Freihandel sticht nicht

Das Bild von einer florierenden Exportwirtschaft entspricht nicht Mexikos Wirklichkeit

junge welt vom 04.09.2003
Gerold Schmidt, Mexiko-Stadt

 

Kein anderes Land auf der Welt hat so viele Freihandelsverträge abgeschlossen wie Mexiko«, verkündete stolz im Sommer 2000 Mexikos damaliger Präsident Ernesto Zedillo. Mit dem Ende seiner Amtszeit im selben Jahr endete auch die über 70jährige ununterbrochene Herrschaft der Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI), einer Partei, die nach langer Abschottung der Wirtschaft seit Beginn der 80er Jahre einen rasanten Öffnungskurs gegenüber dem Weltmarkt und vor allem der US-Ökonomie einschlug.

Unter dem ehemaligen Coca-Cola-Manager Vicente Fox und seiner konservativen Partei der Nationalen Aktion (PAN) herrscht zumindest in Sachen Wirtschaftspolitik Kontinuität. Immer wieder verweist Präsident Fox auf den Status Mexikos als bedeutende Exportnation. Auch Landwirtschaftsminister Javier Usabiaga hat wenig Verständnis für die mexikanischen Kleinlandwirte oder deren Subsistenzproduktion. Wer im NAFTA-Rahmen nicht effizient produziere, solle sich besser anderen Dingen widmen. Die Regierung wolle die »ländliche Bittstellergesellschaft« hinter sich lassen, so das Credo von Usabiaga.

Auch der heutige Außenminister Luis Ernesto Derbez hält eine weitere Handelsöffnung für unentbehrlich, um international wettbewerbsfähig zu sein. Tatsächlich kann in Sachen Freihandels- und Wirtschaftsabkommen kaum ein anderes Land Mexiko das Wasser reichen. Dabei kommt dem Nordamerikanischen Freihandelsabkommen NAFTA eine herausragende Bedeutung zu. Derzeit werden Verhandlungen mit Japan, Brasilien und Argentinien geführt. Panama, Singapur und osteuropäische Länder stehen auf der Wunschliste für weitere Freihandelsabkommen.

Kontinuität von Freihandel und Liberalisierung heißt in Mexiko auch, den Druck auf noch staatliche Bereiche zu erhöhen. Derbez‚ Nachfolger im Wirtschaftsressort, Fernando Canales, sprach im Mai aus, was sein Präsident bisher noch dementiert: Eine »Öffnung« des Stromsektors dürfe kein Tabu sein. Das ist die euphemistische Umschreibung für Privatisierung und hat mittelfristig oft zur Kontrolle einheimischer Branchen durch ausländische Großunternehmen geführt. Ein Beispiel sind die Banken, die sich inzwischen fast ausnahmslos in der Hand US- amerikanischer und europäischer Geldinstitute befinden.

So sehr sich mexikanische Regierungspolitiker als Freihandelsverfechter präsentieren mögen, die Realität im eigenen Land straft ihre Theorien und Prognosen in mehrfacher Hinsicht Lügen. Immer wieder wird betont, Freihandelsabkommen böten die Möglichkeit, Exportmärkte zu diversifizieren. In Mexiko ist dies nicht der Fall. Hier ist das NAFTA-Abkommen ausschlaggebend, denn fast 90 Prozent des mexikanischen Außenhandels werden mit den USA abgewickelt. Die anderen Freihandelsverträge, einschließlich desjenigen mit der Europäischen Union, konnten bisher in keiner Weise ein Gegengewicht bilden. Das NAFTA selbst ist von den Regierenden mit Hinweis auf makroökonomische Ziffern als Erfolgsmodell beschrieben worden. Tatsächlich sind die bis zum Jahr 2000 zweistelligen Zuwachsraten im Handel mit den USA auf den ersten Blick imponierend. Doch das schöne Bild von der Exportwirtschaft und ausländischen Direktinvestitionen als Wachstumsmotoren für die gesamte Volkswirtschaft entspricht nicht der Wirklichkeit.

Eine Verbreiterung der Palette von Exportgütern ist ausgeblieben. Die Maquila-Industrie (Ansiedlung von Billigproduktion entlang der Nordgrenze zur USA) funktioniert weitgehend unabhängig von einheimischen Produktionsketten, und der Anteil der lokalen Wertschöpfung liegt bei dieser Teilfertigungsindustrie seit Jahren konstant unter fünf Prozent. Es ist jedoch dieser Sektor, der knapp die Hälfte des Exportvolumens ausmacht. Die Krise der Maquilas in den Jahren 2001/2002 zeigte zudem, wie anfällig das Exportmodell ist: Innerhalb von zwölf Monaten verließen 350 Maquila-Unternehmen das Land. Im übrigen hat Mexiko insgesamt eine negative Handelsbilanz. Selbst nach der offiziellen Logik zieht das Land im Freihandel also unter dem Strich den Kürzeren.

So hat sich die Hoffnung auf ein Durchsickern des Exportwachstums auf den Binnenmarkt auch nicht erfüllt, da 300 Unternehmen etwa 90 Prozent der mexikanischen Exporte kontrollieren. Und nicht einmal aus den ausländischen Direktinvestitionen kann die heimische Wirtschaft Nutzen ziehen, da die Gewinne meist zu den Konzernsitzen ins Ausland rücktransferiert werden. Selbst das Arbeitsplatzargument bei der Befürwortung des Freihandels sticht nicht. Bei überwiegend stagnierenden und auf die letzten zehn Jahre bezogenen sogar gesunkenen Reallöhnen sind keine Arbeitsplätze geschaffen worden, sondern vielmehr verloren gegangen. Kritiker machen die auf einige Bereiche konzentrierte Exportorientierung und eine damit verbundene »Entindustrialisierung« anderer Branchen für diese Pleiten und den Verlust von Arbeitsplätzen verantwortlich.

Quelle: JUNGE WELT

 

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