Sechs Tote bei Räumung einer besetzten archäologischen Stätte in Chiapas

junge welt vom 08.10.2008
Andreas Knobloch

 

Bei der gewaltsamen Räumung der von Ejido-Bauern besetzten archäologischen Stätte in Chincultik im Bundesstaat Chiapas hat die mexikanische Polizei am Wochenende sechs Menschen erschossen und mindestens zehn weitere verletzt. Eine noch unbestimmte Anzahl der Besetzer wurde verhaftet. Unter anderem sollen drei Schwerverletzte und ihr Fahrer durch Polizeikräfte getötet worden sein, als sie sich auf dem Weg ins Krankenhaus befanden. Auf seiten der Polizei gab es entgegen erster Berichte dagegen keine Toten. Die Bauern trugen keinerlei Schußwaffen.

»Jetzt noch mehr als zuvor« werde man dafür kämpfen, daß die archäologische Zone durch das Ejido verwaltet bleibe, denn sie sei bereits mit »sechs Leben bezahlt worden«, so die Bauern. Ejidos sind eine traditionelle indigene Form gemeinschaftlichen Grundbesitzes bei individueller Nutzung. Sie verlangen Gerechtigkeit für die sechs Getöteten und die Bestrafung der Verantwortlichen.

Die archäologische Stätte von Chincultik war am 10. September von den Bewohnern des Ejidos Miguel Hidalgo, in dem ungefähr 7 000 Menschen leben, besetzt und verwaltet worden, da sich das Nationale Institut für Anthropologie und Geschichte (INAH) nach Ansicht der Gemeindebauern nur unzureichend um das Gelände gekümmert hatte. Sie hatten die Eintrittspreise von 35 auf 20 Pesos heruntergesetzt und so an Wochentagen zwischen 300 und 400 Pesos (20 bis26 Euro) eingenommen; an Wochenenden zwischen 1000 und 1500 Pesos (65 bis 87 Euro).

Die Verhandlungen mit der Regierung begannen kurz nach der Besetzung und dauerten bis zuletzt an. Noch am vergangenen Donnerstag hatte es ein Treffen mit staatlichen Vertretern gegeben, bei dem vereinbart worden war, die Gespräche fortzusetzen. Den Bauern war zuvor staatliche Unterstützung in Höhe von umgerechnet knapp 39000 Euro für die Tomaten-, Avocado- und Pfirsichernte angeboten, von diesen aber abgelehnt worden.

Bereits am Freitag morgen begannen Polizeikräfte dann mit der Räumung. Rund 250 Polizisten drangen zu Pferd und zu Fuß in die archäologische Stätte ein, wo Bauern Barrikaden errichtet hatten und mit Stöcken, Macheten und Steinen bewaffnet versuchten, sie aufzuhalten. Die Polizei setzte daraufhin Tränengas ein. Insgesamt dauerten die Zusammenstöße mehr als drei Stunden, ehe die Polizei gezwungen war, sich zurückzuziehen. Während die Ejido-Bauern 77 Polizisten gefangennahmen, entwaffneten und im Gemeindehaus einsperrten, drangen Uniformierte in Häuser am Gemeinderand ein und verhafteten rund 60 Männer und Frauen. In einer parallelen Operation räumte die Polizei den wenige Kilometer von Chincultik gelegenen, ebenfalls besetzen Nationalpark Lagos de Montebello.

Nur wenige Stunden nach dem ersten Rückzug kam es zu einem erneuten, heftigeren Angriff der Polizei auf Chincultik, bei dem nun auch Schußwaffen eingesetzt wurden. Das Gemeindehaus wurde gestürmt und die gefangenen Polizisten »befreit«. Viele Bewohner wurden durch Kugeln zum Teil schwer verletzt, zwei starben. Einige retteten sich in ihre Häuser. Agustín Alfaro Calvo versuchte, in seinem Privatwagen — Krankenwagen gab es nicht — die drei verletzten Rigoberto López Vázquez, Alfredo Hernández Ramírez und Miguel Antonio Martínez ins Krankenhaus zu fahren. Auf dem Weg dorthin wurden sie von Polizisten gestoppt und erschossen; der Fahrer vor den Augen seiner Frau. Das berichteten Augenzeugen. Auch der Präsident des Ejidos Miguel Hidalgo, Mario Morales García, soll vorsätzlich erschossen worden sein.

Der Justizminister von Chiapas, Amador Rodríguez Lozano, ordnete unterdessen eine umfassende Untersuchung an.

 

Quelle: http://www.jungewelt.de/2008/10-08/002.php


 

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