Oaxaca-Ticker 23.11.06

Zusammenfassende Analyse

Direkte Solidarität Chiapas vom 23.11.2006

 

Ich versuche hier eine kurze Einschätzung zur Situation in Oaxaca zu machen ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Das Problem ist, dass in Oaxaca ein ziemliches Chaos herrscht. Hier verändert sich die Situation von Minute zu Minute. In den letzten Tagen gab es verschiedene Situationen, die an einen Bürgerkrieg erinnerten. Es ist ziemlich schwierig alle Infos zu sammeln und vor allem zu prüfen, weil es verschiedene "Fronten" sind, wo gekämpft wird. Die Desinformation hat ein Niveau erreicht, auf dem niemand genau weiss, was wirklich wahr ist und was nicht. Die Entropie der alten Staatsstruktur ist gross und diese muss jeden Tag mehr Gewalt anwenden um nicht im strukturlosen "Nichts" zu enden. Es ist die typische Situation, in der alte Strukturen zerfallen, um Schritt für Schritt in neuen auf zugehen ohne dass jemand genau weiss, wie diese aussehen werden. So organisieren sich die PRI-Anhänger im Schatten der Bundespolizei (PFP) offensichtlich neu und treten nun öffentlich ziemlich "rabiat" und gewalttätig auf und ihre "Konvois des Todes" operieren fast schon als offizielle Einheit. Die Bundesregierung hat offensichtlich entschieden mit allen Mitteln Ulises zu stützen, das heisst mit militärischer Gewalt und Repression und mit viel Geld. Die Mediensperre, die erhoben wurde, ist fast hundertprozentig. Ausserhalb der Stadt kommen keine Infos mehr über Oaxaca, mit Ausnahme des satellitengestützten Radios des Unternehmers Lopez Leña, welches am Morgen immer recht informative Nachrichten verbreitet. Radio Universidad wird nach wie vor von massiven Störsignalen geplagt, hält aber konsequent durch und informiert fast rund um die Uhr.

Kurz gesagt, es ist eine sehr schwierige Situation und die Stimmung ist wirklich bis aufs letzte angespannt. Die Regierung Ulises schickt von Zeit zu Zeit Reden zur Lage in Oaxaca als bezahlte Werbespots über den Fernseh-äther. In diesen wird immer und immer wieder das gleiche wiederholt:

Es läuft alles ganz normal in Oaxaca, das Problem sei gelöst weil die Lehrer wieder in den Schulen seien. Zudem werde die Regierung in Kürze alle Probleme angehen, die über den Konflikt zu Tage getreten seien. Diese Werbespots sind ganz offensichtlich an ein Publikum gerichtet, das ausserhalb von Oaxaca lebt, weil es hundertprozentig mit der Realität kontrastiert.

Ein Grossteil der LehrerInnen ist zwar in Ihre Dörfer zurückgekehrt, aber viele von ihnen sind mit Repressalien konfrontiert und in vielen PRI-dominierten Gemeinden wurde ihnen der Zutritt verwehrt. Nachdem die PRI-isten und Ulises während Monaten die Rückkehr der Lehrer in die Aulen gefordert hatten, sind es nun dieselben PRI-Anhänger, die jetzt diese Rückkehr verhindern. Die Hotelbesitzer und Kleinunternehmer, welche am lautesten nach einer Intervention der Bundespolizei (PFP) gerufen hatten, beginnen dies nun zu bereuen. So forderte der Verband von 42 Hoteliers vor einigen Tagen, dass die PFP sich möglichst schnell zurückziehen solle. Nun, ihnen ist schlussendlich doch noch aufgefallen, dass ein militärisch besetztes Stadtzentrum nicht gerade die Attraktion ist, welche die Touristen anziehen wird. Ausserdem hat es sich auch schon im Ausland, speziell in den USA, herumgesprochen, dass die PFP auch Frauen sexuell bedroht und attackiert. All dies ist für die Wiederbelebung des Tourismus abträglich.

Und all dies war schon vor der gewalttätigen "Ankunft" der Bundespolizei voraussehbar. Aber in den 185 Tagen, seit dieser Konflikt andauert, hat sich die Oberschicht von Oaxaca immer wieder durch offensichtlichen Mangel an Intelligenz hervorgetan. Diesen Mangel kompensiert sie dafür unaufhörlich mit einer nicht zu überbietenden Arroganz. Es braucht schon fast eine übermenschliche Anstrengung, nicht am gesunden Menschenverstand dieser Unternehmer zu zweifeln.

Die PFP, die sie gerufen haben, kriegen sie so schnell nicht wieder aus der Stadt und schon gar nicht mit simplen Appellen. Für die Bundesregierung ist Oaxaca zum nationalen Sicherheitsrisiko geworden und dieses Risiko will sie beseitigen, koste es was es wolle. Calderon wird ganz zu Anfang seiner Amtszeit am Beispiel Oaxaca aufzeigen wie er Mexiko regieren wird: Mit Repression, mit militärischer Gewalt, mit Medienkontrolle und mit Geldangeboten. Kurz, mit einer Art Militärdiktatur, die medial im In- und Ausland als neue Demokratie verkauft werden wird. Der gestern vorgestellte erste Teil seines Kabinetts ist eine Kriegserklärung an die mexikanischen Unterschichten, eine Kriegserklärung an die Mehrheit also. Dieses PRIAN-Kabinett wird weit herum als reines neoliberales Ökonomiekabinett wahrgenommen und kritisiert. Calderon zögerte nicht einmal Luis Téllez, den ehemaligen Sub-Sekretär für Landwirtschaft unter Salinas Gortari und späteren Staatssekretär für Energie unter Ernesto Zedillo, zu berufen.

In Oaxaca hat dieses Kabinett grosse Interessen zu wahren. Der Plan Puebla Panama wartet nach wie vor darauf, im grossen Massstab umgesetzt zu werden. Calderon und Ulises haben einen gemeinsamen Nenner, sie wollen den Ausverkauf der verschiedenen Ressourcen verstärken.

Dem gegenüber steht nun in Oaxaca die APPO, die nichts anderes repräsentiert als die organisierten Unterschichten und Indígena- Gemeinden. Das Gründungsdokument der APPO macht deutlich, dass sie gegen den geplanten neoliberalen Ausverkauf von Oaxaca und Mexiko kämpfen wird und die Pläne von Calderon und Ulises mit Entschlossenheit unterbinden will. Und die APPO hat während den letzten drei Monaten klar gemacht, dass sie ernst zu nehmen ist. Es wird also weder für Ulises oder Calderon, noch für die Restbestände der PRI leicht sein, ihre Pläne umzusetzen.

In diesem Umfeld finden in Oaxaca nach wie vor täglich Demonstrationen gegen die PFP und Ulises statt. Die Repression nimmt aber auch jeden Tag zu und es ist offensichtlich, dass sowohl Ulises wie die PFP auf die Möglichkeit hinarbeiten, ein Massaker zu veranstalten. Währenddessen übt sich die Bundespolizei mit zweifelhaftem Erfolg in der Niederschlagung der täglichen Demonstrationen. So zögerte sie vor einigen Tagen nicht, eine Demonstration von Frauen und Kindern mit Tränengas zu beschiessen. Die Demo fand statt, um gegen die sexuelle Gewalt durch die PFP gegen Frauen in Oaxaca zu protestieren.

Am 20.11., am Gedenktag der mexikanischen Revolution, fand im Stadtzentrum ein vierstündiger, extrem heftiger, Strassenkampf statt, der begann, als die PFP eine Demonstration der APPO angriff. Während dieser Auseinandersetzung trat innerhalb der APPO erstmals ein Widerspruch offen zutage, der latent schon einige Zeit besteht. Die jungen Leute, allen voran die Studentinnen und Studenten, bezweifeln immer stärker, dass der pazifistische Weg unter allen Umständen eingehalten werden soll. Angesichts der offenen Repression der PFP, der Verschleppung ihrer Leute, der sexuellen Gewalt gegen Frauen durch die PFP und der ständigen bewaffneten Angriffe der PRI-Schergen wollen sie sich konsequenter und offensiver verteidigen und wollen sich nicht mehr als pazifistische Zielscheiben zur Verfügung stellen. Am Montag, während des Strassenkampfes, forderte die APPO die Strassenkämpfer und -kämpferinnen auf, sich zurückzuziehen, worauf sich eine heftige verbale Auseinandersetzung zwischen diesen Fraktionen entwickelte. Glücklicherweise konnten im Nachfeld diese Widersprüche über das Radio offen diskutiert werden und somit ein vorübergehender Konsens erzielt werden. Aber der Widerspruch ist latent und gerade in der öffentlichen Diskussion wurde klar, dass die Studenten und Studentinnen auch starken Rückhalt in der Bevölkerung für ihre Position finden. Ganz anders in den Reihen der Studentinnen und Studenten der Jura-Fakultät. Diese wollen mehrheitlich nichts mit dem Konflikt zu tun haben und weigern sich bisher, sich an den Kämpfen zu beteiligen. Kurz, die Mehrheit der Studenten und Studentinnen verhält sich bisher unpolitisch. Die PFP könnte dies aber bald ändern, weil sie die Studenten und Studentinnen der Jura- Fakultät ständigen Kontrollen aussetzt, ständig Verhaftungen von Unbeteiligten vornimmt und Frauen sexuell belästigt. Der Direktor der besagten Fakultät mobilisierte heute aus diesen Gründen seine Studenten und Studentinnen für eine Demonstration gegen die PFP und für die Verteidigung der autonomen Universität.

Die anderen APPO-Fraktionen sind sehr beunruhigt, dass ein Massaker stattfinden könnte und rufen alle auf, sich auf keine Provokationen einzulassen und selber alle Provokationen zu unterlassen. Diese Fraktion macht mit Recht darauf aufmerksam, dass sich auch Gruppen der PRI in die Demos infiltrieren und mit allen Mitteln ein Massaker provozieren wollen.

In der Realität ist die APPO so stark wie nie zuvor, dies manifestiert sich im Moment aber etwas weniger auf der Strasse, als in Organisationsaufgaben. Letztes Wochenende traten verschiedene weitere Organisationen und Gemeinden in der Sierra Norte der APPO bei, was ein wichtiger Schritt für deren Aufbau und für Ulises den Verlust einer wichtigen Region bedeutet. Auch in der "Sierra Sur" und im "Gebiet Mixe" haben sich lokale APPO’s gebildet. Falls es der APPO gelingt, die Einheit zu wahren, kann sie aus guten Gründen hoffen, aus diesem Kampf schlussendlich siegreich hervor zugehen.

Für den 25. November ist eine Grossdemonstration geplant, wo geplant ist, die PFP während zwei Tagen einzukreisen und damit den Druck für deren Abzug zu erhöhen. Am Abend des 23. November besetzte die APPO für kurze Zeit das Radio Ley und zwang die anwesenden Radiomitarbeiter, ihnen einen Sendezeit zu geben, in der sie berichteten, dass die APPO keineswegs tot sei, wie das die Medien von Ulises behaupten, und zu dieser Demo am Samstag aufriefen. Radio Ley ist in Grossteilen des Bundesstaates Oaxaca zu hören.


Quelle:
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