxaca dramatisch zugespitzt: In den letzten Wochen war die Repression durch die Unsicherheitskräfte massiv, es gab seit Anfang August sechs Tote und mehrere Verletzte. Nach den massiven Angriffen von letzter Woche − ein Polizeikonvoi ist in Manier einer Todesschwadron schiessend durch die nächtliche Stadt Oaxaca gefahren und hat auf die besetzte Radiostation "La Ley" geschossen und dabei einen 52-jährigen Architekten getötet − ist die Bevölkerung dazu übergegangen, ihre Quartiere zu überwachen. Von der Abenddämmerung an hat es deshalb in Oaxaca über 500 Barrikaden und diese sind nur nach genauen Kontrollen passierbar.

Gestern Samstag war Demotag in Oaxaca: An der fünften Megamarcha nahmen nach Angaben der OrganisatorInnen eine halbe Million Personen teil (die Hauptstadt Oaxaca hat 250’000, der Bundesttaat 3.5 Mio. EinwohnerInnen). Diese breite Beteiligung trotz strömendem Regen ist ein voller Erfolg für die Bewegung, welche den Rücktritt des Gouverneurs Ulises Ruiz fordert.

Während die Volksversammlung APPO und die LehrerInnengewerkschaft in Mexiko Stadt auf erste Gespräche mit dem mexikanischen Innenministerium eingetreten sind, übt sich die Regierung von Oaxaca weiter in klandestinen Aktionen gegen die Volksbewegung. Neuestes Schmierenstück ist die Inszenierung einer vermeintlichen "bewaffneten Propaganda-Aktion" von angeblichen Guerillagruppen: 12 Personen, mit blitzsauberen Waffen und properen Kampfuniformen, blockierten eine Strasse im Norden des Bundesstaates und verteilten Flugblätter. Die Lesart der APPO dieses Ereignisses: Mit dieser Aktion will die Regierung Ruiz die Bewegung in Verruf bringen und Präsident Fox dazu bringen, mit dem Militär einzugreifen. Die FARP, eine von mehreren Dutzend kleinen Guerillagruppen im Lande, bestätigte beispielsweise, dass sie eine solche Aktion nicht machen würden, da das eine klare Provokation der Bewegung wäre, die mit zivilen Mitteln eine "demokratische Transformation der ökonomischen, politischen, sozialen und kulturellen Strukturen des Bundesstaates entwickelt".

Die Diffamierung als "Stadtguerilla" oder als Bewegung, die mit bewaffneten Gruppierungen zusammenspannt, war denn auch das zentrale Thema an der Megamarcha: "In der Sierra (Norte) hat es keine Guerilla, bloss Armut", verkündeten Plakate . Sprecher der APPO und der LehrerInnengewerkschaft distanzierten sich klar von bewaffneten Gruppierungen (und auch von der PRD). Sie seien eine friedliche Bewegung − aber: "Friedlich heisst nicht, dass wir nicht entschlossen sind."

Zu Oaxaca:
Video des Angriffs der Polizeieinheiten auf Radiostation am 22. August:
http://www.youtube.com/watch?v=iBXSiPonuM0

Die Lage in Mexiko eskaliert
http://www.heise.de/tp/r4/html/result.xhtml?url=/tp/r4/artikel/23/23414/1.html&words=Oaxaca

"Mal kurz den Gouverneur abgesetzt" -
Interview (Volltext), gekürzt erschienen in der Jungen Welt:
https://chiapas.ch/?artikel_ID=669&start=0&j=10

Oaxaca, magisterio y lucha armada
https://www.jornada.com.mx/2006/08/29/025a2pol.php
Protestbriefe könnt ihr auf unserer Homepage runterladen.

Fox: »Das Land braucht Harmonie, nicht Anarchie«

Die letzte alljährliche "Rede zur Lage der Nation" konnte Fox gestern nicht vor dem Parlament halten − die PRD-Fraktion der zwei Parlamentskammern hat aus Protest über die grossräumige Absperrung der Umgebung und die unsauberen Wahlen vom 2. Juli den Auftritt des Präsidenten verhindert (schon vor Wochen wurde von der Aufstandsbekämpfungsheinheit PFP eine Art Rote Zone im Durchmesser von drei Kilometern um das Parlamentsgebäude eingerichtet und mit einem Metallwall sowie gepanzerten Fahrzeugen abgesichert).

Neben diesem medial wirkungsvollen parlamentarischen Protest − und der persönlichen Schmach für den Präsidenten Fox, der sich inbrünstig mehr Harmonie wünscht − blieb es in der Hauptstadt jedoch erstaunlich ruhig: Fünftausend Personen näherten sich der Roten Zone, rund 50’000 versammelten sich auf dem Hauptplatz (Mexiko Stadt hat mit Einzugsgebiet 25 Mio. EinwohnerInnen). Dort richtete sich der PRD- Präsidentschaftskandidat Andrés Manuel Lopez Obrador an das Militär und bat dieses "respektvoll, nicht auf die Versuchung, das Volk zu unterdrücken, hereinzufallen".

Die nächste Woche wird das Wahlgericht den nach seiner Meinung nach definitiven Sieger der Wahlen vom 2. Juli bekanntgeben − das wird wohl Felipe Calderon sein. Unterdessen äussern sich lokale Berater der Wahlbehörde IFE zu den Unregelmässigkeiten im Vorfeld der Wahlen im Bundesstaat Oaxaca. Sie berichten von massivem Stimmenkauf und der Einmischung der Administration Ulises Ruiz in den Wahlkampf. Die Wahlberater lamentierten, dass ihre Beschwerden nicht gehört wurden und dass zudem viele Unregelmässigkeiten gar nicht offiziell denunziert wurden, da die Betroffenen Angst vor Repressalien hätten. Sollte Calderon zum Präsidenten erklärt werden, ist unklar, wie Andrés Manuel Lopez Obrador (AMLO) − und die von ihm mobilisierte Anhängerschaft − reagieren wird. Als nächstes Grossereignis ist eine nationale demokratische Versammlung anvisiert: Am 16. September soll diese Convencion Nacional Democratica auf dem Hauptplatz Mexikos stattfinden. Eventuell lässt sich dort AMLO zum Präsidenten "im Widerstand" wählen.

Consejeros locales del IFE denuncian irregularidades Violaron autoridades de Oaxaca el acuerdo de neutralidad electoral
https://www.jornada.com.mx/2006/09/02/029n2pol.php

Wahlen in Chiapas: Die PRI verliert, die PRI gewinnt doch − als PRD verkleidet

Nochmals Wahlen, aber noch absurder: In Chiapas fanden am 20. August Gouverneurswahlen statt, mit einem äusserst knappen Wahlausgang, der gerichtlich angefochten wird. Bei einer historisch kleinen Wahlbeteiligung von 46 Prozent scheint Juan Sabines um wenige tausend Stimmen die Nase vorn zu haben. Juan Sabines war PRI-Bürgermeister der Hauptstadt Tuxtla Gutiérrez − bis er im Mai von Lopez Obrador für die PRD-Koalition abgeworben wurde (die PRD-Basis wurde zu dieser Wahl nicht mal befragt).

Juan Sabines wurde auch vom Fox-nahen, scheidenden Gouverneur Pablo Salazar unterstützt, ebenfalls mit unlauteren Mitteln. So wurden beispielsweise in den letzten Wochen die Privathäuser in halb San Cristobal neu gestrichen − mit geschenkter Farbe als kleine Aufmerksamkeit von Seiten der PRD... Auch die PRI schenkte sich nichts und mobilisierte Ressourcen aus anderen Bundesstaaten. Schliesslich gipfelte das völlig prinzipienlose, rein auf die Machttöpfe besessene Kandidatenkarrussel in der Allianz PRI-PAN-PANAL gegen die "Staatswahl" von Sabines-Salazar. Eine historische Koalition, denn die katholisch-konservative PAN betrachtete lange Zeit die PRI als ihren ideologischen Hauptfeind.

Juan Sabines wurde vom lokalen Wahlinstitut illegalerweise zum Sieger erklärt, obwohl die PRI Einsprachen beim Wahlgericht anstrebt (da macht die PAN nun schon wieder nicht mehr mit, die Koalition PRI-PAN hielt keine vier Wochen). Sabines hat im Wahlkampf klar gemacht, von wo er seine Verbündeten holt: Er schmiedete einen Pakt mit dem Ex- Interims-Gouverneur und PRI-Hardliner Albores Guillen (1998-2000), der die Räumungen von verschiedenen zapatistischen Bezirken veranlasste. Er ist gut Freund mit Kanter, dem Viehzüchterverbandspräsidenten sowie mit diversen Kaziken, welche Bauernorganisationen dirigieren.

Derweil wurden im August zwei zapatistische Gemeinden angegriffen: 60 Familien von "Chol de Tumbala" (Zona Norte) wurden von lokaler Polizei und Pistoleros der Grossgrundbesitzer von ihrem Land vertrieben, auf dem sie seit 1999 wohnen und arbeiten. Weiters haben bewaffnete Anhänger der Bauernorganisation OCEZ (der Verbindungen zur Guerilla EPR nachgesagt werden) die zapatistischen Familien der Gemeinde "El Carrizal" (Venustiano Carranza) angegriffen und wollten sie aus der Gemeinde vertreiben, was ihnen jedoch nicht gelang. Es ist wohl davon auszugehen, dass sich unter Sabines der Konflikt in Chiapas erneut verschärfen wird. Sabines hat übrigens auch schon angekündigt, dass er die Entscheidung des mexikanischen Wahlgerichts bzgl. der Präsidentenwahl akzeptieren wird, sprich die Einsetzung von Felipe Calderón...

Zu Chiapas:

Nagelprobe für die Präsidentenanwärter
https://chiapas.ch/?artikel_ID=659&start=0&j=10

Der Rat der Guten Regierung von Morelia, Caracol IV, denunziert den Angriff auf die Gemeinde El Carrizal
https://chiapas.ch/?artikel_ID=666&start=0&j=10

Zapatistische Gemeinde in der Zona Norte geräumt
https://chiapas.ch/?artikel_ID=667&start=10&j=10

DREI JAHRE RAETE DER GUTEN REGIERUNG
https://chiapas.ch/?artikel_ID=653&start=10&j=10

Ermittlungen gegen die EZLN und Marcos
https://chiapas.ch/?artikel_ID=664&start=0&j=10

Oaxaca, Chiapas, Mexiko: Einsichten und Aussichten

Soziale Mobilisierung ungeahnten Ausmasses in Oaxaca, Proteste gegen Wahlbetrug in Hauptstadt und Parlament, Verschärfung des Konfliktes in Chiapas − wohin steuert Mexiko? Der Meinungen sind viele, doch einig sind sich alle in der Einsicht, dass die Regierung Fox gründlich versagt hat und er besser früher als später auf sein Rancho zieht, wovon er auch jetzt schon öffentlich träumt (seine Amtszeit dauert aber noch bis am 1. Dezember).
Zur Figur des wohl bald neuen Präsidenten Felipe Calderón gehen die Meinungen auseinander, nur scheint klar zu sein, dass der ehemals unauffällige und kompromissfähige Technokrat wohl in der ideologisch aufgeheizten Stimmung − und angesichts seiner minimen Legitimität zumindest im Süden des Landes − nun zu einer Politik der harten Hand neigt.
Stellvertretend für die verschiedenen Einschätzungen über die nahe Zukunft hier die Schlussworte des Proceso-Journalisten José Gil Osmos in seinem Artikel "Die Lektion von Chiapas" (zu den Wahlen in Chiapas):
"Wie im Jahre 1994 hat uns Chiapas erneut eine wichtige Lektion erteilt: Das nationale politische System der Parteien, Institutionen, Gesetzen, Funktionären und Regierungsrepräsentanten befindet sich in einer absoluten Dekandenz und eine Erneuerung ist dringend notwendig.

Diese Erneuerung wird über den friedlichen Weg von tiefgreifenenden Reformen der Gesetze und der Institutionen erreicht, wofür der Wille der prinzipiellen politischen Akteure notwenig wäre. Oder über den Weg der Gewalt, mittels ziviler Mobilisierungen (sic!) sowie gar bewaffneten Mobilisierungen der Guerillas, welche diese Transformationen erzwingen werden, gegen die sich Parteien und Regierende stellen.
Leider, so wie sich die Situation im Moment darstellt, scheint alles auf die zweite Option hinzudeuten, mit dem grossen Risiko, dass die Konfliktherde in Oaxaca und in der Hauptstadt weitere Orte anstecken und das Land die nächsten sechs Jahre in ein Klima der Instabilität oder gar der Unregierbarkeit rutschen wird."
La lección de Chiapas
http://www.proceso.com.mx/anapol.html?aid=43361

Veranstaltungen

Informationsnachmittage für freiwillige Menschenrechtseinsätze mit Peace Watch Switzerland und PBI:
Bern 23. September 2006
Bildungszentrum WWF, Bollwerk 35, 13.00 - 17.30 Uhr

Zürich 30. September 2006
Völkerkundemuseum der Uni Zürich, Pelikanstr. 40, 13.00 - 17.30 Uhr

Lausanne 30 September 2006.
Au centre régional d`Amnesty International, rue de la Grotte 6, de 13h30-17h30.
Mehr Infos auf:
www.peacewatch.ch, www.peacebrigades.ch

Wichtige Vorankündigung:
21. Oktober: RebelArte - Festival de los Espejos
10 Uhr bis 1 Uhr nachts: Danza, teatro, peliculas, actividades para niños y niñas, Podium "Neocolonialismo − Retos y avances en el siglo 21 en América Latina", comida. Ort: Kulturmarkt, Aemtlerstrasse 23 (Nähe Goldbrunnenplatz)


Quelle:
Direkte Solidarität mit Chiapas/Café RebelDía:
Quellenstrasse 25, 8005 Zürich

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Café RebelDía
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Quellenstrasse 25
8005 Zürich

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Zapatistischer Kaffee, indigener Aufstand und autonome Kooperativen in Chiapas, Mexiko.
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Quelle: https://chiapas.ch/


 

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