Zivil kämpfen

junge welt vom 23.01.2004
Carlos Montemayor
übersetzt von: Harald

 

Wie die EZLN Widerstand organisiert: Die Zukunft Mexikos kann nur multiethnisch sein (Teil 1)

* Carlos Montemayor ist einer der bekanntesten Schriftsteller Mexikos. Er gab umfassende Sammlungen indigener Literatur heraus. Sein Prosawerk wurde mit zahlreichen nationalen und internationalen Preisen geehrt. Fuer unsere Zeitung verfasste er einen Essay zur Einschaetzung des Aufstandes der Zapatisten, der am 1. Januar 1994 in Chiapas begann. (jW)

Auf dem Hoehepunkt des Volksaufstandes in Bolivien trat Mitte Oktober 2003 ein alter Anfuehrer der Ureinwohner vor die Presse, um "unsere indigenen Brueder in Mexiko" zu gruessen. Er war ein Mallku, etwa siebzig Jahre alt. Bei den Hochlandvoelkern Boliviens gelten die Mallku als "Maenner der hoeheren Einsicht". Sie sind es, die in den Gemeinden die Aeltestenraete bilden, sie organisieren die kollektiven Entscheidungen der Gemeinschaft. "Mein Name ist Crispín Marín Mamani", wurde der Mann in der mexikanischen Tageszeitung La Jornada zitiert, "ich bin Vertreter der Provinz Pacajas. Wir Angehoerigen der Nation der Aymara stellen die absolute Mehrheit. In unser aller Namen sende ich Gruesse an die zapatistischen Brueder in Mexiko, die den gleichen Kampf wie wir gefochten haben."

Weshalb verglich der alte Mann den Kampf der zapatistischen Guerilla mit dem zivilen Widerstand der bolivianischen Aymaras? Es scheint erstaunlich, dass in seinen Augen die "Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung" (EZLN) immerhin eine bewaffnete Organisation einen zivilen Kampf fuehrt, der mit dem vergleichbar sein soll, in dessen Verlauf Mitte Oktober 2003 der Praesident der Republik Bolivien, Gonzalo Sanchez de Lozada, gestuerzt wurde.

Der Vergleich mag dem weiter gueltigen Hauptanliegen des zapatistischen Befreiungsheeres geschuldet sein: Die Rueckbesinnung auf die Rechte der indigenen Voelker ist nicht nur fuer Mexiko bedeutsam, sondern fuer den gesamten lateinamerikanischen Kontinent. Vielleicht verglich er die beiden Bewegungen auch, weil die EZLN Mitte der neunziger Jahre die ersten internationalen Treffen gegen die irrationale Globalisierung organisierte sie nannte sie "intergalaktisch". Den Folgen dieser Globalisierung stellten sich die Bolivianer im Fall der Gasexporte in die USA und in andere reiche Staaten vor wenigen Monaten so mutig und geschlossen entgegen.

In Anbetracht dieser Aussenwirkung koennen wir die "Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung" zehn Jahre nach deren Aufstand am 1. Januar 1994 zumindest als einen Teil der indigenen Bewegung begreifen, die auf den Gebieten der Bildung, Literatur, Politik und Wirtschaft im Lateinamerika der vergangenen zehn Jahre an Terrain gewonnen hat. Zugleich ist die neozapatistische Bewegung im Suedosten Mexikos nur Facette einer komplexeren Entwicklung auf kontinentalem Niveau: Die neuen Widerstandsbewegungen in Bolivien, Ecuador, Guatemala, Chile und Kolumbien sind Indizien fuer einen tiefgreifenden Prozess der Neuorientierung des kollektiven politischen Bewusstseins.

In den vergangenen zehn Jahren verabschiedete der Kongress der Union (Parlament) in Mexiko richtungsweisende Gesetze zugunsten der Rechte der indigenen Bevoelkerung. Mit der Hauptreform wurden 2001 die zentralen Punkte des Abkommens von San Andres (1996) zwischen der EZLN und der Bundesregierung bekraeftigt. Mit der Gesetzesreform definierte der Kongress die indigenen Voelker jedoch nur als "Gegenstand des oeffentlichen Interesses", nicht aber als politisches Subjekt, denn politische Rechte, die sich einzig und allein in der angestrebten Autonomie manifestiert haetten, wurden ihnen weiterhin verwehrt. Noch nicht einmal die Bestimmung ueber ihr angestammtes Land und die dort vorhandenen Bodenschaetze wurde ihnen zugestanden, obwohl dies die Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation vorschreibt, die Mexiko 1990 ratifiziert hatte.

Auch zehn Jahre nach dem Volksaufstand der EZLN im suedmexikanischen Bundesstaat Chiapas bleibt Mexiko de facto die Durchsetzung der politischen und wirtschaftlichen Ansprueche eines seit jeher unterdrueckten Teiles der Bevoelkerung schuldig. Im regionalen Vergleich wird das noch deutlicher: Vor zwoelf Jahren erkannte die Regierung Nikaraguas den Autonomiestatus der indigenen Voelker entlang der Atlantikkueste an. Die Verfassungen von Kolumbien und Brasilien sind aehnlich ausgerichtet, waehrend Ecuador und Paraguay inzwischen die Rechte der Indigenen den Menschenrechten gleichsetzen. Im April 1999 bestaetigte die kanadische Regierung den Autonomiestatus der Inuit-Ureinwohner, deren Territorium sich ueber 1,9 Millionen Quadratkilometer erstreckt, das damit fast so gross wie ganz Mexiko ist. Die Zugestaendnisse an die Inuit, die Schaffung der Nunavut Kamavat (der nach dem Gebiet benannten Nunavut-Regierung), hat der Souveraenitaet Kanadas keinen Abbruch getan. Mexikos Bundesre gierung sollte sich an diesem Schritt ein Beispiel nehmen.

Ganz im Gegenteil kann die neozapatistische Bewegung um die EZLN die "Reformen" in unserem Land heute aber als klare Absage der Exekutive, der Legislative und der Judikative an die gerechtfertigten Forderungen der indigenen Bewohner brandmarken. Es war die Absage des Staates, nicht einer bestimmten Machtgruppe oder einer besonders reaktionaeren Partei. Nicht die zapatistische Befreiungsarmee hat den Dialog beendet, es war der mexikanische Staat.

Nach diesem einseitigen Abbruch des Kontaktes 2001 hat das Schweigen der populaeren Guerillaorganisation national wie international fuer viel Irritation gesorgt. Die Reaktion ist interessant, weil sie auf kulturelle Differenzen hinweist: Fuer die "westliche" Gesellschaft existiert ein politisches Geschehen nicht, wenn in den Zeitungen oder in online verbreiteten Kommuniques nicht darueber berichtet wird. In den indigenen Gemeinden gestaltet sich das Verhaeltnis zur politischen Sphaere umgekehrt: Hier werden solche Presseberichte von vornherein mit Argwohn betrachtet, der Luege bezichtigt, waehrend das beobachtbare Handeln akzeptiert wird. Beide Seiten trennt ein grundsaetzlich differentes Realitaetsempfinden. Ich persoenlich bin der Meinung, dass das zapatistische Befreiungsheer als legitimer Sprecher der indigenen Gemeinden im Suedosten des Landes einen solchen oft erwarteten imaginaeren Dialog nicht hat fuehren muessen. Die Zapatisten hatten bereits gesprochen. Das Land hat nicht zugehoert.

(Aus dem Spanischen von Harald Neuber)

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