Zwischen Freihandel und Protektionismus

junge welt vom 26.11.2003
Karl Unger

 

Die groesste Diskrepanz zwischen Realitaet und Mythos zeigt sich an den Staaten, die am lautesten von Liberalisierung und freier Marktwirtschaft toenen: Grossbritannien und USA

In den Kommentaren der Wirtschaftsjournalisten schimmerte vergangene Woche Weltuntergangsstimmung durch: Der freie Welthandel, dessen Belebung sie als die wichtigste Voraussetzung fuer ein Anziehen der Konjunktur betrachten, scheint gefaehrdet. Und das durch die westliche Fuehrungsmacht. Noch ist im Streit um die Stahlzoelle der USA keine Einigung mit Bruessel in Sicht, da schafft Bush schon das naechste Handelshemmnis, indem er Importquoten fuer Textilien aus China verhaengt.

Pessimisten sehen bereits eine Trendwende in den globalen Wirtschaftsbeziehungen. In den letzten zwanzig Jahren konnten die Anhaenger des freien Warenverkehrs einige wesentliche Erfolge fuer sich verbuchen. Seit Beginn der Schuldenkrise von 1982, in deren Gefolge die Weltbank und der Internationale Waehrungsfonds eine Reihe von sogenannten Strukturreformen in der Dritten Welt finanzierten, sind viele Entwicklungslaender (meist gezwungen, teilweise aber auch freiwillig) zu einer radikalen Freihandelspolitik uebergegangen. Nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Lagers wurde zudem eine ganze Weltregion erstmals fuer den freien Handel geoeffnet. In den neunziger Jahren kam es zur Unterzeichnung einer Reihe wichtiger regionaler Freihandelsabkommen und zum Abschluss der sogenannten Uruguay-Runde des GATT (General Agreement on Trade and Tariffs). Mit letzterem war die Gruendung der WTO (World Trade Organization) 1995 verbunden.

Das urspruengliche Ziel, ein allgemein gueltiges Freihandelsabkommen, war damit noch nicht erreicht, doch spaetestens seit 2001, nachdem auch die Volksrepublik China WTO-Mitglied geworden war, orientiert sich der Weltmarkt endgueltig am Prinzip Freihandel. Womit nun Schluss zu sein scheint. Denn die neuen Importrestriktionen von Bush richten sich gegen einen echten "Global Player": Jedes sechste Kleidungsstueck weltweit kommt von der chinesischen Textilindustrie. Im Handel mit den USA ist ihr spezifisches Gewicht noch groesser. Zwischen Januar und September wiesen die Textileinfuhren aus China eine Steigerungsrate von 148 Prozent aus, und im vergangenen Jahr belief sich ihr Wert auf knapp elf Milliarden Dollar. Da die geplanten Importquoten davon gerade 4,7 Prozent betreffen, ist der politische Charakter dieses Manoevers offensichtlich. US-amerikanische Politiker und Wirtschaftsverbaende machen die Volksrepublik fuer den Verlust von ueber zwei Millionen Arbeitsplaetzen verantwortlich.

Dass diese Zahl nichts mit der Realitaet zu tun hat, ist ohne Belang. Denn im Sueden, wo Bush die Wiederwahl gewinnen will, steigt die Arbeitslosigkeit, weil Textilfabriken schliessen. So hat in North Carolina Levi Strauss juengst die letzte Fabrik geschlossen und 2 000 Beschaeftigte auf die Strasse gesetzt. Und das Traditionsunternehmen Pillotex meldete Konkurs an, was 6 000 Arbeitsplaetze kostete. Doch fuer die meisten Importe ist gar nicht China verantwortlich, denn 60 Prozent aller Einfuhren aus der Volksrepublik kommen von Toechtern US-amerikanischer Unternehmen. Viel mehr als die Konsumenten von den niedrigen Preisen profitieren deshalb die Spekulanten an der Wall Street von den Billigimporten. Die Investmentbank Morgan Stanley hat ausgerechnet, dass daran Aktien im Wert von einer Billion Dollar haengen.

Unter Oekonomen ist zudem unbestritten, dass der sehr gemaessigte Verlauf der letzten Rezession auch den billigen chinesischen Importen geschuldet war: So waere der juengste, zur konjunkturellen Belebung beitragende Konsumrausch ohne ihre stabilisierende Kraft nicht denkbar gewesen, ganz zu schweigen von der Moeglichkeit der US-Notenbank, die Zinsen auf ein historisches Tief zu senken, ohne damit gleich hohe Inflationsraten zu riskieren. Die chinesische Notenbank wiederum kaufte US-Staatsanleihen in Milliardenhoehe und half so, das hohe Haushaltsdefizit zu finanzieren. Die US-Wirtschaft kaeme in grosse Turbulenzen, wuerde China jetzt auch nur einen Teil dieser Anleihen auf den Markt werfen.

"Freihandelsimperialismus"

Dies scheint den Verfechtern des Freihandels recht zu geben, dass nur dieser den Staaten der Welt die Moeglichkeit gibt, ihre jeweils besonderen Faehigkeiten und Reichtuemer zum Nutzen aller einzubringen. Ohnehin sind sie davon ueberzeugt, dass alle heutigen Industrielaender ihren Reichtum allein dem Prinzip des

Freihandels verdanken. Diese Sicht der Dinge ist mit den historischen Fakten aber nicht in Einklang zu bringen. Die groesste Diskrepanz zwischen der Realitaet und dem Mythos Freihandel zeigt sich gerade an den beiden Staaten, die am lautesten von Liberalisierung und freier Marktwirtschaft toenten und toenen: Grossbritannien und USA. In der Phase der Entwicklung ihrer Volkswirtschaften setzten beide gezielt Zoelle, Subventionen und andere Mittel des staatlichen Protektionismus ein. Erst 1846, mit der Aufhebung des Korngesetzes, vollzog Grossbritannien die entscheidende Wende in Richtung Freihandel. Dies war das Ergebnis einer Kampagne, die Richard Cobden und die Manchester-Gruppe viele Jahre gefuehrt hatten. Um erfolgreich zu sein, brauchten sie die Unterstuetzung der Massen, d. h. der Arbeiter. Deren durch Verschaerfung der Arbeitsbedingungen und Lohnkuerzungen verschlechterte Situation, versprachen sie durch den Freihandel zu verbessern.

Dieses Vorgehen gleicht strukturell dem der heutigen Freihaendler, die, waehrend sie die Arbeitsverhaeltnisse flexibilisieren und die Tarifvertraege aushebeln, den Konsumenten das Paradies auf Erden versprechen. Auch der Propagandaapparat der Globalisierer ist dem nicht unaehnlich, den die Fabrikanten der Anti-Corn-Law-League eingerichtet hatten, wie eine Bemerkung von Marx zeigt: "Sie bauen mit grossen Unkosten Palaeste, in denen die Liga gewissermassen ihre Amtswohnung einrichtete, sie entsenden eine ganze Armee von Missionaren nach allen Punkten Englands, um die Religion des Freihandels zu predigen. Sie lassen Tausende von Broschueren drucken und unentgeltlich verteilen, um den Arbeiter ueber seine eigenen Interessen aufzuklaeren. Sie geben enorme Summen aus, um die Presse fuer ihre Sache guenstig zu stimmen. Sie organisieren einen grossartigen Verwaltungsapparat, um die freihaendlerische Bewegung zu leiten, und entfalten alle Gaben ihrer Beredsamkeit in oeffentlichen Meetings."

Bis 1854 wurden die Zolltarife auf fast alle Erzeugnisse beseitigt. Von dieser einseitigen Grenzoeffnung versprach sich der britische Kapitalismus zunaechst einmal niedrigere Preise fuer die Industrierohstoffe und eine Senkung der Getreidepreise, um Lohnerhoehungen ausweichen zu koennen. Langfristig setzte er zudem auf die normative Kraft der Ideologie und hoffte, dass die anderen Staaten seinem Beispiel folgten. Heute bezeichnen Historiker diese wirtschaftspolitische Wende Grossbritanniens auch als "Freihandelsimperialismus". Denn ihr unausgesprochenes Ziel war, den Fortschritt der Industrialisierung auf dem Kontinent aufzuhalten, indem der dortige Markt fuer Agrarprodukte und industrielle Rohstoffe angekurbelt wurde.

Wessen Freiheit?

"Was ist also unter dem heutigen Gesellschaftszustand der Freihandel", fragte Marx im Januar 1848 vor der "Demokratischen Gesellschaft" in Bruessel und gab zur Antwort: "Die Freiheit des Kapitals. Habt ihr die paar nationalen Schranken, die noch die freie Entwicklung des Kapital einengen, eingerissen, so habt ihr lediglich seine Taetigkeit voellig entfesselt. (...) Lassen Sie sich nicht durch das abstrakte Wort Freiheit imponieren. Freiheit wessen? Es bedeutet die Freiheit, welche das Kapital geniesst, den Arbeiter zu erdruecken. Er wird sehen, dass das frei gewordene Kapital ihn nicht minder zum Sklaven macht als das durch Zollschranken belaestigte."

Das Mutterland und Bollwerk des modernen Protektionismus aber sind die Vereinigten Staaten. Ihr erster Finanzminister, Alexander Hamilton, stellte sich bewusst gegen die Lehren des Vaters der Nationaloekonomie, Adam Smith, indem er eine systematische Begruendung fuer staatliche Industriefoerderung entwickelte. Nach Meinung von Adam Smith konnte Amerika naemlich nur zu "wirklichem Reichtum und Groesse" gelangen, wenn es sich auf Agrarprodukte spezialisierte und darauf verzichtete, die eigenen Manufakturen zu schuetzen. Wegen der bis in die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts hohen Transportkosten gab die geographische Lage der USA eine quasi "natuerliche Protektion", und da zudem die Zolltarife fuer industrielle Fertigwaren zwischen 1830 und 1945 zu den hoechsten der Welt gehoerten, war die US-amerikanische Industrie in dieser Periode eine der weltweit bestgeschuetzten. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als

die US-Konzerne sich eine unbestrittene Vorherrschaft gesichert hatten, liberalisierten die USA ihre Handelsbeziehungen und begannen, sich fuer den Freihandel stark zu machen. Das politische und kulturelle Establishment der USA machte mit dieser Ideologie aller Welt etwas vor, aber wohl kaum sich selbst. Hatte doch rund 75 Jahre zuvor der damalige US-Praesident, General Ulysses Grant, gemeint: "Ueber Jahrhunderte hinweg hat

England auf die Protektion seiner eigenen Wirtschaft gesetzt, dieses Prinzip zu aeusserster Konsequenz getrieben und damit befriedigende Ergebnisse erzielen koennen. Ohne Zweifel verdankt England seine gegenwaertige Staerke eben diesem System. Nach 200 Jahren schien es England genehm, das Prinzip des Freihandels zu uebernehmen, weil es sich von der Protektion nichts mehr versprach.

Nun denn, verehrte Herrschaften, was ich ueber mein eigenes Land weiss, bringt mich zu der Ueberzeugung, dass auch Amerika in 200 Jahren, wenn es von der Protektion alles bekommen hat, was sie bietet, das System des Freihandels uebernehmen wird."

Das Dilemma der Dritten Welt

Fuer neoliberale Oekonomen ist charakteristisch, dass sie ueber kein historisches Wissen verfuegen und Wirtschaftsgeschichte ein Fremdwort fuer sie ist. Die wenigen Neoliberalen, die ueber die protektionistische

Vergangenheit der heute entwickelten Laender Bescheid wissen, haben ein simples Argument entwickelt: Frueher mag der Protektionismus die eine oder andere positive Wirkung gehabt haben, aber in der globalisierten Welt von heute ist er nur schaedlich. Auch zeige sich die Ueberlegenheit des Freihandels schon darin, dass die Wirtschaft der Entwicklungslaender in den letzten zwanzig Jahren viel staerker gewachsen sei als in den Jahrzehnten davor, in denen man in der Dritten Welt vornehmlich auf Protektionismus gesetzt hatte. Doch die Fakten sehen anders aus. Wenn der Freihandel wirklich eine so grossartige Sache waere, dann haette sich das Wirtschaftswachstum in den letzten beiden Dekaden eigentlich beschleunigen muessen. Zwischen 1960 und 1980, als jede Menge regulativer Instrumente benutzt wurden, wuchs das globale Pro-Kopf-Einkommen durchschnittlich um rund drei Prozent. In den letzten zwanzig Jahren hingegen betrug der Zuwachs nur 2,3 Prozent. In den entwickelten kapitalistischen Staaten verlangsamte sich das jaehrliche Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens von durchschnittlich 3,2 auf 2,2 Prozent. In den Entwicklungslaendern halbierte sich die Wachstumsrate, die zwischen 1960 und 1980 drei Prozent betragen hatte auf 1,5.

Das Ausmass der Krise in der Dritten Welt wird an einer solchen Zahl noch laengst nicht deutlich. In Lateinamerika ist das Wirtschaftswachstum praktisch zum Stillstand gekommen. Das Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens sank von 3,1 (1960/80) auf 0,6 Prozent (1980/99). Im Nahen Osten und Nordafrika schrumpfte es in den letzten Jahren um durchschnittlich 0,2 Prozent und im subsaharischen Afrika sogar um 0,7 Prozent. In den beiden "Regulations"-Jahrzehnten war es um 2,5 bzw. zwei Prozent gewachsen.

Einlaufkurve fuer ALCA

Sein grosses Versprechen, beschleunigtes Wachstum durch Freihandel, hat der Neoliberalismus nicht gehalten.

Aber ist das ein Argument fuer Protektionismus? Freihandelszonen zwischen Staaten mit einem aehnlichen oekonomischen Entwicklungsstand bieten den Teilnehmern den Vorteil groesserer Maerkte und funktionieren wie Mercosur (Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay) und ASEAN (Brunei, Birma, Malaysia, Thailand, Indonesien, Philippinen, Singapur, Kambodscha, Laos und Vietnam) relativ problemlos. Bei unterschiedlichen Entwicklungsniveaus beeintraechtigt der Freihandel langfristig hingegen die Entwicklung, weil er die oekonomisch rueckstaendigen Laender auf Fertigungsprozesse mit niedriger Produktivitaet festlegt. Dies haben inzwischen auch zahlreiche Politiker der Dritten Welt begriffen, wie Cancun und das vergangene Woche nur einen Tag dauernde Ministertreffen von Miami gezeigt haben. Dabei waren die zusammengekommen, um die groesste Freihandelszone der Welt zu schaffen: Einen Markt von 800 Millionen Menschen mit einem Wirtschaftsaufkommen von 13 Billionen Dollar wird die "Free Trade Area of the Americas" (FTAA) bilden.

Die in Miami versammelten Handelsminister von 34 Staaten haben zwar ihr grundsaetzliches Festhalten an diesem Projekt bekraeftigt, doch der Wortlaut der Deklaration fiel in einer selbst fuer derartige Texte unueblich vagen Form aus. So werden darin weder Reichweite und Tiefe des angestrebten Vertrages definiert, noch enthaelt sie einen konkreten Verhandlungsfahrplan mit daran geknuepften Zwischenschritten inhaltlicher Natur. Zwischen Brasilien und den USA, den beiden gemeinsamen

Vorsitzenden des Treffens, gibt es grundlegende Differenzen darueber, wie weit dieses Abkommen ueber den Abbau von Zoellen und Mengenbeschraenkungen hinausgehen soll. Die USA wollen die Einbeziehung verbindlicher Regeln zum Investitionsschutz, zum Recht auf geistiges Eigentum und zum oeffentlichen Beschaffungswesen. Damit wuerde ein weitgehend einheitlicher Wirtschaftsraum geschaffen, innerhalb dessen der freie Austausch von Waren und Dienstleistungen ueberall nach den gleichen und von den USA definierten Regeln und Standards erfolgte.

Die Bush-Administration kann mit dem Kompromiss von Miami gut leben, denn die USA verhandeln schon seit laengerem mit einer Reihe von Laendern ueber bilaterale Abkommen, die ihren Vorstellungen entsprechen. Mit fuenf mittelamerikanischen Staaten stehen die Verhandlungen kurz vor dem Abschluss, und mit Bolivien, Ecuador, Kolumbien, Panama und Peru werden sie demnaechst aufgenommen. Mit dieser Strategie soll die Position Brasiliens geschwaecht werden, das seit Monaten versucht, die lateinamerikanischen Staaten zu einer gemeinsamen Haltung zu bringen. Nicola Tingas, der Chefoekonom der WestLB in Sao Paulo meint: "Wenn die USA genug Zeit zum Warten haben, werden sie mit den Andenstaaten Land fuer Land bilaterale Handelsabkommen machen und Brasilien so lange isolieren, bis es seine Forderungen lockert."

Diese Strategie ist weder originell noch neu. Bilaterale und regionale Vereinbarungen sind fuer die imperialistischen Kernlaender ganz besonders attraktiv, weil sie auf Grund ihrer Verhandlungsmacht den Partnerlaendern die Bedingungen eines Arrangements diktieren koennen. Deshalb steht nach dem Scheitern von Cancun zu erwarten, dass wie schon waehrend der Komplikationen der letzten Welthandelsrunde (Uruguay-Runde 1985-1993) bilaterale Vertraege wie Pilze aus dem Boden schiessen werden. Der US-Handelsbeauftragte Robert Zoellick und EU-Kommissar Lamy haben sich jedenfalls in diesem Sinn geaeussert. Fuer die Entwicklungslaender hingegen ist unter den gegebenen internationalen Machtverhaeltnissen die Wahl zwischen bilateralem oder mulilateralem Freihandelsabkommen die zwischen Skylla und Charybdis.

 

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