Der lange Arbeitskampf bei Han Young in Tijuana

Zapapres-Import vom 01.06.1998

 

(gh/ZAPAPRES, Juni 1998)

Das Unternehmen Han Young in Tijuana fertigt Fahrgestelle für die koreanische Hyundai-Corporation, die in einem nahegelegenes Großwerk die Endmontage von Lastkraftwagen durchführt. Han Young ist ein typischer Maquiladora-Betrieb an der Nordgrenze Mexikos. Im Gegensatz zu den Maquiladoras in Mittelamerika, wo überwiegend jugendliche Frauen Arbeit in der Konfektionierung von Bekleidung finden, sind die Mehrzahl der ca. 120 Beschäftigten bei Han Young Männer.

Der Wochenlohn bei Han Young liegt unter 46 US-Dollar. Dafür müssen die Beschäftigten 48 Stunden hart arbeiten; denn durch schlechte Ernährung − für ein betriebliches Essen wird täglich 3,5 Dollar vom Lohn abgezogen − und fehlende Ventilation kommt es häufig zu Erschöpfungserscheinungen am Arbeitsplatz. Außerdem sind die Ausrüstungen gegen Arbeitsunfälle mangelhaft.

Seit über einem Jahr befinden sich die Beschäftigen von Han Young im Kampf für bessere Arbeitsbedingungen und − da die offiziellen Arbeitervertreter Mexikos lieber als Personalvermittler und Schlägerbanden für die Unternehmer auftreten − im Kampf um eine eigene unabhängige Gewerkschaft. Ein aussichtslos erscheinender Kampf, wenn an bedenkt, daß die konservative Regierung des Bundeslandes Baja California einen großen Einfluß auf die Arbeitsbehörden und die Medien ausübt und die weit entfernt in Mexiko-Stadt regierenden Staatspartei PRI zu ihren offiziellen Gewerkschaften hält.

Vom Maquiladoraprogramm zur nordamerikanischen Freihandelszone

Um den in die USA drängenden mexikanischen Migrationsarbeitern eine Alternative zu bieten, forcierte die mexikanische Bundesregierung ab den 60er Jahren die Industrialisierung der Grenzregion. Mit Zollbefreiung, Steuererleichterungen und der Einschränkung von Arbeitsrechten und Umweltauflagen wurde v.a. einheimisches und us-amerikanisches Kapital für den Aufbau von Textil-, Elektronik-, Möbel-, und Automobilfabriken angelockt.

Seit In-Kraft-Treten des nordamerikanischen Freihandelsabkommens im Jahr 1994 und dem Verfall der Lohnkosten durch die Peso-Krise 1995 boomt der Maquiladora-Sektor in Mexiko. Im Jahr 1996 wuchs die Zahl der Betriebe auf über 3.000, monatlich kommen ca. 50 neue dazu. Auch die Metropolen Zentralmexikos richten inzwischen Freie Produktionszonen ein. Über 800.000 Menschen sind in den Maquiladora-Betrieben beschäftigt. Die Maquiladoraindustrie ist zum wichtigsten Faktor der mexikanischen Exportwirtschaft geworden. Dafür hat der mexikanische Staat die ökologische Zerstörung der Grenzregion in Kauf genommen. Auch die Hoffnung auf Zulieferaufträge an den mexikanischen Mittelstand hat sich nicht erfüllt: Weniger als 2% der Vorprodukte stammen aus Mexiko.

Zwar sind in das Freihandelsabkommen einige arbeitsrechtlichen Verbesserungen aufgenommen worden − so die Einrichtung einer trilateralen Stelle, das Beschwerden über die Verletzung der Organisationsfreiheit und der Unabhängigkeit von Arbeitsgerichten entgegen nimmt − doch ohne öffentlichen Druck laufen die Mühlen des Freihandels in eine andere Richtung.

Ein Jahr Arbeitskampf bei Han Young

Am 2. Juni 1997 legten die Beschäftigen von Han Young zum ersten Mal ihre Arbeit nieder, um damit die Anerkennung einer unabhängigen Gewerkschaft zu fordern. Die Unternehmensleitung reagiert mit dem Einsatz von Schlägern der offiziellen mexikanischen Gewerkschaftszentrale CTM, der Entlassung von Anführern des Arbeitskampfes und der Drohung, das Werk zu schließen.

Am 6. Oktober wurden zum ersten Mal Gewerkschaftswahlen durchgeführt, die die unabhängige Liste der Beschäftigten klar gewann. Obwohl die Wahl unter Aufsicht der lokalen staatlichen Schlichtungsstelle stattfand, erkannte diese die Wahlergebnisse nicht an und ließ sich auch nicht durch ein mexikanisches Bundesgericht dazu bewegen. Daraufhin traten die Beschäftigten in einen 28-tägigen Hungerstreik, durch den sie am 16. Dezember eine erneute Durchführung der Wahl erkämpften, die die unabhängige Liste wieder gewann.

Dies führte im Januar zu einem ersten Abkommen bei Han Young zwischen den Beschäftigten und dem Management, das jedoch mit Hilfe der offiziellen Gewerkschaft und lokalen Regierungsfunktionären erfolgreich unterlaufen wurde. Bei der trilateralen Stelle für Arbeitsangelegenheiten wurde Beschwerde wegen der Verletzung der arbeitsrechtlichen Bestimmungen des Freihandelsabkommens eingelegt.

Der aktuelle Streik

Am 22. Mai treten die Beschäftigten bei Han Young in den Streik. Sie fordern die Anerkennung ihrer unabhängigen "Gewerkschaft 6. Oktober der Industrie- und Handelsarbeiter", eine Lohnerhöhung um 35%, die Einstufung und Entlohnung ihrer Arbeit gemäß Alter und Erfahrung sowie die Beteiligung am Unternehmensgewinn, wie es im mexikanischen Arbeitsgesetzbuch vorgesehen ist. Das Management setzt Streikbrechern ein, um Maschinen sauber zu halten, damit bei einer anstehenden Besichtigung durch externe Arbeitsinspektoren eine ordentliche Fabrik präsentiert werden kann. Gegenüber den Arbeitsinspektoren behauptet dann das Management, es gäbe keinen Streik.

Am 27. Mai gibt es eine Abstimmung über den Streik: Trotz Morddrohungen seitens der Streikbrecher nehmen 76 stimmberechtigte ArbeiterInnen an der Abstimmung teil. Es werden jedoch 52 nicht zur Abstimmung Berechtigte eingeschleust, die eine Mehrheit gegen den Streik durchsetzen. Aufgrund des Abstimmungsergebnisses erklärt die Schlichtungsstelle am nächsten Tag den Streik für illegal, ohne genauer die zur Wahl Berechtigten und den Ablauf der Wahl geprüft zu haben.

Doch dies führt zu ersten internationalen Reaktionen. Ein republikanischer US-Kongress-Abgeordneter erklärt öffentlich, daß es in den letzten Tagen Versuche des Han-Young-Management und von Regierungsmitgliedern gegeben habe, Mexikanisches Recht zu brechen und ein Wahlbetrug gegen eine unabhängige Gewerkschaft zu unterstützten. Diese Aktivitäten könnten sich langfristig auf die USHandelspolitik auswirken. Es ist schon erstaunlich, wenn sich die republikanische Partei im Zuge des Freihandelsabkommens für die Arbeitsrechte der mexikanischen LKW-Schlosser einsetzt.

Ein Mexikanisches Bundesgericht suspendiert die Entscheidung der Schlichtungsstelle und erklärt Streik wieder für rechtmäßig. Eine genauere Untersuchung des Falls soll ab Mitte Juni für drei Monate aufgenommen werden.

Die Landesregierung und die Presse

Baja California wird von der konservativen, klerikalen Partei der Nationalen Aktion PAN regiert. In Fragen des Freihandels hat diese keinerlei Differenzen mit der Staatspartei PRI. Noch am Tag der Sitzung des Bundesgerichtes schaltet sie in allen wichtigen Tageszeitungen ganzseitige Anzeigen, in denen die Entscheidung der Schlichtungsstelle vom Vortag gebilligt wird und gleichzeitig der Streik für nicht-existent erklärt wird. Keine Zeitung, in der die Landesregierung eine Anzeige aufgegeben hat, berichtet von der Sitzung des Bundesgerichts.

Die größte Tageszeitung "El Mexicano" informiert stattdessen auf ihrer Titelseite von der Besorgnis des offiziellen Gewerkschaftsverbandes CTM über Spaltungsversuche und Diskreditierungen. Eine Woche später kommt auf der Titelseite der CTM-Präsident von Baja California, Zuniga, zu Wort: Die Han-YoungArbeiter hätten sich zum Werkzeug ausländischer Interessen machen lassen; die neue Gewerkschaft und ihre Unterstützer unterminierten die Harmonie bei Han Young. Die Regierung von Baja California übt wochenlang Druck auf die Presse aus, nicht mehr über Arbeitskampf zu berichten.

Der Wahlgang vom 29. Mai

Nach eines Pressekonferenz der Streikenden am Werkstor kommt es am Abend des 29. Mai zu einem dritten Wahlgang. Die unabhängige Gewerkschaft 6. Oktober tritt gegen eine List "Anspruch der Arbeiterklasse", die von der offiziellen CTM aufgestellt wurde, an. Die Schlichtungsstelle überprüft die Stimmberechtigten und übersieht dabei wieder 48 Nicht-Wahlberechtigte, die von der CTM eingeschleust werden. Trotzdem siegt die "Gewerkschaft 6. Oktober" mit 74:65 Stimmen. Die Schlichtungsstelle erklärt darauf hin, am 3. Juni zum Wahlergebnis und zur Anerkennung der neuen Gewerkschaft öffentlich Stellung zu nehmen.

Der Wahlsieg bedeutet die Anerkennung der neue Gewerkschaft als offizieller Verhandlungsführer der Beschäftigten mit dem Han-Young-Management. Gleichzeitig erhält die Gewerkschaft damit das Recht, sich auch in anderen Industrieunternehmen Baja Californias zu präsentieren.

Nach der Niederlage der CTM-Liste droht der Direktor des Werkes seinem Personalchef mit Lohnkürzungen, da dieser nicht genügend CTM-Wähler organisiert hat.

Am gleichen Tag erhält der mexikanische Präsident Zedillo Briefe, in denen gewerkschaftliche, Menschenrechts- und Solidaritätsgruppen gegen die Schlichtungsstelle protestieren und die unverzügliche Anerkennung der neuen Gewerkschaft einfordern.

Die Zuspitzung des Konfliktes

Am 3. Juni − dem Jahrestag des Arbeitskampfes − erwarten alle die Stellungnahme der Schlichtungsstelle, doch diese vertagt sich auf unbestimmte Zeit. Stattdessen werden Haftbefehl gegen Streikführer und zwei Rechtsberater der Streikenden erlassen, die sich deswegen verstecken müssen. In den Morgenstunden räumen Angehörige der Schlichtungsstelle und über 100 Spezialpolizisten das besetzte Werk, verbrennen Transparente, konfiszieren zwei PKWs der Streikenden und drohen mit weiteren Haftbefehlen, wenn die Arbeit nicht unverzüglich aufgenommen wird.

Nachdem die Streikenden sich von dem Schock erholt haben, rufen sie am nächsten Tag auf einer Notstands-Pressekonferenz zu massiven Protesten und einem internationalen Protesttag am 16. Juni auf. Noch am gleichen Tag werden in den USA und Mexiko 1.000 US-Dollar gesammelt und als Pfand zur Aufhebung der Haftbefehle gezahlt. Auch in der Landeshauptstadt Mexicali und in Mexiko-Stadt halten unabhängige Gewerkschaftsverbände Pressekonferenzen ab. In Los Angeles übergeben Demonstranten dem mexikanischen Konsulat einen Protestbrief, der von 300 Organisationen unterzeichnet worden ist. Die Streikenden demonstrieren vor dem US-Konsulat in Tijuana. In der folgenden Woche verteilen sie Flugblätter an den Zugängen der Industrieparks in Tijuana.

Am 6. Juni findet ein bundesweites Treffen von Stadtparlamenten in Tijuana, daß die Reform der Menschenrechts-Gesetzgebung zum Thema hat. Das Treffen wird von der lokalen Presse nicht groß angekündigt, doch es gelingt den Streikenden, auf dem Treffen von ihrem Arbeitskampf zu berichten. Sie müssen feststellen, daß die Menschenrechts-Gesetzgebung in Mexiko bislang die Arbeitsrechte kaum berücksichtigt.

Das Han-Young-Manangement weigert sich wieder Verhandlungen aufzunehmen und wartet die Anhörung vor dem Bundesgericht am 18. Juni ab. Die Nationale Industriellen-Vereinigung schaltet am 8. Juni eine ganzseitige Anzeige, in der die Erklärung der Schlichtungsstelle vom 28. Mai über die Nicht-Existenz des Streiks unterstützt wird. Die Streikenden demonstrieren vor dem koreanischen Konsulat in Tijuana. Das große US-Magazin Business Week berichtet über den Streik.

Die Internationale Protestwelle

50 Mitglieder einer Arbeitsrechtsgruppe blockieren am 13. Juni im Hafen von Portland im US-Bundesstaat Oregon drei Schichten lang für 24 Stunden die Entladearbeiten der Hyundai-Corporation. Die Hafenarbeiter respektieren die Blockade. Die Verluste werden für die Hyundai-Corporation auf bis zu 50.000 US-Dollar geschätzt.

Am 16. Juni, dem internationalen Protesttag, finden in über 10 US-Amerikanischen Großstädten Protestkundgebungen vor mexikanischen Konsulaten oder Einrichtungen der US-Regierung statt. Die größte Kundgebung mit 200 Menschen in San Francisco richtet sich auch gegen die Massaker und Angriffe der mexikanischen Bundesarmee in Guerrero und Chiapas. Eine siebenköpfige Delegation mit Vertretern des us-amerikanischen Gewerkschaftsdachverbandes AFL-CIO übergeben dem Konsul eine Protestnote mit 870 internationalen Unterschriften. In New York findet eine Demonstration unter dem Motto "Union Yes − NAFTA no!" statt.

In Mexiko-Stadt besucht das Komitee zur Unterstützung der Han-Young-Arbeiter, das aus unabhängigen Gewerkschaftern und Politikern der sozialdemokratischen Oppositionspartei PRD besteht, das Arbeitsministerium.

Ein Staatssekretär erklärt, das Ministerium betrachte den Streik für eine lokale Angelegenheit. Es hielt den Konflikt für gelöst, doch dann hätten sich US-Gewerkschaften eingemischt. Diese Argumentation gegen eine angebliche ausländische Einmischung in innermexikanische Angelegenheiten ist auch aus dem chiapanekischen Konflikt bekannt. An einem Treffen mit den Streikenden, die zum Termin der Anhörung vor dem Bundesgericht planen, nach Mexiko-Stadt zu marschieren, besteht im Arbeitsministerium kein Interesse. Der Konflikt werde aber von der Bundesregierung aufmerksam wahrgenommen.

Ein Protestbrief von über 100 mexikanischen Gewerkschaftern wird übergeben, im dem die Intervention der Bundesregierung für die Garantierung der Arbeits-gesetzgebung gefordert wird.

Am 17. Juni blockieren in Toronto 25 Automobilgewerkschafter ein Hyundai-Autohaus und schicken einen Protestbrief an den kanadischen Hyundai-Chef.

Am 26. Juni beteiligen sich Han-Young-Unterstützergruppen am Marsch der Immigrationsarbeiter durch das Textilviertel von New York.

Ausblick

Zur änhörung vor dem Bundesgericht in Mexiko-Stadt, die am 18. Juni begonnen hat, sind die Streikenden erschienen. Der Richter erklärt − stark beeindruckt von den Schilderungen der Streikenden − die Räumung des Werkes und die Beschlüsse der Schlichtungsstelle für illegal.

Doch der Sieg vor dem Bundesgericht muß vor Ort durchgesetzt werden. Ein Erfolg ist, daß 27 von den 40 eingesetzten Streikbrechern das Werk bereits wieder verlassen haben und die Tagesproduktion nach der erzwungenen Wiederaufnahme der Fertigung von über 20 auf ein Fahrgestell gesunken ist.

Auch der Ausgang der Wahlen in Baja California vom 28. Juni kann die Streikenden optimistisch stimmen. Die oppositionelle PRD hat dort zum ersten Mal einen Stimmenanteil von über 10% gewonnen und damit das Zweiparteiensystem von PAN und PRI in Frage gestellt. Die PRD in Baja California, die sich für einen täglichen Mindestlohn von 13 US-Dollar in der Maquiladoraindustrie einsetzt, wird von einer erfahrenen Stadtteil- und Maquiladora-Aktivistin angeführt.


Quelle: Zapapres
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