Interview mit Victor und Clemencia

VertreterInnen der Indígena-Organisation Xi’ Nich’

Zapapres-Import vom 15.02.1996

 

Wie ist Xi’ Nich’ entstanden? Wer nimmt an der Organisation teil? Welche Bedeutung hat der Name?

Xi’ Nich’ gründete sich im Dezember 1991. Die Bewegung entstand als Antwort auf eine gewaltvolle Räumung in Palenque, Chiapas, durch die lokale Regierung. Wir hatten uns versammelt, um die Anerkennung unserer sozialen Belange und Respekt in Bezug auf die Menschenrechte der Indígena-Gemeinschaften zu fordern.

Xi’ Nich’ besteht aus Choles, Tzeltales und Zoques aus dem Nordosten des Bundesstaates. Der Name Xi’ Nich’ = "Ameise" bedeutet für alle Gruppen der Organisation das Gleiche, denn die Sprachen unterscheiden sich nicht wesentlich. Die Regierung wollte mit der Räumung in Palenque, der Inhaftierung von mehr als 100 Leuten − darunter viele Führungsköpfe − ein für alle mal ein Ende mit der Bewegung machen. Für uns Indígenas bedeutet die Zerstörung eines Ameisenhaufens jedoch, daß nur noch mehr Ameisen hervorkommen, und so war es mit Xi’ Nich’- und deshalb der Name. Sie haben uns vertrieben, eingeschüchtert, verhaftet, denn die Regierung wollte uns `zerdrücken’, aber die Reaktion darauf war, daß mehr und mehr Compañeros aus anderen Gemeinden zu uns stießen, und die Bewegung wachsen ließen.

Wie ist Xi’ Nich’ organisiert?

Xi’ Nich’ besteht in erster Linie aus drei sozialen Organisationen, die gleichzeitig auch Indígena-Organisationen sind: eine ist das Komitee für die Verteidigung der Freiheit der Indígenas (CDLI), die vorwiegend aus den Gemeinden um Palenque herum besteht, der zweiten, Tsoblej Yu’ún Jwolcoltic, was "Versammlung zur Lösung unserer Probleme" bedeutet, gehören die Tzeltales aus den Flußtälern von Ocosingo an.

Und die dritte und kleinste ist die Vereinigung der Indígenas der Selva Lacandona (UCISECH). Dies sind Gruppen, deren Hauptanliegen der Kampf um das bebaubare Land ist, das sich im Urwald befindet.

Xi’ Nich’ hat auch Arbeitskomissionen, z.B. die sogenannte Produktionskomission, die Gesundheitskomission und eine weitere für Menschenrechte und Politik. Auch haben wir eine Landwirtschaftskomission und eine Komission für Frauen, damit sie dort ihre Anliegen vorbringen und andere Compañeras motivieren. Es gibt auch eine Komission, die die Verbindung zu anderen Organisatonen aufrechterhält. Dann gibt es noch Arbeitsinstanzen, die für die Koordinierung zuständig sind. Und schließlich die Allgemeinen Versammlungen, auf denen die verschiedenen Dorfgemeinschaften der drei Zonen vertreten sind: die Versammlungen stellen die oberste Autorität der Organisation dar und hier werden Entscheidungen über das zukünftige Vorgehen gefällt.

Und in welchen Komissionen arbeitet ihr selbst mit?

Victor: Einerseits bin ich Campesino, ich bearbeite ein kleines Stück Land. Andererseits bin ich in der Landwirtschaftskomission tätig. Ich begleite den gesamten Prozeß, hauptsächlich jedoch besteht meine Arbeit darin, die Organisation vor anderen Komissionen, die von Bedeutung sind, zu vertreten.

Zu den Aktivitäten der Landwirtschaftskomission gehört die Beschaffung von Finanzmitteln für ein Projekt, um Kleingärten mit unterschiedlichen Anbaufrüchten in den Gemeinden zu schaffen. Ein anderes Projekt, das wir Landwirtschaftserziehung nennen, besteht darin, Alternativen in der Produktion von Basisprodukten zu suchen, denn die Qualität der Erträge wird immer schlechter, da die Böden, die die Campesinos in dieser Gegend besitzen, nicht für die Landwirtschaft geeignet sind. Und ein drittes Projekt ist die Wiederaufforstung in den Indígena-Gemeinden.

Clemencia: Also in erster Linie bin ich eine Indígena-Frau, eine Chol. Ich bin eine Frau, ich arbeite in meinem Haus − eine Hausfrau, wie man so sagt. Jetzt arbeite ich als Koordinatorin für die Frauen. Wie der Compañero Victor vorher erklärt hat, sind wir Frauen beigetreten, nachdem sich Xi’ Nich’ gegründet hatte, um der Bewegung mehr Kraft zu geben. Unsere Arbeit besteht darin, andere Frauen für Projekte zu motivieren. Die Arbeit die wir angefangen haben, ist nicht groß der rede Wert: Wir bauen Öfen, um Brot zu backen, lernen Stoff für Kleidung zuzuschneiden, und Chile in Essig einzulegen. Da wir gesehen haben, daß unsere Männer in den Komissionen arbeiten, hielten wir es für notwendig als ihre Ehefrauen auch etwas zu tun: zu überlegen, wie wir uns gegenseitig helfen und unterstützen können. Wir haben Kinder − es ist um ihnen etwas geben zu können.

Mit welchen Gruppen innerhalb und außerhalb Chiapas arbeitet Xi’ Nich’ zusammen?

Wir haben Beziehungen zu einigen anderen Campesino-Gruppen sowohl in Chiapas als auch in anderen Bundesstaaten, die ähnliche Ziele wie wir haben: für die Armen zu kämpfen, das Kazikentum in den Organisationen zu verhindern und Gesetzgebung als einen kollektiven Prozeß zu sehen. Wir haben Kontakt zu einer anderen Tzeltal-Gruppe im Norden von Chiapas, die ähnlich wie wir aufgebaut und ebenfalls eine zivile Vereinigung ist. Außerdem haben wir Kontakt zu Nahuas und Popoluca aus Veracruz. Sie sind auch Indígenas, und sie arbeiten so wie wir: in Projekten, im politischen Kampf, im Kampf um soziale Forderungen.

Manchmal haben wir auch Verbindungen zur PRD (Partido Revolucionario Democrático). Wir sind aber keine Aktivisten der Partei, sondern fordern die Respektierung unserer Unabhängigheit − wir wollen auf keinen Fall dazu gebracht werden, unsere Unabhängigkeit aufzugeben, um Teil der Partei zu werden.

Und dann haben wir noch Beziehungen zu einer großen Kraft in Chiapas, der Zivilen Zapatistischen Bewegung, die noch recht neu ist. Sie gründete sich als es zum Bruch zwischen der Bundesstaatsversammlung des chiapanekischen Volkes und der Übergangsregierung kam. Das war im letzten Jahr. Nun ja, die Distanzierung fing im Mai an und im Oktober/November kam es dann zum definitiven Bruch. Die Bundesregierung war der eigentliche Verursacher. Die Karawane von Chiapas nach Mexiko-Stadt, die von der Übergangsregierung und der Versammlunmg − die damals noch ein Block waren, in dem die verschiedenen Indígena- und Campesino-Organisationen repräsentiert waren − angeführt wurden, kehrten geeint zurück, ohne auf die Minimalofferten der Regierung für Sozialleistungen hereingefallen zu sein. Danach suchte die Regierung jedoch verstärkt den Dialog mit der Versammlung. Und so kam es, daß plötzlich ein Paralleldialog zu dem in San Andrés stattfand. Das heißt, für die Regierung bedeutete es zum einen die militärischen Fragen mit den Zapatisten in San Andrés zu verhandeln, und auf der anderen Seite einen parallelen Dialog über die sozialen Forderungen der Indígenas mit den zivilen Kräften Chiapas zu führen. Die Versammlung schaffte es, eine Trennung herbeizuführen, so daß die, die Don Amado Avendaño, dem Vorsitzenden der Übergangsregierung, am nächsten waren, abgespalten wurden. Es kam zum Bruch zwischen den verschiedenen Organisationen, die in der Versammlung vertreten waren. So entstand ein neuer Block, der sich als Zapatistische Zivilbewegung manifestiert, und dem wir auch angehören, eine Kraft, um Amado Avendaño zu unterstützen und zum anderen, um die politische Isolation zu verhindern, die die Regierung um die Zapatisten aufzubauen versuchte.

Wie steht Xi’ Nich’ zum EZLN?

In Übereinkunft mit den Gemeinden, mit denen Xi’ Nich’ zusammenarbeitet, wurde mit dem Ausbruch des Krieges 1994 beschlossen, die Zapatisten ohne Einschränkungen zu unterstützen − weshalb wir alle Beziehungen mit der chiapanekischen und der Regierung in Mexiko-Stadt abgebrochen haben. Die Forderungen der EZLN sind die gleichen, die wir auf unserem Marsch nach Mexiko-Stadt 1992 vortrugen.

Welche Rolle spielt Xi’ Nich’ bei den Verhandlungen in San Andrés?

Seit die ersten Gespräche im April ’94 in San Miguel Ocosingo stattfanden, in der die Regeln für die Durchführung des Dialogs aufgestellt wurden, haben wir uns dazu verpflichtet, am zivilen Sicherheitsring um den Verhandlungsort teilzunehmen. Dies ist unser Beitrag von indirekter Solidarität an dem Verhandlungsprozeß. Auf Einladung der EZLN sind wir aber auch direkt an den Gesprächen beteiligt. In der ersten Verhandlungsrunde mit dem Titel "Rechte und Kultur der Indígena", waren wir in vier von insgesamt sechs Arbeitsgruppen dabei. Außerdem nehmen wir indirekt auch als Berater an den Verhandlungen teil − durch einen Missionar, der mit uns zusammenarbeitet. Welches sind die Ergebnisse der ersten Verhandlungsrunde? Wie schätzt ihr diese ein? Es wurden nur minimale Einigungen erzielt, denn für die Delegation der EZLN sind die Forderungen nicht ausreichend erfüllt worden. Die ersten beiden Punkte sind die neue Beziehung des mexikanischen Staates mit den Indígenas und eine tiefgreifende Reform des Staates. Wenn es jedoch keine ernsthafte Reform gibt, kann sich auch keine neue Beziehung aufbauen. Im dritten Punkt geht es um den Respekt vor der Unterschiedlichkeit, d h. die verschiedenen Indígena-Gemeinden des Landes wollen nicht dazu gezwungen werden, sich der herrschenden Kultur anzugleichen. Wir fordern Respekt vor der Andersartigkeit, das Recht darauf, verschieden zu sein. Man einigte sich auf die Notwendigkeit eines gesetzlichen Rahmens, d.h. bestimmte Artikel der Verfassung müssen geändert werden. Dies beinhaltet, daß die Autonomie der Indígena-Gemeinden auf politischer, wirtschaftlicher und sozialer Ebene anerkannt wird, daß es eine autonome Verwaltung in den einzelnen Gemeinden gibt. Auch wurde vereinbart, daß die Gemeinden einerseits in Bezug auf staatliche und andererseits auch auf eigene Kommunikationsmittel Rechte und die Freiheit darüber zu verfügen, erhalten. Kommunikationsmittel sind ein unverzichtbares Werkzeug für die kulturelle Entwicklung der Gemeinden. Gesprochen wurde auch über die Beteiligung und Repräsentativität der Indígenas in der Politik. Die Regierung redete über eine gesteigerte Teilnahme, aber für uns ging es hier in erster Linie um die Anerkennung − denn wir haben bisher wirklich niemals offiziell an den politischen Geschehnissen des Landes mitgewirkt. Deshalb halten wir es für notwendig, daß die politische Repräsentativität der Indígenas zunächst gesetzmäßig anerkannt wird. Konkret auf Chiapas bezogen, bedeutet die politische Beteiligung erneute Wahlen, eine Neuaufteilung der Municipios, eine eigene Rechtsprechung für die Indígenas in diesen Gebieten, eigene Wahldistrikte − eine Organisation, die weit entfernt vom Parteiensystem ist, das in Mexiko existiert. Die Indígena-Gemeinden brauchen für ihre Wahlen nicht die amtliche Anerkennung irgendeiner politischen Partei.

Wie wird diese Neuaufteilung der Municipios in der Praxis aussehen?

Für die Umsetzung der Neuaufteilung der Municipios wird es eine Komission geben. Dort werden die chiapanekische Regierung, die sozialen Organisationen, das EZLN und die Bundesregierung vertreten sein. Es wird eine gemischte Komission sein, die dafür zuständig sein wird, die Vorschläge zu überprüfen und schließlich dem Kongreß vorzulegen.

Ich möchte noch auf einen weiteren Punkt der Verhandlungen eingehen, in dem es um die Schulbildung innerhalb der Indígena-Gemeinden geht. Ich spreche jetzt über Vereinbarungen, die auch vom Staat akzeptiert wurden: die Erziehung soll stärker in Übereinstimmung mit der Kultur und den Lebensbedingungen in den einzelnen Regionen stattfinden. Die Ausbildung soll kompletter werden, mit verantwortungsvolleren Lehrern und Institutionen und einer aktiveren Beteiligung der Gemeinden an der Vorbereitung. Dies bedeutet auch, daß die Indígenas das Recht haben, in ihrer Sprache zu lernen. Außerdem wurde vereinbart, daß die Mestizen, die in den verschiedenen Indígena- Regionen leben, dazu verpflichtet werden sollen, sich mit der Kultur der Region, in der sie leben, zu beschäftigen. Damit sie ihren Wert erkennen und nicht, wie es heutezutage der Fall ist, die Indígena-Kultur zu diskriminieren, zu verneinen und den Wert der Gemeinden überhaupt nicht zu achten.

Im Rahmen der Verhandlungen fand im Januar auch ein Nationales Indígena-Forum statt, auf dem 500 Vertreter von fast 200 Organisationen miteinander sprachen. Wie beurteilt ihr dieses Forum?

Der Staat lud zu offiziellen Foren, um die Meinung der Indígenas zusammenzutragen, um so änderungen an einigen Artikeln der Verfassung vornehmen zu können. Die Einladung galt aber Indígenas, die den Idealen des Staates treu sind. Das heißt, für uns waren es Indígenas, die ihre Rasse, ihre Kultur, ihr Volk verneinen. Deshalb wurde das Indígena- Forum einberufen, auch weil es gut hätte sein können, daß die Verhandlungen in eine Sackgasse gerieten. Ziel des Forums war einerseits die gesetzgebende Kammer, andererseits hatte es die Aufgabe, dem EZLN bessere Verhandlungsargumente zu liefern, damit die Regierung nicht so viele Punkte hätte, die nicht wirklich der Meinung der Indígenas und den Zugeständnissen, die schon erreicht waren, entsprächen. Es wurde zum Forum eingeladen, um es möglichst vielen Indígenas zu ermöglichen, sich zu äußern. Die Zapatisten hielten die Anzahl der Indígenas an den Verhandlungstischen für sehr gering. Aber es ging auch darum, daß die verschiedenen Indígenas des Landes, sowohl die Geladenen der Regierung als auch des EZLN, die Forderungen und Übereinkünfte, die in den zwei Verhandlungsphasen in San Christóbal de las Casas und San Andrés erreicht wurden, wirklich zu den ihren machen sollten.

Gibt es noch etwas, das ihr euren bisherigen Ausführungen hinzufügen möchtet? Etwas, das ihr den Menschen hier noch sagen wollt?

Ich möchte noch etwas in Bezug auf die Umsetzung der Verhandlungsergebnisse sagen. Wir wissen, daß die mexikanische Regierung, der Staat nie sein Wort hält. In den Verhandlungen von San Andrés ging es nicht darum, welchen Teil der Staat und welchen die Zapatisten bekämen, es ging darum, den Staat dazu zu verpflichten, daß die lokale und die Bundesregierung dafür eintreten, daß etwas passiert, damit die neue Beziehung zwischen Regierung und Indígena-Gemeinden Wirklichkeit werden kann. Es ging darum, die Regierung zu kompromittieren. Wir glauben nicht daran, daß die Regierung die Zugeständnisse, die sie bei den Verhandlungen gemacht hat, halten wird. Wir denken, daß nur die Stärke der Indígena-Gemeinden und des ganzen Landes selbst die Regierung dazu zwingen kann, ihr Wort zu halten. Sie werden nie auch nur daran denken, es einzuhalten, wenn es niemanden gibt, die sie dazu zwingt. Deshalb möchten wir den Deutschen sagen, sowohl der Regierung hier als auch den Solidaritätsgruppen, daß sie weiterhin die Ereignisse in Mexiko verfolgen, und daß sie darauf achten, ob die Regierung ihre Zugeständnisse einhält oder nicht.

ki/ZAPAPRES, Februar 1996


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