Früherer mexikanischer Staatspräsident Echeverría erscheint vor dem Staatsanwalt wegen des Massakers von Tlatelolco
Zapapres-Import vom 07.07.2002 | |
(Quelle: El Pais, 7.7.2002, Übersetzung bb/ZAPAPRES) Der schwere schwarze Vorhang der politischen Straflosigkeit in Mexiko hat sich gelüf- tet. Zum erstenmal in der Geschichte wurde ein Expräsident, Luis Echeverría, auf die Anklagebank gestellt, um sich nach seiner Beteiligung und Verantwortung am Massaker von Tlatelolco befragen zu lassen. Es sind 33 Jahre seit der gewaltsamen Unterdrückung der Studentenbewegung von 1968 vergangen, aber für einen Gutteil der mexikanischen Gesellschaft ist es eine offene Wunde, für die es kein «Pardon noch Vergessen" gibt, da sie Dutzenden von Oppositionellen das Leben kostete und das Land in einen langen und tiefen Tunnel des Autoritarismus und der Repression stieß.
Das ehemalige Staatsoberhaupt gab zu, daß das Massaker an den Studenten von 1968 und die Verschwundenen des Schmutzigen Krieges eine »nationale Tragödie« bedeuteten und versicherte, daß er an der Aufklärung mitwirken werde, da er ein »ruhiges Gewissen« habe. In einer Presseerklärung betonte der 80jährige Expräsident, daß sein Erscheinen vor einem Sonderstaatsanwalt am vergangenen Dienstag, um einen Fragebogen über das Massaker vom Tlaltelolco-Platz zu beantworten, ein gutes Beispiel für das Land sei und die Ereignisse aufgeklärt werden müßten, damit sie sich nicht wiederholten.
Die Schüsse der Armee gegen eine Studentendemonstration in der mexikanischen Hauptstadt verursachten, nach offiziellen Angaben, ungefähr 30 Tote, andere Berichte sprechen von 300, sowie das Aufkommen von Guerillabewegungen und eines vom Staat entfesselten Schmutzigen Krieges. Das Massaker, das 34 Jahre straflos blieb, wurde verübt als Echeverría, der das Präsidentenamt von 1970 bis 1976 innehatte, Innenminister war.
Gedrängt von einer starken Strömung in der öffentlichen Meinung mußte sich Echeverría am vergangenen Dienstag vor einem Sonderstaatsanwalt der Generalstaatsanwaltschaft (PGR) präsentieren, der damit beauftragt ist, das Verschwindenlassen von politischen Gegnern und die Verantwortlichkeit von Amtsträgern bei der Repression gegen Studentenbewegungen, Oppositionelle und die Guerilla der 70er Jahre zu untersuchen. Mit ihm ist der Justiz ein di- cker Fisch ins Netz gegangen, vor der er sich in einigen Tagen wegen einer anderen blutigen Aktion gegen Studenten verantworten muß − der vom 10. Juni 1971, die sich ereignete als er bereits Präsident war. Die Akte des Massakers von 1968 wurde von der Gesellschaft nie ge- schlossen. Ehemalige Führer der Studentenbewegung, neue politische Akteure der Linken und Mitglieder der Zivilgesellschaft haben das Gerichtsverfahren gegen die Verantwortlichen der Exzesse des Regimes des Partido Revolucionario Institucional (PRI) vorangetrieben, der Me- xiko während 71 Jahren regierte und dabei gelegentlich in einem Autoritarismus verfiel, der in blutige Repressionen mündete, wie die des Oktobers 1968, welche vom damaligen Präsi- denten Gustavo Díaz Ordaz und seinem Kabinett als eine Antwort einer demokratischen Re- gierung auf eine Verschwörung des internationalen Kommunismus gerechtfertigt wurden. Das war zur Zeit des kalten Krieges.
Der frühere Präsident Echeverría, der während seiner Regierungsjahre den tercermun- dismo und vorgeblich eine politische Öffnung in Mexiko förderte, hat seit Jahrzehnten seine Beteiligung an den Massakern von 1968 und 1971 bestritten, mußte nun aber vor dem Son- derstaatsanwalt erscheinen und 168 Fragen über sein Verhalten während des Massakers von Tlalteloco beantworten. Gelassen und unnahbar, öffnete er nur seinen Mund, um Zeit für die Beantwortung der Fragen zu erbitten.
Befragt nach seiner Ansicht über Öffnung der Akten aus den dunklen Jahren, antwortete Echeverría, daß dies ein Erfolg sei. Während seiner Aussage gab er weiter an, daß es ihn, wie jeden Mexikaner, sehr beschäftige, was diese enthielten. Als alter Fuchs der Politik verwies er darauf, daß er, zur Beantwortung der Fragen des Staatsanwalts, viele Dinge in dem freigege- benen Archivmaterial nachprüfen lassen werde. Präsident Díaz Ordaz hat seinerzeit die poli- tisch-historische Verantwortung des Massakers von Tlaltelolco übernommen, Echeverría hat sie immer abgelehnt.
«Ist es Ihnen nicht unangenehm, der erste Expräsident zu sein, der vor einem Staatsan- walt zu erscheinen hatte?", warf ein Reporter ein. Darauf Echeverría: »Es ist eindeutig ein gutes Beispiel.« Auf die Frage, was er über die Geschehnisse des 2. Oktober 1968 sagen kön- ne, bekräftigte er, ohne seinen eisernen Gesichtsausdruck abzulegen, »nun, es ist eine natio- nale Tragödie, die man aufklären muß, damit sie sich nicht wiederholt; man muß das untersu- chen und alle konkreten Tatsachen ermitteln.«
Eine »moralische Verurteilung«, damit die Straflosigkeit aufhört
Die Straflosigkeit, die das alte System seinen Hauptakteuren garantierte, zerbröckelt in Mexiko und das Erscheinen des Expräsidenten Luis Echeverría vor dem Staatsanwalt »bedeutet zumindest«, wie der mexikanische Beobachter, Raymundo Rivapalacio, meint, »daß es ein historisches Gedächtnis hinsichtlich der Verantwortlichen (für Taten wie die von Tlaltelolco) gibt.«
Zu den Halcones, eine bewaffnete Einheit, die am 10 Juni 1971 bei der unter der Be- zeichnung Fronleichnam-Massaker bekannten Aktion, die Dutzende von Toten und Verletz- ten forderte, zum Einsatz kam, erläutert Rivapalacio: »Ja, es war eine paramilitärische Gruppe, organisiert von der Regierung, bezahlt von der Regierung und ausgebildet von der Regierung, um gewaltsam zu unterdrücken.« Bei dieser gewaltsamen Niederschlagung gegen die erste Demonstration der linken Opposition nach dem Massaker von Tlaltelolco gab es, nach Rivapalacio, »Vorsatz und Arglist. Es ist ein verjährtes Delikt, aber in beiden Fällen wird es eine moralische Verurteilung von Echeverría − ich habe da keinen Zweifel − als geistiger Urheber des Massakers vom 10. Juni und als Hauptakteur der Ereignisse vom 2. Oktober 1968 geben.«
Rivapalcio räumt ein, daß »es möglich ist, daß dies die Gesellschaft im allgemeinen jenseits des Skandals nicht sonderlich interessiert. Dennoch wird es in historischer und politischer Hinsicht eine Gesellschaft sein, die nicht mehr mit einer offenen Wunde weiterleben muß«
Er ist der Ansicht, daß die Untersuchung tiefer gehen sollte, denn wenn man »bei Echeverría stehenbliebe, würde man die Verantwortung und die Schuld« für die dunklen und blutigen Abschnitte der mexikanischen Geschichte zu sehr einschränken.
Quelle: Zapapres
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