Hausaufgaben im "Guten Regieren"

Zapatisten: Von den Schwierigkeiten des selbstständigen Gehens

contraste vom 08.11.2004
Johannes Plotzki

 

Das gut eine Jahr, in dem die Zapatisten auf ihre selbstgewählte neue Form der autonomen Regierung zurückblicken, reicht sicherlich nicht aus, um an Schreibtischen in Europa oder den USA umfassende Analysen zu Effizienz, Fortschritten und Nachteilen zu erstellen. Was aber getan werden kann, ist die Erfahrungen der Zapatisten wieder zugeben.

Kurz zur Erinnerung: Anfang August 2003 wurden an fünf Orten im rebellischen Chiapas/Mexiko die "Räte der Guten Regierung" ausgerufen. Es handelte sich dabei um Orte, die auch schon vorher als Zentren der Kommunikation und Zusammenkunft, sowie als Schnittstellen der zapatistischen Bewegung mit der Internationalen Zivilgesellschaft gedient hatten. Hier befinden sich Versammlungsräume, autonome Kliniken und Schulen, kollektiv betriebene Handwerksbetriebe und Geschäfte. Was an diesem 10. August im Jahr 2003 neu hinzukam, war an den fünf Orten jeweils ein aus Holz gezimmertes Haus: Der fortan "Caracol" (Schneckenmuschel) genannte Regierungssitz des unermüdlich arbeitenden Rates der Guten Regierung. Diese setzen sich aus einer Delegation gewählter Mitglieder der autonomen Landkreisregierungen zusammen. Alle autonomen zapatistischen Dörfer sind in 34 autonomen Landkreisen zusammengefasst und entsenden jeweils Delegierte in ihren zuständigen Landkreissitz. Jede der fünf Räte ist für eine Großregion des aufständischen Chiapas zuständig und lernt dabei nach dem zapatistischen Motto "fragend schreiten wir voran" alltägliche Kommunalaufgaben in eigener Regie zu betreiben um "sich selbst zu regieren und selbstständig zu gehen, ohne irgendeiner Beteiligung der (offiziellen) Regierung." Die Ausrufung der "Caracoles" und der damit erweiterten Autonomiebefugnisse für die zivile Selbstverwaltung der Zapatisten, war eine de facto Umsetzung derjenigen Zusicherungen, die seitens der Regierung mit den sogenannten Abkommen von San Andrés zwar unterzeichnet, aber nie eingelöst wurden. Autonomie ist bei den Zapatisten nicht als Separationsbestrebung im Sinne eines eigenen unabhängigen (Indigena-) Staates Chiapas miss zu verstehen, sondern eine in der Umsetzung befindliche Einforderung der allgemeinen Menschenrechte ("nie wieder ein Mexiko ohne uns") einerseits, sowie der spezifischen Kollektivrechte für indigene Ethnien andererseits.

Viele Tausende nationale und internationale Gäste aus 43 Ländern haben nun schon diese neue Form der zivilen Selbstverwaltung der Zapatisten in den vergangenen 15 Monaten kennen gelernt. Nicht wenige von ihnen kehren nach Hause mit einer Mischung aus Respekt und Verwunderung. In den Herkunftsländer der solidarischen und interessierten BesucherInnen wird das in Chiapas Erlebte dann in Solidaritätsgruppen und politischen oder kirchlichen Kreisen weitergetragen, diskutiert, bestaunt und oftmals nicht verstanden: "Warum wechseln die Mitglieder der Räte im ein- bis zweiwöchentlichen Turnus, da kann doch keine Kontinuität entstehen", werden sich viele fragen, die mit den Räten Kontakt hatten oder auch nur von ihnen hörten. In seiner neuesten Veröffentlichung, "Ein gelesenes Video", antwortet Subcomandan te Marcos auf genau solche Einwände dahingehend, dass es geplant sei, die Arbeit der Räte unter den Mitgliedern aller autonomen Landkreisregierungen rotieren zu lassen. Neben dem Vorteil, dadurch die Korruption zu erschweren, sei es der Zweck, "dass die Aufgabe des Regierens nicht ausschließlich einer Gruppe vorbehalten ist, und es keine ´professionellen´ Anführer gibt , damit so viele Menschen wie möglich sie erlernen, und die Idee, dass das Regieren nur von ´besonderen Menschen´ ausgeführt werden kann, zurückgewiesen wird." Er räumt ein, dass es dadurch schwieriger sei, bestimmte längerfristige Projekte zu realisieren, als Gewinn jedoch ganze Dörfer lernten zu Regieren, es so eine "Schule des Regierens" gebe, "die auf lange Sicht gesehen, in eine neue Art Politik zu betreiben münden wird." Vielleicht steht hier wirklich noch vor einem westlichen Effektivitätsdenkens die Chance, als Regierender noch vor einer Woche in den Lebensverhältnissen gelebt zu haben, um die es bei der Kommunalpolitik geht. Und auch die Gewissheit, nach einer Woche Ratsregierungsarbeit wieder zur Heimatgemeinde und ihren Problemen zurückzukehren. So sagte auch die Gute Regierung der Großregion des Hochlands ("Los Altos") von Chiapas in der Jubiläumsansprache anlässlich des 1. Jahrestages zu 3000 Indigenas und Angehörigen der nationalen und internationalen Zivilgesellschaft, dass sie es sehr gut wisse, in welcher Situation zapatistische Gemeinden sich befinden: "Weil wir in der Form von Widerstand und Rebellion leben und kämpfen, weil wir alle Schläge der schlechten Regierenden unseres Landes aushalten müssen, die mehr Hunger und Elend in unsere Dörfer gebracht haben, mehr Krankheiten und Tod für unsere Kinder, mehr Unsicherheit und Angst für unsere Gemeinden." Sollten doch eigentlich durch das Rotationsprinzip möglichst viele Menschen "die Aufgabe des Regierens lernen", so ist auch nach einem Jahr "Caracoles" eine Gruppe der zapatistischen Gemeinden daran kaum beteiligt: Die Frauen. Zu der Beteiligung der Frauen, so schreibt der Sub in seinem "gelesenen Video", können die Räte der Guten Regierung "immer noch keinen guten Bericht vorsetzen, betreffs der Schaffung von Voraussetzungen für eine Entwicklung in einer neuen Kultur, die ihre Fähigkeiten und Begabungen würdigt, welche bisher nur Männern zugeschrieben wurden." Die Zahlen sprechen für sich: In den autonomen Räten auf Landkreis- und Gemeindeebene sind durchschnittlich weniger als 1% Frauen beteiligt. Liegt der Prozentsatz in den Geheimen Revolutionären Indigenen Komitees, der militärischen Befehlsstruktur der EZLN, immerhin zwischen 33% und 40%, so werden Frauen jedoch in den zivilen Strukturen, also "bei der Ernennung zu Gemeindebeauftragten und Landkreisdelegierten weiterhin ignoriert". Das liegt oftmals an einem traditionellen Frauenbild, welches verhindert, Frauen solche Posten einzuräumen, die es notwendig machten, das Dorf zu verlassen. Denn "die Frau, die ohne Ehemann oder Kinder reist, wird in ein schlechtes Licht gestellt". Außerdörfliche Aktivitäten können zum Beispiel auch Weiterbildungskurse und Treffen, organisiert von den Ratsregierungen oder Frauenkooperativen, sein.

Entscheidet sich eine Frau dagegen für eine längere Zeit sich der Zapatistischen Armee anzuschließen, dann fällt sie sowieso meist aus dem dörflichen Sozialgefüge heraus und hinterher kommt es zu entsprechenden Schwierigkeiten bei der Wiedereingliederung. Trotzdem ist der Prozentsatz zapatistischer Kämpferinnen in der EZLN erstaunlich hoch. Dies mag daran liegen, dass ihre Position bei einem Eintritt in die zapatistische Armee für den Zeitraum klarer abgesteckt ist, bei der Übernahme eines politischen Amtes jedoch ein Hin- und Herpendeln zwischen traditioneller Rolle in den Gemeinden und Organisations- , sowie Repräsentativaufgaben außerhalb des Dorfes notwendig wird. Zwar gibt es bereits seit 1993 (!) das "Revolutionäre Frauengesetz", in dem Frauen der Zugang zu "allen die Gemeindeaufgaben betreffenden ämtern und Posten" zugesichert wird, jedoch fällt die Umsetzung gerade dieses Anspruches in einer hochgradig patriarchalischen Gesellschaftsstruktur − wie in Mexiko allgemein zu beobachten − enorm schwer. Einzig erfreulich in diesem Zusammenhang ist, dass die Gewalt gegen Frauen in den zapatistischen Gemeinden abgenommen habe, was aber auf das, auch im "Revolutionären Frauengesetz" verankerte Alkoholverbot zurückzuführen sei. Eine weitere Zielsetzung wurde laut dem sehr ehrlich gehaltenen Resümee im "gelesenen Video" ebenfalls nur ungenügend erreicht: Die klare Unabhängigkeit der zivilen Selbstverwaltung in den Räten der Guten Regierung von Entscheidungen der EZLN. Waren die Räte eigens dafür ins Leben gerufen worden, um die militärisch-hierarchisch angelegten Entscheidungsprozesse der EZLN auf wirklich nur strategisch relevante Anforderungen zu beschränken und alle Fragen zur Selbstverwaltung zivilen Entscheidungsträgern zu überantworten, "entstand in einigen Caracoles das Phänomen, dass Kommandanten Entscheidungen trafen, die ihnen nicht zustanden und sich in Probleme der Ratsregierungen einmischten."

Die Schaffung der Ratsregierungen hat aber auch "Erfolge" zu verzeichnen, wie im folgenden kurz umrissen werden soll. So findet durch die Räte der Guten Regierungen auch Rechtssprechung statt, die mittlerweile sogar von nicht-zapatistischen Bauern in Anspruch genommen wird, um den korrumpierten offiziellen Justizapparat zu umgehen. Durch eine Kanalisierung der eingehenden Spendengelder kann nun von den Ratsregierungen die gerechte Verteilung dieser Gelder auf möglichst viele verschiedene Projekte und Gemeinden eher sichergestellt werden. So soll es nicht mehr vorkommen, dass bestimmte "Lieblingsgemeinden" der Internationalen Zivilgesellschaft gegenüber anderen bevorzugt werden. Auch fällt einer zentraleren Stelle, wie den Ratsregierungen leichter zu entscheiden, was überhaupt an Hilfe von außen benötigt wird, damit zukünftig völlig deplazierte "Hilfslieferungen", wie beispielsweise ein einzelner hochhackiger Damenschuh der Größe 6 für eine Gemeinde nur mit schlammigen Trampelpfaden nicht mehr Erstaunen und Beschämen bei den Begünstigten hervorrufen muß.

In einem weiteren Punkt sind die Räte der Guten Regierung besonders wichtig: Als praktiziertes Gegenmodell zur offiziellen Regierung und ihren Versuchen den Widerstand auch mit ökonomischen Anreizen zu brechen. In äußerst schwierigen Lebensumständen, wie denen im strukturschwachen Chiapas, fällt es den aufständischen Kleinbauernfamilien leichter den Regierungsprogrammen zu widerstehen, wenn sie sich im Gegenzug an eine eigene, handlungsfähige Regierung wenden können. Ein Mitglied der Guten Regierung des Hochlandes bestätigte, die Bundesregierung wolle "uns mit ihren Programmen und ihrer Politik der Aufstandsbekämpfung schwächen, aber wir haben beschlossen weiterhin Widerstand zu leisten, denn wenn wir sc hwach werden und die Ressourcen der schlechten Regierung annehmen, werden wir alle eingehen". Deshalb "schärfen wir weiterhin das Bewusstsein, um die schwierigen Situationen anzugehen und weiterhin Widerstand zu leisten, denn der Aufbau unserer Autonomie geht vorwärts, nicht rückwärts."

Die indigene Bevölkerung Mexikos hat über 500 Jahre für Würde, Gerechtigkeit und Selbstbestimmung gekämpft, und sie wird es notfalls noch einmal so lange tun. Was sind da schon 10 Jahre? Denn "für jene, die wie die Zapatisten auf Jahrzehnte hinaus planen, sind ein paar Jahre nicht viel".
 

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