Brutaler Polizeieinsatz und Massenfestnahmen in San Salvador Atenco

Poonal vom 09.05.2006

 

(Mexiko-Stadt, 8. Mai, poonal).- Am Morgen des 3. Mai kam es in der Gemeinde San Salvador Atenco, nördlich von Mexiko Stadt zu schweren Zusammenstößen zwischen Polizeieinheiten und einem Bündnis aus Straßenhändlern und Aktivisten der Bauernorganisation »Front der Gemeinden zur Verteidigung der Erde«. Was mit einem Einsatz gegen einige Blumenverkäufer begann, entwickelte sich im Laufe des Tages zu weitläufigen Straßenschlachten. Die Aufständischen hielten zwischenzeitlich mehrere Polizisten als Geiseln versteckt.

Ein Dorfbewohner erzählt: "Es gab Auseinandersetzungen, weil die Polizei auf den Markt kam, um die Blumenverkäufer von dort zu vertreiben. Die Polizei setzte Tränengas ein. Eine der Gasgranaten töte einen 14-jährigen Jungen." Inzwischen ist klar, dass der Jugendliche nicht durch eine explodierende Gasgranate, sondern durch ein Projektil starb. Der Einsatzleiter bestreitet jedoch, dass die Polizeikräfte Waffen dieses Kalibers getragen hätten. Der Polizeieinsatz hatte zudem keine rechtliche Grundlage. Der Konflikt zwischen den Blumenhändlern und dem Gemeinderat von Atenco schwelt seit längerem. Das Argument: In den Plänen für die Neugestaltung des Dorfzentrums sei schlichtweg kein Platz für Straßenstände. Anfang Mai wurde jedoch mit dem Gemeinderat ausgehandelt, zunächst weiterhin auf der Strasse verkaufen zu dürfen.

In den folgenden Stunden verschanzten sich einige Händler in einem Haus in Atenco. Sympathisanten blockierten mit brennenden Autoreifen die Zufahrtsstraßen in den Ort. Die mexikanische Tageszeitung "La Jornada" veröffentlichte den Brief eines Festgenommenen: "Am 3. Mai circa um 16 Uhr rückten Polizisten und Beamte der Spezialeinheit vor. Es waren noch mehr Aufstandsbekämpfungsbeamte gekommen mit Gewehren, die Gasgranaten abschießen, Langwaffen und Pistolen. Unser Haus war umstellt, und sie begannen, mit Tränengas anzugreifen. Sie brachen die Türen der Nachbarhäuser auf, um übers Dach ins Haus zu kommen. Drinnen schlugen sie mit Schlagstöcken und Waffen auf die Compañeros in den Zimmern ein, auch auf die, die schon verletzt waren. Die Frauen wurden misshandelt, sie zogen ihnen die BHs aus, begrabschten ihre Brüste und den Genitalbereich. Sie haben nicht aufgehört, uns zu schlagen, bis wir auf den Polizeifahrzeugen waren. Einige wurden kriechend die Treppen herunter geschleift und auch auf dem Boden liegend weiter geschlagen. Die meisten von uns haben Kopfverletzungen. Viele von uns konnten nichts mehr sehen oder waren bewusstlos vom Tränengas."

Am Nachmittag waren bereits über 100 Menschen in Atenco verhaftet worden. Die Nachrichten von den Straßenschlachten erreichten einige Stunden später auch das 40 Kilometer entfernte Mexiko Stadt. Dort traf sich gerade der EZLN-Sprecher Subcomandante Marcos mit Anhängern der sogenannten "Anderen Kampagne". Während einer Kundgebung gab Marcos vor Tausenden Zuhörern bekannt, dass für die zapatistischen Truppen in Chiapas der »Rote Alarm« ausgerufen wurde. Marcos rief zu Solidarität mit der Bevölkerung in Atenco auf. Bis zum Abend trafen vor allem Studenten aus Mexiko-Stadt und Punks der zapatistischen Karawane in Atenco ein.

Ein Teilnehmer der Karawane berichtet: "Als Marcos zur Unterstützung aufrief, war ich im unabhängigen Medienzentrum in Mexiko-Stadt. Ich kam dann so gegen 21 Uhr, teilweise zu Fuß wegen der Straßensperren, in Atenco an. Auf den besetzen Strassen befanden sich ältere Frauen, einige Mitglieder der Karawane und Studenten. Die Situation war ruhig, es wurde gegessen und Molotowcocktails vorbereitet. Die Barrikade an der ich war, konnte nur sehr kurz gehalten werden, da nur circa 30 Personen Widerstand leisteten. Außerdem wurde sehr starkes Tränengas eingesetzt. Ich bin dann wie alle losgerannt und habe mich in einem Rohbau versteckt, bis mich dann eine Frau in ihr Haus gelassen hatte. Dort konnte ich in den Liveberichterstattungen in den Nachrichten mit verfolgen wie einige Strassen weiter die Menschen brutal festgenommen wurden".

Nach etwa zwei Stunden hatten die Sicherheitskräfte Atenco vollständig eingenommen. Schwerverletzte Menschen wurden auf die Ladeflächen der Polizeifahrzeuge geworfen. In den folgenden Stunden wurde die Gemeinde systematisch nach weiteren Flüchtigen durchsucht. Türen wurden eingetreten und noch einmal über 100 Menschen festgenommen. Auf einen Student wurden aus kurzer Entfernung eine Gasgranate abgefeuert. Er liegt im Koma.

Radio und Fernsehen informierten nur lückenhaft über die Repressionen. Vor allem Sender der dominierenden Medienkonzerne TVAzteca und Televisa machten mit ihrer Bildauswahl und ihren Kommentaren Stimmung gegen die Aufständischen. Präsident Vicente Fox rechtfertigte den brutalen Einsatz der Sicherheitskräfte als Notwendigkeit zur Wiederherstellung des "sozialen Friedens".

Nur die Internetseiten des Zentrums der Unabhängigen Medien in Mexiko Stadt und das freie Uni-Radio Ke-Huelga erstatteten aktuell Bericht über die Lage in Atenco. Listen mit Namen von Verschwundenen wurden veröffentlicht und über die Situation der von Deportation bedrohten Inhaftierten informiert.

Mittlerweile wurden zwei Spanierinnen, eine Deutsche sowie eine Chilenin und ein Chilene abgeschoben. Über 200 Personen sind noch in Haft. Die Anklage der Staatsanwaltschaft lautet: Organisiertes Verbrechen. Etliche Personen werden weiterhin vermisst. Subcomandante Marcos will nun bis zur Freilassung aller Gefangenen in Mexiko Stadt bleiben und hat zur internationalen Solidarität mit den Betroffen aufgerufen.


Quelle: poonal
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