Oaxaca: Volksbewegung bringt Robocops in Bedrängnis

Direkte Solidarität Chiapas vom 07.11.2006

 

Trotz polizeilicher Besetzung von Teilen der Hauptstadt geht der Aufstand weiter
Radio APPO erfolgreich verteidigt

Ein Arikel für den Correos sowie in gekürzer Fassung für die neue linke Wochenzeitung antidot Nr.3, November

Am Sonntag 29. Oktober ist Oaxaca, vom Boden und der Luft aus, von einem Heer von mehr als 4500 schwerbewaffneten Bundespolizisten überfallen worden. Damit hätte der seit mehr als fünf Monaten andauernde Volksaufstand niedergeschlagen werden sollen. Dabei wird die PFP vom Militär unterstützt. Die Hauptforderung der Bewegung ist die Absetzung des Gouverneurs Ulises Ruiz Ortiz (URO) und die Installierung einer wirklichen Volksdemokratie mit einer neuen Staatsverfassung. Ein Augenzeugenbericht aus dem Aufstand.

Día de los Muertos

1. November. Ich war diesen Mittag auf dem Platz bei der für den Tourismus wichtigen Kirche Santo Domingo in Oaxaca. An dem Ort also, der nach der gewaltsamen Räumung des „Zocalos« durch die Bundespolizei (PFP), von der Asamblea Popular de los Pueblos de Oaxaca (APPO), neu besetzt wurde. Es hatte sehr viele Leute, die zur selben Zeit auf diesem Platz herumspazierten oder ganz einfach, im Schatten eines Baumes, auf den Beginn einer Demonstration warteten, die in wenigen Momenten losgehen sollte. Das Ziel der Demo war der „Zocalo«, den die PFP mit Hundertschaften gegen das Volk bewacht. Die PFP soll eingekreist werden um damit zu demonstrieren, dass sie die Situation bei weitem noch nicht unter Kontrolle hat.

Ich stehe vor einer Skulptur an einer Ecke des Platzes, bestehend aus Totenköpfen mit weissen, dünnen Gewändern. Sie wirken schemenhaft und dynamisch, als würden sie herumfliegen und sie wirken gleichzeitig unglaublich traurig. Jede der Figuren ist irgendwo am Gewand mit einem Namen angeschrieben. Ich zähle 28 Namen, die Zahl der bisher in diesem Kampf Umgekommenen und Ermordeten. Über ihren Köpfen droht eine riesige Pistole, aus deren Lauf Blut läuft und am Boden befindet sich ein grosser Kartonstreifen in grün mit der Inschrift: „De Cara a la Nación«, dem Hauptslogan der Regierung Ulises. Es ist eines der eindrücklichsten politischen Kunstwerke, das ich je gesehen habe. Neben mir bemerke ich eine ältere französische Touristin. Sie weint als sie das Werk betrachtet.

1. und 2. November, „Dia de los muertos« in Mexiko. Farbenfrohe, mit Blumen geschmückte Altäre werden in den Häusern und auf den Gräbern in den Friedhöfen errichtet. Die ganze Nacht über bleiben die Familien und Freunde der Verstorbenen am Grab und legen Gaben auf die Altäre und Gräber. Geschenke an die Verstorbenen, die diese gerne hatten: Zigaretten, Bier, Mezcal, Essen, ein Buch, eine CD mit der Lieblingsmusik usw. Die Menschen glauben, dass die Verstorbenen jedes Jahr um diese Zeit auf die Erde kommen, um ihre Freunde und Familien zu besuchen und um die Leckerbissen und Getränke auf den Gräbern zu essen und zu trinken, um der Musik, die ihre Familien machen, zu lauschen oder um die Geschichten zu hören, die ihre Freunde über die Toten erzählen. Oder ganz einfach nur, um eine Nacht lang zu tanzen. Es ist ein fröhliches, teilweise ausgelassenes, aber auch besinnliches Fest, der „Dia de los muertos«. Im Norden wird er auch gefeiert, in der neoliberalen Version: Der US-amerikanische Halloween.

Vielfältiger Widerstand

Auf dem Platz des Santo Domingo, nur einige Schritte von Zocalo entfernt, sind die Altäre zur Erinnerung an die Toten, die im Kampf gegen Ulises und für die Errichtung einer Volksdemokratie gestorben sind, errichtet worden. Es ist ein Mittel, den Schmerz zu überwinden, sich gegenseitig beizustehen oder einfach nur an die Verstorbenen zu denken, sich ihnen nahe zu fühlen. Und es ist gleichzeitig auch eine von vielen Widerstandsaktionen, welche die Bewegung rund um die APPO in diesen ersten drei Tagen nach dem Überfall der PFP lanciert hat.

Als ich den Rundgang um die Altäre beendet habe, ist die Demo schon fast am Zocalo angekommen. Das ist eine andere Widerstandform. Zur gleichen Zeit werden in einer heftigen Schlacht die Barrikaden im Norden, rund um die Antennen von „Brenamiel« verteidigt. Eine weitere Widerstandsform.

Es ist heute gerade eine Menschenrechtskommission des Senats in der Stadt. Diese soll abklären, ob es beim Einmarsch der PFP Menschenrechtsverletzungen gegeben hat. Die Leute der Menschenrechtsorganisation „Red Oaxaceño de Derechos Humanos« (RODH) versuchen, diese Kommission mit dem umfassenden Material zu versorgen, dass sie bisher zusammengestellt haben. Das ist eine andere Form des Widerstandes. Menschenrechtsverletzungen hat es unzählige gegeben. Die PFP macht illegale Hausdurchsuchungen, verschleppt Leute und foltert diese auch.

Und wenn wir von Widerstand reden, dürfen wir natürlich Radio Universität nicht vergessen, das mit Barrikaden, die an ein Fort erinnern, geschützt wird. Radio Universität ist einer der Angelpunkte in diesem Kampf. Von da aus läuft die Koordination, die Vermittlung von Alarmsituationen und vor allem ist es auch das zentrale öffentliche Diskussionsforum. Über Radio Universität konnte sich eine breite Öffentlichkeit ein Bild über die Ereignisse am Sonntag verschaffen. Das hatte mobilisierende Wirkung. Dies, weil in Radio Universität berichtet wurde, wie die Frauen und Männer gegen die PFP gekämpft haben, diese einige Male zurückgeschlagen hatten, dass die APPO nach wie vor existiert und Widerstand leistet. Laut den offiziellen Medien ist ja alles in Butter und es herrscht Frieden in der Stadt.

Die Strategie der APPO ist folgende: Wichtige Punkte möglichst lange verteidigen, ohne sich zu verheizen. Wenn eine Barrikade aufgegeben werden muss, soll ein günstiger Moment abgewartet werden, um diese wieder aufzubauen. Gleichzeitig sollen möglichst viele Mobilisierungen, kleine, grosse und mittlere stattfinden, um die PFP auf Trab zu halten. Jeden Tag sollen Demos zu den PFP-Kontingenten gehen und die Polizisten auch mit Information versorgen. Das ist eine Zermürbungstaktik, die darauf zielt, dass einige Polizisten desertieren. Gleichzeitig ruft die APPO zu landesweiten und internationalen Mobilisierungen auf. In den sieben Regionen von Oaxaca haben schon verschiedene Unterstützungsaktionen stattgefunden und diese sollen weiter ausgedehnt werden. In den nächsten Wochen soll zudem eine Reihe von Konferenzen stattfinden, die wichtigste beginnt am 10. November: Der offizielle Gründungskongress der APPO, zu dem alle interessierten Gesellschaftssektoren aufgerufen sind.

Die Mafia um Ulises Ruiz klammert sich an die Macht

Und natürlich ist da auch die andere Seite. Die Oberschicht, die so lange auf den Einsatz der PFP gewartet hat und die Ulises unterstützt. Ulises selber hat kürzlich gesagt, dass er nicht zurücktreten werde, weil die APPO ja nur aus einer kleinen Minderheit von 3500 Leuten bestehe. Am 31. Oktober mobilisierten die Getreuen um Ulises für eine Grossdemo zur Unterstützung der PFP und für den Verbleib von Ulises. Nun, diese Grossdemo konnte gerade einmal zweitausend Leute zusammenbringen. Angesichts dieses Misserfolges versuchten sie es tags darauf ein weiteres Mal. Ich habe mir persönlich ein Bild verschafft (mit der nötigen Distanz). Keine sechshundert Leute sind dem Aufruf gefolgt. Diese Leute können einem aber dennoch tatsächlich erschrecken. Da schreit einem der althergebrachte lateinamerikanische Faschismus à la Pinochet entgegen. Da mobilisiert sich der reine und dumme Hass, der faschistische Mob, zu allem bereit, koste es was es wolle. Im Anschluss an die Demo haben diese „Getreuen« von Ulises einige Brigaden gebildet, um uliseskritische Graffitis zu übermalen, natürlich begleitet von einer Grosszahl der anwesenden Medien. Es war ein lächerliches Bild, aber auch vielsagend: Die Oberschicht hat tatsächlich noch nicht begriffen, dass man ein real existierendes Problem nicht einfach mit Farbe, mit „Facelifting«, zum Verschwinden bringen kann.

Am 1. November ist in der Presse (Noticias und Excélsior) die folgende Schlagzeile zu lesen: „Murat y URO no han comprobado 92mmdp«. Auf deutsch: „Murat und Ulises Ruiz Ortiz (URO) können oder wollen 92tausend Millionen Pesos buchhalterisch nicht belegen.« Zuerst die Übersetzung für diejenigen, die nicht gewöhnt sind, mit grossen Geldbeträgen zu jonglieren: 92-tausend Millionen Pesos sind umgerechnet 9 Milliarden US-Dollar. Um was geht es bei dieser Meldung? Murat war der Vorgänger und politischer „Ziehvater« von Ulises. Diese beiden Männer erhielten und erhalten jedes Jahr von der Bundesregierung Gelder, die zur Verwendung im Bundesstaat bestimmt sind. 9 Milliarden Dollar sind in einem der ärmsten Bundesstaaten Mexikos ein Haufen Geld. Dieses Geld ist auf eigenartige Weise einfach aus der Buchhaltung von Murat und Ulises verschwunden. Davon entfällt auf die bisherige offizielle Amtszeit von Ulises von knapp zwei Jahren die bescheidene Summe von 3 Milliarden Dollar, die er demnach nicht belegen will. Oder, wie die APPO und die Indígena-Gemeinden zu Recht sagen: „Dem Volk raubte.« Diese Pressemeldung ist nicht aus der Luft gegriffen. Das ist das Teilergebnis einer Buchhaltungsprüfung welche die Bundesregierung vornehmen wollte und wegen vorenthaltenen Buchführungsbelegen nicht durchführen konnte. Um sich die ganze Dimension der Korruption vor Augen zu führen, muss hier noch gesagt werden, das sich diese Zahlen nur gerade auf einen Teil der Staatsgelder bezieht. In Tat und Wahrheit sind es weit grössere Beträge, diese sind bisher aber noch nicht ins Scheinwerferlicht gerückt worden.

Und es ist kein anderer als Ulises, der seit Wochen wiederholt, dass er in Oaxaca den Rechtsstaat wiederherstellen wolle. Natürlich meint er damit nicht eine Art von Justiz gegen sich selber zu schaffen, sondern diejenigen zum Schweigen zu bringen, die ihn bei seinen Aktivitäten im organisierten Verbrechen stören. Ein Teil der geraubten Gelder sind mit grosser Sicherheit in Europa angelegt oder verwahrt. Gerüchteweise besitzt Ulises in Spanien (Barcelona) ein oder mehrere Hotels, die er während seiner Amtszeit gekauft hat. Dieser Hintergrund verdeutlicht sehr schön um, was es in diesem Konflikt geht, nämlich um viel Geld und um Interessen auf höchstem Niveau. Ein paar Tote Aktivisten und Aktivistinnen sind dabei in der Spesenabrechnung selbstverständlich unter diverse kleinere Kosten aufgeführt.

Dennoch deutet vieles darauf hin, dass die Bewegung schlussendlich gewinnen wird. Das kann noch eine gewisse Zeit dauern, aber Oaxaca wird nie mehr so sein wie es war. Der Zerfallsprozess des bestehenden Systems hat unaufhaltbar begonnen. Die Unterstützung ist sehr breit und auf dem Land haben schon unzählige Gemeinden ihre lokalen APPOS gegründet. Man darf aus guten Gründen hoffen, dass die oben erwähnte kriminelle Misswirtschaft bald ein Ende haben wird.

RAFA (Salina Cruz, Oaxaca)


Quelle:
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