EZLN auf dem Seminar "Gegenkräfte Erzeugen, von Unten und nach Links"

in San Cristóbal.

La Jornada vom 05.01.2007
Hermann Bellinghausen
übersetzt von: Dana

 

San Cristóbal de las Casas, Chiapas. 4. Januar. Oberstleutnant Moisés erinnert sich, dass die aufständischen Zapatisten in 1994 etwas entdeckten, das sie nicht geplant hatten: "Da wir in die Öffentlichkeit treten, werden wir uns auch regieren müssen". Während seiner Teilnahme an dem Seminar für politische Diskussion "Gegenkräfte von Unten und nach Links Erzeugen", das in San Cristobal abgehalten wurde, beschrieb der Zapatistische Offizier mit umgangssprachlicher Klarheit, wie die Praxis des gehorchenden Regierens in den rebellischen Gemeinden in den Bergen von Chiapas umgesetzt wurde.

"Widerstand bedeutet nicht nur, die Brotkrumen der Regierung nicht anzunehmen. Es bedeutet auch, Bedrohungen und den politischen und ideologischen Bombardierungen in den Medien standzuhalten", erklärte Moises vor den mehr als 200 Teilnehmern des akademischen Seminars weiter, das im Gebäude der Universidad de la Tierra (des CIDECI), nahe San Cristóbal stattfand. Weiterhin vertreten waren alle Autoritäten der autonomen Landkreise, die Repräsentanten der fünf Juntas der Guten Regierung (JBG), und einige zapatistische Unterstützungsbasen.

Organisiert von den Zeitschriften Contrahistorias und Revista Rebeldía, dem Zentrum Immanuel Wallerstein und der EZLN selbst, glänzte die Veranstaltung mit der Teilname von Subcomandante Marcos, der Forscher Mercedes Olivera, Andrés Aubry, Carlos Aguirre Rojas und Sergio Rodríguez Lascano, Oberstleutnant Moisés, sowie mehr als 10 Kommandanten und Kommandantinnen der EZLN. Im weiteren Verlauf entwickelte sich der Seminar zu einer akademischen und intellektuellen Veranstaltung voller Kritik an die dominanten akademischen und intellektuellen Sektoren ("Bürokratien", wie Aubry sie nennt), die im strikten Sinn des Wortes auch nicht als "antiintellektuell" bezeichnet werden könnten.

Mit der Präsenz eines wirklichen "politischen und sozialen Handelnden", die vollständig versammelte zapatistische Regierung (die Beauftragten der Praxis), war das Seminar genau so erstaunlich, wie alles, was in den vorhergehenden Tagen im Caracol von Oventic zu sehen und zu hören gewesen war. Ernste Herausforderungen wurden gestellt: Wie kann die Macht ausgeübt werden, ohne von ihr vereinnahmt zu werden? Wie können wissenschaftliche Forschung und akademische Arbeit außerhalb der institutionellen Schutzhülle betrieben werden? Wie lassen sich die Waffen der wissenschaftlichen Theorie in soziale Tatsachen und Veränderungen verwandeln?

Der Historiker Carlos Aguirre Rojas rief dazu auf, die verschiedenen Formen und Ebenen der Macht und der Gegenmächte "aufzuschlüsseln". Man müsse sich eine neue Form sie zu sehen aneignen, "die die mexikanischen Neozapatisten seit Jahren verteidigen", und in die Implikationen dieser "Revolution der Machtverhältnisse" einzudringen, die im Prinzip des "gehorchenden Befehlens" beinhaltet sind, um eine "neue Politik" zu fordern, die sich von der gegenwärtigen radikal unterscheidet.

Die dem Zapatismus nahe stehende Forscherin und Feministin Mercedes Olivera, die in der Vergangenheit Kritiken über einige Haltungen der Rebellen geäußert hatte, erklärte sich tief beeindruckt von den Ergebnissen im Bereich der Schulbildung, der Mentalität, und dem praktischen Effekt der autonomen Regierungen, mit der wachsenden und unaufhörlichen Beteiligung der Indigenas.

Der Anthropologe und Historiker der zapatistischen Bewegung Andrés Aubry, beflügelt von der Anwesenheit der rebellischen Regierungen in der Veranstaltung, richtete eine scharfe Kritik gegen die gewohnte Praxis der sozialen Wissenschaftler auf der ganzen Welt, die nicht nur bürokratisch sondern unethisch und opportunistisch sei. Er warf diesen vor eine "intellektuelle Plünderung" der Kenntnisse und des Wissens der Völker, die sie studieren zu betreiben, für Zwecke, die diesen Völkern selbst völlig fremd sind.

"Ohne eine Revolution der Akademie ist eine andere Sozialwissenschaft undenkbar, deren Schwerpunkte von unten diktiert werden, und von Menschen von unten, zu ihrem eigenen Nutzen betrieben und geführt wird. Nicht von der akademischen Klasse, dem SIN, dem Conacyt und anderen intellektuellen Bürokratien programmiert, sondern von sozialen Akteuren. Nicht als Studienobjekte, sondern als Anwender unserer Studien". Die Experten hätten dabei "auf kommunitäre oder interkommunitäre Ebene, ländlich oder städtisch, einen Auftrag und eine Verpflichtung auszuführen, wobei sie zuhörend forschen und forschend lösen müssten, "so wie die zapatisten gehorchend befehlen, und der freirianische Meister (in Bezug auf Paulo Freire), lernend unterrichtet".

Sergio Rodríguez Lascano hinterfragte die "Furcht der linken Intellektuellen", die Bedeutung realer Bewegungen anzuerkennen, wie die der Zapatisten, des derzeitigen Aufstandes in Oaxaca, oder der postelektoralen Unzufriedenheit (die fälschlicherweise einer politischen Kuppel untergeordnet wird, die sie ausnutzt). Er berief sich auf Mariátegui um die "heldenhafte Erschaffung des Sozialismus" zu beschreiben, die die zapatistische Autonomie leistet.

Die Forscher beriefen sich auf Gramsci, Holloway, Negri, Braudel, Zibechi, die Thesen über Feuerbach und die Grundrisse von Marx, stets unter Einbeziehung der sehr objektiven Präsenz einer vollständig anwesenden indigenen Regierung.

Zum Abschluss las Subcomandante Marcos eine Geschichte vor, mit Elías Contreras und seinem transsexuellen Freund Magdalena als Hauptfiguren, und dem Leitmotiv eines fallenden Sterns, dessen Niedergang über dem kalifornischen Meer, von einem Seri Häuptling mit einem Tanz geehrt wird. Die sich daraus entspinnende Nacherzählung der Schöpfungsmythen der Welt führt letztlich zu der Feststellung: "die Schnecke kriecht nicht langsam, sie folgt nur einer anderen Zeit".

 

Quelle: https://www.jornada.com.mx/2007/01/05/index.php?section=politica&article=012n1pol


 

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