Autonomie praktizieren
Die zapatistische Mobilisierung für eine andere Gesellschaft
junge welt vom 12.01.2007 | |
Luz Kerkeling, Chiapas |
Seit Beginn ihrer Rebellion am 1. Januar 1994 hat die Zapatistische Armee zur nationalen Befreiung (EZLN) mit ihrem »¡Ya Basta!« wie kaum eine andere Organisation dazu beigetragen, den sozialen Bewegungen in Mexiko und der Welt emanzipatorischen Mut und kreative Impulse zu geben − allem Gerede von einem angeblichen »Endes der Geschichte« zum Trotz. Der EZLN geht es um horizontale Bündnispolitik und gemeinsame Umsetzung politischer Prozesse. Im Gegensatz zu den politischen Projekten in Venezuela oder Bolivien schließen sie den parlamentarischen und staatsorientierten Weg für sich aus. Die Zapatistas kämpfen für eine Gesellschaft, in der Platz für alle ist. Doch ein Erfolg des einfach klingenden, aber doch hochkomplexen zapatistischen Vorschlags einer linken Politik »von unten für unten« ist permanent bedroht und von zahlreichen Variablen abhängig.
Weltweit bekannt und viel rezipiert sind die Ideale der zapatistischen Befreiungsbewegung aus Südmexiko. Vereinfacht zusammengefaßt lauten ihre Vorschläge und Forderungen: Grundversorgung für alle, Selbstverwaltung statt Lohnsklaverei und Fremdbestimmung, respektvolles Miteinander statt Marginalisierung, Gemeinschaftsprojekte bei gleichzeitiger Respektierung der Unterschiede, reale Partizipation statt Bevormundung, indigene Autonomie, Förderung der Frauen, Schluß mit jeder Art von Unterdrückung und Ausbeutung, kollektives Entwerfen emanzipatorischer politischer Schritte (»fragend gehen wir voran«), Konsens- statt Mehrheitsentscheidungen, Basisbefragungen, permanente Reflexion und Selbstkritik − zusammengefaßt in der Parole »Alles für alle!«
All das hat die EZLN keineswegs selbst erfunden, sondern in über 20 Jahren gemeinsam mit ihren Unterstützern und anderen Bewegungen erarbeitet. Zudem hat sie bewiesen, daß sie vergangene und aktuelle linke Bewegungen genau analysiert und für Kritik offen ist.
Ihren eigenen hohen Ansprüchen kann die Bewegung dabei keinesfalls immer genügen. Gerade Kritik von Frauenorganisationen oder Solidaritätskollektiven wurde in der Vergangenheit nicht immer angemessen zur Kenntnis genommen. Hier ist jedoch anzumerken, daß zu Auseinandersetzungen immer zwei Seiten gehören, und daß auch gut gemeinte Ratschläge in Paternalismus umschlagen können. Die große Skepsis der Zapatistas erklärt sich dadurch, daß die Indigenen allzu oft in ihrer Geschichte »von außen« schlecht beraten und letztlich mißbraucht oder weiter marginalisiert wurden.
Entwicklungen im Aufstandsgebiet
Auf dem internationalen »Treffen zwischen den zapatistischen Gemeinden und den Völkern der Welt«, das vom 30. Dezember 2006 bis 2. Januar 2007 in Oventik, Chiapas, stattfand, benannten die zapatistischen Rednerinnen und Redner neben »bescheidenen Erfolgen« immer wieder in seltener Offenheit auch Unzulänglichkeiten und Fehler.
232 zivile Mandatsträger berichteten vor über 2000 Teilnehmern aus 48 Staaten von der Entwicklung des Autonomieprozesses. Josefina und Miguel unterstrichen für den Rat von Roberto Barrios: »Wir sind in der Lage, uns selbst zu regieren, der Bevölkerung zu dienen, unsere eigenen Entscheidungen und Vereinbarungen zu treffen, Vorschläge zu machen und selbst zu denken.« Sie erklärten, daß die zapatistischen Ratsmitglieder für ihre Arbeit keinerlei Gehalt bekommen. »Wir Zapatistas sind frei, uns zu organisieren, uns selbst zu regieren und Entscheidungen auf unsere Art zu treffen, ohne daß wir kapitalistische Ideen berücksichtigen müssen. Darauf basiert die Idee, eine neue Gesellschaft zu schaffen und einen neuen Kampf zu führen.«
In den rebellischen Gebieten konnten die Zapatistas vor allem durch ihre relativ stringente interne Organisierung − die keineswegs ideal funktioniert und für die jeweiligen Amtsträger eine hohe Belastung bedeutet −, aber auch wegen der großen nationalen und internationalen Solidarität, die sie als ihre »dritte Schulter« bezeichnen, überleben.
In den Hochburgen hat die zapatistische Selbstverwaltung seit 1994 − trotz aller externen und internen Probleme − beachtliche Fortschritte erreicht. Ohne jegliche Regierungshilfe begannen sie, Gesundheitsversorgung, Bildung, Landwirtschaft, lokalen Handel, Kultur und Verwaltung in Eigenregie zu organisieren, was trotz der immensen Belastungen durch Militärbesatzung, Übergriffe der Paramilitärs und Spaltungsversuche einigermaßen funktioniert. Viele Gemeinden gründeten auch Kooperativen, um Kunsthandwerk oder biologisch angebauten Kaffee über den alternativen Handel zu vertreiben. Innerhalb der verschiedenen Regionen bilden sich die Verantwortlichen der jeweiligen Sektoren weiter und tauschen tradiertes Wissen und neu gewonnene Kenntnisse aus.
Überregional koordinieren sich die Zapatistas seit 2003 über ihre fünf Caracoles (dt.: Schneckenhäuser). Dabei handelt es sich um Logistikzentren, in denen sich neben großen Versammlungshallen, Läden, Werkstätten, Kultureinrichtungen oder Sportplätzen auch kleine Hospitäler befinden. In den Caracoles sind jeweils mehrere autonome Landkreise zusammengeschlossen.
Die fünf aufständischen Regionen der Zapatistas werden von den Caracoles aus von fünf »Räten der Guten Regierung« selbstverwaltet. Mehrere gewählte Belegschaften rotieren dabei innerhalb eines solchen Rates. Die Räte fungieren einerseits als Außenkontakt und sollen andererseits die Entscheidungen der Basis umsetzen− getreu dem zapatistischen Motto des »mandar obedeciendo« (»gehorchend Befehlen«). Funktionsträger, die im Sinne ihrer Basis nicht zufriedenstellend arbeiten, können, wie auch bisher auf Gemeinde- und Landkreisebene, jederzeit abgesetzt werden. Zuvor stellten die autonomen Landkreise die höchste zivile Organisationsebene dar. Parallel zur Gründung der Räte zog sich die EZLN als politisch-militärische Struktur weiter aus dem zivilen Leben ihrer Unterstützer zurück. Mit den Caracoles hat die zapatistische Autonomie ein neues Niveau erreicht. Die Zapatistas praktizieren so die Abkommen von San Andrés über indigene Selbstverwaltung, die von der mexikanischen Regierung und EZLN 1996 unterzeichnet, von Regierungsseite jedoch nie umgesetzt wurden.
Die Zugehörigkeit zur Unterstützungsbasis der EZLN bedeutet für die Menschen also nicht nur Verzicht, Angst, schwierige Bedingungen und hohe ethische Ansprüche an sich selbst, sondern eine reale soziale Alternative, die vor allem mit der Fortführung der De-facto-Autonomie an Attraktivität gewinnen kann.
Die »Andere Kampagne«
Seit Mitte 2005 läuft die von der EZLN in ihrer »Sechsten Deklaration aus dem Lakandonischen Urwald« angeregte antikapitalistische »Andere Kampagne« (»La otra campaña«). Die in Abgrenzung zu den Wahlkampagnen der politischen Parteien so bezeichnete Mobilisierung hat nichts Geringeres zum Ziel, als in einem mehrjährigen Prozeß das gesamte Land auf den Kopf zu stellen. Ohne die moralische Autorität der EZLN, die vor allem in den partiellen Errungenschaften für ihre soziale Basis im südlichen Chiapas begründet liegt, wäre ein Bündnis wie die Otra Campaña unrealisierbar. Keiner anderen radikalen linken Organisation in Mexiko wäre es möglich gewesen, so viele Gruppen in einer Allianz zu versammeln. Die »Andere Kampagne« soll zu einer außerparlamentarischen Massenbewegung »von unten und für unten« (EZLN) wachsen, die die marginalisierten Bevölkerungsgruppen in Mexiko zusammenbringt, um schließlich eine neue Verfassung für das Land zu erarbeiten und durch zusetzen.
Die Übernahme der Staatsmacht wird strikt abgelehnt. Angestrebt wird eine andere Form des Politikmachens. Bisher wird die Otra, wie sie von den Aktivisten kurz bezeichnet wird, von über 1000 Organisationen, Gruppen und Kollektiven getragen. Darunter finden sich kleine unabhängige Gewerkschaften, Frauengruppen, Umweltaktivisten, indigene Gemeinden und Organisationen, Lehrer, Studenten, Dozenten, Aktivisten alternativer Medien, Künstler, Kommunisten, Sozialisten, Anarchisten, Arbeiter aus Stadt und Land. Auch Stadtteile, Familien und Einzelpersonen − Menschen ohne »klassische« Organisation − sind Teil der Bewegung, was eine große Bereicherung darstellt.
Seit Beginn der Otra hören sich Menschen, die vorher nichts voneinander wußten, zu und vernetzen sich. »Du bist nicht mehr allein! Du bist jetzt Wir«, so brachte EZLN-Sprecher Subcomandante Marcos den zentralen Aspekt der Kampagne in der ersten Phase auf den Punkt. Auf diese Weise wurden zahlreiche, zuvor unbeachtete Widerstandsgruppen im ganzen Land bekannt.
Im Laufe der kommenden Jahre sollen die mexikanischen Herrschaftseliten durch autonome Organisierung, Streiks, Protest- und Blockadeaktionen, unabhängige Informations- und Kulturarbeit, Schaffung von Freiräumen sowie gegenseitige Unterstützung bei Repression in die Knie gezwungen werden.
EZLN und die Linke
Die etablierte politische Klasse des Landes, auch der von den Massenmedien als »links« bezeichnete Expräsidentschaftskandidat An drés Manuel López Obrador und seine Partei der Demokratischen Revolution (PRD), die die benachteiligte Bevölkerung mit sozialdemokratischer Rhetorik gezielt in die Irre führen, sind explizit von der Teilnahme an der Kampagne ausgeschlossen worden. Auch wenn die PRD von der Otra massiv kritisiert wird, da sie das neoliberale Projekt weiterführe und für Korruption und Repression verantwortlich sei, gesteht die EZLN ein, daß Obrador durch einen Betrug um seinen Sieg bei den Wahlen vom 2. Juli 2006 gebracht wurde. Gemäßigte Linke und Journalisten hatten der EZLN wiederholt vorgeworfen, für die Wahlniederlage des Kandidaten mitverantwortlich zu sein und so der nationalen Linken geschadet und der Rechten unter dem zukünftigen Präsidenten Felipe Calderón von der rechtskonservativ-neoliberalen Partei der Nationalen Aktion PAN in die Hände gearbeitet zu haben. Diese Anschuldigung ist indes unzutreffend, da die Otra immer betont hatte − auch gegenüber den eigenen Unterstützern −, es stehe allen frei, zu wählen oder nicht. Die Aktivisten hatten allerdings zu Recht betont, daß sich durch einen Wahlsieg der PRD nichts substantiell ändern würde, und es ihnen vielmehr um gesellschaftliche Selbstorganisierung gehe.
Auch wenn innerhalb der Otra eher nach Gemeinsamkeiten als nach Spaltungsgründen gesucht wird, herrscht innerhalb der Kampagne keineswegs immer eitel Sonnenschein. Das hat verschiedene Gründe: Neben in der Linken leider nur allzu bekannten Problemen wie Sektiererei, Eitelkeiten, Dominanzgehabe, Machismus, heuchlerischen Versprechungen, Bestechungen und Intrigen gibt es reale organisatorische Schwierigkeiten: Die »Andere Kampagne« hat den Anspruch, daß niemand ausgeschlossen wird. Es geht den Aktivsten nicht um Mehrheitsentscheidung und Kaderbildung. Nach über einem Jahr Aufbauarbeit steht so noch immer die Frage im Raum, wie in Zukunft auf gerechte, d. h. basisdemokratische und gleichzeitig effektive Weise (es sollen alle erreicht werden) Entscheidungen getroffen werden können. Hier wird neben regelmäßigen Treffen eine starke Nutzung alternativer Medien diskutiert (vor allem via Internet), was jedoch insbesondere in ländlich-indigenen Gebieten ein Problem darstellt. Seit Anfang Dezember 2006 findet eine umfassende interne Befragung statt, auf deren Grundlage im Frühjahr 2007 eine landesweite Organisationsstruktur entstehen soll. Aus den bisherigen Umfrageergebnissen geht hervor, daß eine gut kommunizierte Netzwerkstruktur aufgebaut werden soll, bei Wahrung der Autonomie der Mitgliedsgruppen.
Ein weiteres Problem ist, daß es nach der 71jährigen autoritären Herrschaft der Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) eine dominante politische Kultur zu durchbrechen gilt, die nahezu alle Gesellschaftsbereiche geprägt hat: Immer gab es »oben« einen Zuständigen. So kam es auch bei der Delegationsreise der Otra, die 2006 durch das ganze Land führte und an der auch EZLN-Sprecher Subcomandante Marcos teilnahm, immer wieder dazu, daß die EZLN oder gar Marcos gebeten wurden, die lokalen Probleme zu »regeln«. Die Kampagne betonte jedoch stets, daß die Zapatistas keinerlei Führungsanspruch erheben. Vielmehr gehe es darum, »daß die Menschen auf sich selbst vertrauen«.
Vor allem im Norden Mexikos sind die Aktivisten mit einem weiteren Hindernis konfrontiert, wie die Anwältin Luz María aus Tamaulipas berichtet: »Die Menschen hier wollen ihre Lebenssituation verändern. Aber sie haben wahnsinnige Angst vor dem Drogenbusineß, das hier alles dominiert. Dadurch herrscht bislang eine schreckliche Apathie. Aber wir machen weiter«.
Perspektiven
Aktuell kämpfen die Aktivisten weiter für die Freilassung aller politischen Gefangenen und solidarisieren sich mit dem Protest der Bevölkerung im Bundesstaat Oaxaca gegen die korrupte und repressive Regierung von Gouverneur Ulises Ruiz.
Die weitere Zukunft des historischen Experiments der »Anderen Kampagne« hängt zum einen davon ab, wie engagiert sich die bisherigen Aktivisten einbringen, wie viele neue Mitstreiter gewonnen werden können, wie umfassend weitere eigene Medien geschaffen werden, wie weit eine (auch) juristische Verteidigungsfähigkeit erlangt werden kann; zum anderen aber auch davon, wie stark die Repression bzw. Bestechung sein wird, wie heftig die Desinformation der Massenmedien ist und wie stark die parteipolitisch orientierte Linke die Bewegung manipulieren bzw. integrieren kann.
Noch unklar ist ebenfalls, wo und wann das nächste weltweite »Intergalaktische Treffen« gegen Neoliberalismus stattfindet, das in der Sechsten Deklaration vorgeschlagen wird. Auch dieser Prozeß soll von allen Interessenten gemeinsam gestaltet werden.
Bei all seiner Unvollkommenheit bietet das (längst nicht mehr nur) zapatistische Projekt der »Anderen Kampagne« weiterhin eine bis dato nicht gekannte Chance für ein breites außerparlamentarisches Linksbündnis. Noch ist die Otra keine Bedrohung für die mexikanische Oligarchie. Sie kann es jedoch durchaus werden.
Comandante David kündigte während der Feier des 13. Jahrestages des zapatistischen Aufstands in Oventik am 1. Januar vor über 5 000 Teilnehmern die nächste Phase des politischen Kampfes an: »Für die zweite Etappe werden wir eine größere Delegation ausschicken und so allmählich das gesamte Land bereisen, um mit den Compañeros und Compañeras der »Anderen Kampagne« im ganzen Land enger zusammenzuarbeiten, bis wir es schaffen werden, das nationale Kampfprogramm zu entwerfen. Die Arbeit, die wir verrichten, gefällt den Mächtigen, den Regierungen und den politischen Parteien nicht. Sie werden unser Vorhaben, eine antikapitalistische und linke Bewegung zu schaffen, nur aufhalten können, wenn sie uns alle töten. Aber wir sind uns darüber im Klaren und sind sicher, daß das gerechte Anliegen unseres Kampfes für unsere Rechte, für Gleichheit und Gerechtigkeit, größer und stärker ist als sie.«
weitere Informationen unter ezln.org.mx (span.) und chiapas.eu (dt.)
Quelle: http://www.jungewelt.de/2007/01-12/048.php
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