Schnelle Justiz in Mexiko

News vom 28.11.2002
Wilma Strothenke

 

Chiapas ist nicht der einzige Bundesstaat Mexikos, in dem zwischen den marginalisierten indigenen Gemeinden und der autoritärer Zentralregierung Auseinandersetzungen bestehen. Oaxaca im Süden Mexikos gehört neben Chiapas und Guerrero zu den ärmsten Bundesstaaten Mexikos, und wie in den beiden anderen Staaten bilden Indigene den Großteil der Bevölkerung. Viele der Gemeinden sind an Kooperativen und soziale Basisorganisationen angebunden. Eine weitere Gemeinsamkeit verbindet Oaxaca nun mit seinen beiden Nachbarstaaten: nach den Massakern von Acteal in Chiapas und Aguas Blancas in Guerrero wurden am 31. Mai diesen Jahres in Oaxaca 26 Menschen ermordet. Die Arbeiter aus der zapotekischen Gemeinde Xolchitepec befanden sich auf einem Pick-Up auf dem Heimweg in ihr Dorf, als sie an einer Wegbiegung von Unbekannten mit Maschinengewehren angegriffen wurden. Nur wenige Personen überlebten. Bereits im Verlauf des folgenden Tages wurden 17 angebliche Schuldige aus dem Nachbardorf Teojomulco festgenommen und am 11. Juni verurteilt — effektive, schnelle Arbeit der mexikanischen Justiz!? Nicht ganz, denn die Ermittlungen im Falle des sogenannten Massakers von "Agua Fría" sind geprägt von Nachlässigkeiten, Vertuschungen und gezielten Fehlinformationen. Beweise liefert neben der Verteidigungschrift der Anwälte der hierzu veröffentlichte Sonderbericht der Nationalen Menschenrechtskommission CNDH, welche sich neben der Staatsanwaltschaft in den Fall mit einschaltete. Der Bericht dieser eher als "staatsnah" zu bezeichnenden Organisation weist detailliert nach, dass ein Großteil der "Augenzeugen" unterwiesen gewesen sein muss, während der einzig glaubwürdige Zeuge kurz nach Beginn der Ermittlungen spurlos verschwand. Auch der Arbeit von Spurensicherung und Gerichtsmedizin wird grobe Fahrlässigkeit nachgewiesen, beispielsweise seien statt einer sachgerechten Erfassung der Schusswunden Insektenstiche als relevante Verletzungen angegeben worden. Der Bericht kann aufgrund seiner Ergebnisse als juristisches Mittel für die Verteidigung der Angeklagten, die allesamt ihre Unschuld beteuern, dienen. Er unterstützt damit das Anliegen der Bevölkerung von Teojomulco, die zusammen mit der Basisorganisation OIDHO für die Freilassung ihrer Angehörigen kämpft und in diesem Rahmen eine fast viermonatige Mahnwache vor dem Regierungspalast in Oaxaca abhielt. Wenn die Angeklagten aus Teojomulco aber tatsächlich als "Sündenböcke" herhalten mussten, wie von Angehörigen und Menschenrechtlern behauptet, dann stellt sich die Frage nach den wirklichen Tätern und vor allem den geistigen Anstiftern der Tat sowie nach den Motiven. Die CNDH berichtet ausführlich über die schon seit langem existierende Problematik der Grenzlandkonflikte in Oaxaca, in die auch Xolchitepec und Teojomulco involviert sind. Durch nicht erfolgte Rechtssprechung von Seiten des Staates und staatlicher Institutionen wie der Umweltbehörd e seien diese Konflikte aber nicht gelöst, sondern im Gegenteil immer mehr in die Länge gezogen worden. Auch seien Überfälle und Morde in der Region nie aufgeklärt worden trotz wiederholter Petitionen der Gemeinden an die zuständigen Gerichte. "Verzögerte Gerechtigkeit bedeutet verneinte Gerechtigkeit", schließt die CNDH ihre Analyse, daher sei nachvollziehbar, dass dermaßen vom Staat vernachlässigte Gemeinden die Justiz in ihre eigenen Hände nähmen. Somit dient als wahrscheinlichstes Tatmotiv für "Agua Fría", dass Bewohner von Teojomulco aufgrund von Landstreitigkeiten und eines von Xolchitepec verübten Mordes an einem ihrer Landsleute Rache üben wollten, eine These, die auch in der Presse und von Präsident Fox vertreten wird. Doch in Oaxaca kursieren auch andere Hypothesen für die wahren Hintergründe des Massakers: die bestehende Konfliktlage zwischen den Gemeinden und die übereilte Festnahme von Schuldigen sollten von wahren Tätern und Motiven ablenken. So beruft sich eine der Hypothesen auf interne Streitigkeiten der PRI, der Partei der Institutionalisierten Revolution, der auch Oaxacas Gouverneur José Murat angehört. Im Hinblick auf die 2003 stattfindenden Gouverneurswahlen in Oaxaca, so munkelt man, wäre es einigen Gegnern Murats sehr gelegen, diesen in schlechtes Licht zu bringen. So habe man ihm durch die Inszenierung des Massakers ein "Ei ins Nest" legen wollen, um ihm so in seiner Amtszeit Regierungsunfähigkeit nachzuweisen und seine Abwahl im kommenden Jahr zu erwirken. Murat beeilte sich zwar, an den auf das Massaker folgenden Tagen den Angehörigen der Opfer alle erdenkliche Hilfe zuzusichern, doch viele der Hilfsangebote stehen weiterhin aus, was seine Beliebtheit sicherlich nicht steigert. Eine weitere Hypothese, die mit der ersten durchaus Überschneidungen aufweist, sieht ein großes Interesse des Staates Mexiko an einer Aufrechterhaltung von Kriminalität und Justizwillkür im Hinterland Oaxacas. Dies biete nämlich einen willkommenen Grund zur Militarisierung der Region — tatsächlich ließ sich am Folgetag des Massakers eine gemischte Basis aus Sondereinheiten der Polizei und Militär für unbestimmte Zeit in Xolchitepec nieder. Somit hätte man das Gebiet, in dem immer mehr soziale Basisorganisationen Fuß fassen, unter Kontrolle, was den Zugang zu dem an Rohstoffen und Biodiversität reichen Bergland von Oaxaca erleichtern würde. Nicht zuletzt wird in diesem Zusammenhang der Bogen zum Plan Puebla- Panamá geschlagen, in dessen Rahmen die südmexikanischen Bundesstaaten mit den mittelamerikanischen Ländern zu einem "Entwicklungskorridor" zusammengefasst werden sollen und hierfür zugänglich und kontrollierbar gemacht werden müssen. Es mutet zynisch an, wenn der Staat in ein Massaker verwickelt sein sollte, das darüber hinaus genau jene Gemeinden betrifft, die noch kurz zuvor von Regierungsseite als "rote Zonen" von Marginalisierung und Armut bezeichnet wurden. Doch dies wäre nicht das erste Mal — ist doch im Fall Acteal überzeugend die Mittäterschaft des Staates nachgewiesen worden. Auch scheint die Bundesregierung Oaxacas in keinster Weise von der Schuld der Verurteilten überzeugt — denn wie sonst soll man erklären, dass Ende September nach anhaltendem Druck aus der Bevölkerung und Gesprächen mit Jose Murat überraschend vier der "stark mit Beweismitteln belasteten" Gefangenen freigelassen wurden?
 

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