Zivil siegen

junge welt vom 24.01.2004
Carlos Montemayor
übersetzt von: Harald Neuber

 

Wie die EZLN Widerstand organisiert. Die Zukunft Mexikos kann nur multiethnisch sein (Teil 2 und Schluß)

Mit der kurz vor dem 10. Jahrestag des Aufstandes in Chiapas gegründeten »Gemeinschaft der guten Regierungen« in den neozapatistischen Gemeinden Chiapas‚ haben wir einen neuen Hinweis darauf bekommen, welche Reformen unser Land wirklich benötigt. Der überwältigende Teil der indigenen Völker organisiert sein Gemeindeleben ohnehin autonom von den Vorgaben der Zentralregierung. Und das schon seit Jahrhunderten. Die aus der Vernachlässigung der indigenen Ureinwohner durch die jeweiligen politischen Machthaber entstandene Autonomie ist weitreichender, als der Beobachter denken mag. Ein zentraler Aspekt ist die solidarische Organisation der Arbeit, die als fajina, tequio oder trabajo comunitario (Gemeinschaftsarbeit) bezeichnet wird.

Das System verpflichtet Angehörige der Gemeinden, mit ihrer Arbeitskraft zum Bau von Gemeinschaftsgebäuden, Brücken oder Wegen beizutragen. Während der Aussaat oder der Ernte wird diese Arbeit zwischen Familien, Zonen oder Dörfern organisiert, wobei immer auf den gleichen Austausch von Arbeit zwischen den helfenden Gruppen geachtet wird. Dieses System hat in den vergangenen Jahrhunderten maßgeblich zum Überleben der indigenen Gemeinschaften beigetragen, weil diese aus ihrer sozialen Stellung heraus kaum die Möglichkeiten hatten, fremde Arbeitskraft zu entlohnen. Auf die gleiche Weise tauschen die sozialen Gemeinschaften der indigenen Ureinwohner Nahrung, Rohstoffe und andere Güter.

Auch die politischen Vertreter der indigenen Gemeinschaften sind ein hervorragendes Beispiel für den Charakter der politischen Realität in den autonomen Gemeinden der Ureinwohner. Jeder politische Funktionsträger nimmt neben seinem Amt die verschiedensten sozialen oder religiösen Aufgaben wahr. Wer ein politisches Amt für sich beansprucht, der muß Gemeindeaufgaben bewerkstelligen, religiöse Feste ausrichten, Essen beschaffen, Musiker und Prozessionen organisieren. Allein das zivile und religiöse Engagement eines Gemeindemitgliedes dient in den Gemeinden als Maßstab für den sozialen Aufstieg, der mit politischen ämtern positiv sanktioniert wird. Ein politisches Amt ist weder übertragbar, noch bringt es wirtschaftliche Privilegien mit sich. Benannt werden neue Würdenträger entweder von Gemeindeversammlungen oder von ältestenräten, deren Funktion es ist, den Fortbestand der gemeinschaftlichen Strukturen zu sichern.

Tag für Tag werden in den indigenen Gemeinden auf diese Weise autonome Entscheidungen getroffen. Sie folgen einer natürlichen politischen Kultur, ohne die Mexikos Ureinwohner die vergangenen Jahrhunderte ebensowenig überlebt hätten wie deren soziale Strukturen. Die mexikanische Verfassung erkennt den multiethnischen Charakter der Nation zwar an, nicht aber die politische Systeme und Institutionen der Ureinwohner. In Mexiko existiert heute eine politische und soziale Realität, die keine verfassungsrechtliche Anerkennung findet. Wir wollen diese Realität nicht sehen. Wir weigern uns, sie zu verstehen, obgleich sie lebendiger ist als die unsere. Wo es geht, ignorieren wir sie auch über fünfhundert Jahre nach der conquista (der Eroberung Lateinamerikas durch die Spanier). Die vor wenigen Wochen im Einflußgebiet der »Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung« (EZLN) ausgerufene »Gemeinschaft der guten Regierungen« ist ein gutes Beispiel, daß diese politische Schattenrealität aber existiert −und daß sie von ihren Trägern verteidigt wird. Die politische Widerstandskultur der indigenen Gemeinden Mexikos ist keine entstehende, sie besteht de facto. Nun gilt es, sie de jure anzuerkennen, sie gesetzlich zu bestätigen.

Freistaaten oder autonome Staaten bringen den föderativen Charakter eines Landes nicht in Gefahr. Auch wenn sie eigene Gesetze haben, ihre eigenen Gerichte und ihre eigene Verwaltung, sind sie nicht automatisch separatistisch ausgerichtet. Die autonomen Gemeinden der EZLN-Basis bilden keinen Staat im Staat, auch wenn sie ihre eigenen politischen Autoritäten wählen und über ihre natürlichen Ressource n bestimmen. Was verhindert die Anerkennung der kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Rechte in den indigenen Regionen?

Die EZLN ist zwanzig Jahre nach ihrer Gründung im Jahr 1983 und zehn Jahre nach dem beachtlichen militärischen und politischen Aufbegehren am 1. Januar 1994 weitaus mehr als eine bewaffnete Guerillabewegung, denn auch die Guerillaorganisationen haben sich im Laufe der Geschichte verändert. Seit den Anfängen der modernen mexikanischen Guerilla 1965 in den Bergen Chihuahuas haben sich diese Gruppen politisch, diskursiv und organisatorisch weiterentwickelt. Die EZLN wirkt in erster Linie durch die Verwendung eines für diese Bewegungen völlig neuartigen Diskurses einzigartig, der tatsächlich aber auf die Tradition der indigenen Sprache Tojolabal zurückgeht.

Diese Brücke zur Widerstandsgeschichte muß man schlagen, will man heute die Perspektiven des neozapatistischen Widerstandes aufzeigen. Tatsächlich war Mexiko noch im 19. Jahrhundert von Indianerkriegen zerüttet. Der »Yaquí-Krieg« etwa begann 1825. Er endete 1908, am Vorabend der mexikanischen Revolution. Der »Krieg der Kasten« der Mayas auf der Halbinsel Yucatán dauerte von 1840 bis 1909. Angesichts dieser Zeiträume wird deutlich, daß diese ersten zehn Jahre der EZLN im internationalen Rampenlicht erst der Anfang sind, sie sind die Spitze des Eisberges. Die EZLN ist Teil eines Prozesses, der weder organisatorisch noch zeitlich begrenzt ist. Die Angehörigen der Bewegung sprechen heute vor allem mit Taten, nicht mit Worten. Wir täten gut daran, ihnen zuzuhören, wenn sie sprechen, und ihre Taten zu sehen, wenn sie handeln. Das Zapatistische Befreiungsheer ist mehr als eine Untergrundarmee oder eine Gruppe bewaffneter Frauen und Männer. Es ist ein politisches Bewußtsein, daß das politische Denken des Landes früher oder später von Grund auf erneuern wird.

 

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